Leitsatz (amtlich)
Für das Sterbevierteljahr ist der Witwe die Rente, die dem Versicherten zustand, voll auszuzahlen, auch wenn diese wegen des Zusammentreffens mit einer Verletztenrente zum Teil ruhte.
Orientierungssatz
Zur Frage, was unter dem Begriff des "Zustehens" ("zustand") einer Leistung zu verstehen ist (RVO §§ 1263, 1268).
Normenkette
RVO § 1268 Abs. 5 Fassung: 1957-02-23, § 1279 Abs. 3 Fassung: 1957-02-23, § 1263 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Osnabrück vom 21. November 1968 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
In diesem Rechtsstreit geht es darum, ob der Witwe für das sogenannte Sterbevierteljahr (§ 1268 Abs. 5 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) die Rente des Versicherten aus der Rentenversicherung ungekürzt zu gewähren ist, obgleich diese Rente wegen Zusammentreffens mit einer Verletztenrente zum Teil geruht hatte.
Der Versicherte erhielt bis zu seinem Tode im September 1964 Altersruhegeld. Diese Rente wurde wegen des Zusammentreffens mit einer Verletztenrente nicht voll mit monatlich 398,- DM sondern nur in Höhe von 374,20 DM ausgezahlt. Diesen Betrag gewährte die Beklagte der Klägerin auch für jeden der Monate Oktober bis Dezember 1964.
Die Klägerin macht geltend, daß die Verletztenrente mit dem Tode ihres Ehemannes weggefallen und damit der das Ruhen auslösende Sachverhalt nicht mehr gegeben gewesen sei. Außerdem verbiete § 1279 Abs. 3 RVO für die Leistungen während des Sterbevierteljahres die Anwendung der Ruhensbestimmungen.
Der Klage, mit der die Klägerin die Verurteilung der Beklagten zur Leistung der im Sterbevierteljahr einbehaltenen Kürzungsbeträge verfolgt, hat das Sozialgericht (SG) stattgegeben. Es hat sich der Auffassung der Klägerin aus der Überlegung heraus angeschlossen, daß die hier maßgebliche Vorschrift des § 1268 Abs. 5 RVO der Witwe für eine erste Übergangszeit nach dem Tode des Versicherten den bisherigen Lebensstandard erhalten wolle. Dieses Ziel sei ohnehin nicht zu erreichen, wenn die Witwe - wie hier - nicht auch eine Leistung aus der Unfallversicherung beziehe. Um so mehr sei es dann aber gerechtfertigt, der Klägerin die Rente aus der Rentenversicherung ungeschmälert zuzuwenden. Das SG hat die Berufung zugelassen.
Die Beklagte hat im Einverständnis mit der Klägerin Sprungrevision eingelegt. Sie beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen. Sie hält sich an die Wortfassung des § 1268 Abs. 5 RVO, wonach die Leistung an die Witwe für die ersten drei Monate mit derjenigen Rente übereinzustimmen habe, "die dem Versicherten im Zeitpunkt seines Todes zustand". Zugestanden habe aber dem Versicherten lediglich der Zahlbetrag seiner Rente. Darüber hinaus gehe auch nicht die Absicht des Gesetzgebers. Dieser habe der Witwe den Weiterbezug dessen zusichern wollen, was der Versicherte zuletzt an Geld erhalten habe. - § 1279 Abs. 3 RVO, die Vorschrift, welche die Anwendung der Ruhensfolge nach § 1279 Abs. 1 und § 1278 RVO ausschließe, berühre den vorliegenden Fall nicht. Was Absatz 1 des § 1279 RVO angehe, so sei diese Vorschrift hier unanwendbar, weil sie die Berechnungsweise der Hinterbliebenenrente betreffe. Für das Sterbevierteljahr werde die Leistung aber nach der Versichertenrente bemessen. Was die Nichtberücksichtigung des § 1278 RVO betreffe, so könne diese Gesetzesbestimmung sich nur auf die sogenannte Ableitungsrente (2. Alternative des § 1268 Abs. 5 RVO) beziehen.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen. Sie weist auf die ihres Erachtens unerträglichen Konsequenzen hin, die sich aus der von der Beklagten vertretenen Auffassung dann ergeben könnten, wenn das Ruhen einen größeren Teil der Versichertenrente erfaßt habe. Ferner - meint sie - gebiete es auch etwa der Gedanke der Praktikabilität nicht, der von der Beklagten vorgeschlagenen Lösung zu folgen; denn der Betrag der ungekürzten Rente brauche nicht erst ermittelt zu werden, er stehe ohne weiteres erkennbar fest.
Die Revision ist unbegründet.
Für das Sterbevierteljahr ist der Klägerin das Dreifache des Altersruhegeldes ihre Ehemannes ungekürzt zu gewähren. Diese Leistung wird nicht deshalb von einem Ruhen betroffen, weil der Versicherte wegen des gleichzeitigen Bezuges einer Verletztenrente das Altersruhegeld nur geschmälert erhielt. Dieses Ergebnis folgt aus § 1268 Abs. 5 Satz 1 i.V.m. § 1279 Abs. 3 RVO.
Nach der erstgenannten Vorschrift richtet sich der Anspruch der Witwe für die ersten drei Monate nach derjenigen Rente ohne Kinderzuschuß, die dem Versicherten im Zeitpunkt seines Todes "zustand". Der Begriff des "Zustehens" ist nicht eindeutig. In § 1263 Abs. 2 RVO ist er sinnverwandt mit "bindend" oder "rechtskräftig festgestellt" gebraucht (BSG Urteil vom 26. Juni 1969 - 4 RJ 495/68 -). An der hier interessierenden Gesetzesstelle wird er allem Anschein nach synonym mit "rentenberechtigt" verwendet (vgl. dazu § 69 Abs. 5 des Reichsknappschaftsgesetzes - RKnG -). Zur Erfüllung dieses Merkmals ist es nicht als ausreichend angesehen worden, daß der Verstorbene nach materiellem Recht eine Forderung bestimmter Höhe gehabt hätte; vielmehr wird verlangt, daß die Rentenberechtigung greifbare Gestalt gefunden hatte, sei es, daß sie förmlich festgestellt, sei es, daß sie wenigstens geltend gemacht worden war (BSG SozR Nr. 4 und Nr. 13 zu RVO § 1268). Ob hiervon der Tatbestand zu unterscheiden ist, an den gedacht ist, wenn es heißt, daß eine Rente "bezogen" worden ist (so § 1268 Abs. 2 Satz 2 RVO), mag dahinstehen. Mit dem Ausdruck "zustand" ist jedoch nicht ohne weiteres gemeint, daß die Rente auch "ausgezahlt" worden ist. Wenn das Gesetz an die tatsächliche Zuwendung, also nicht bloß an ein dem Grunde nach bestehendes Recht anknüpfen will, spricht es vom Rentenzahlbetrag (vgl. Art. 2 § 36 Abs. 1 Satz 1 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes - ArVNG -; SozR Nr. 2 zu KnVNG Art. 2 § 24; BSG 29. Mai 1969 - 12 RJ 124/68 -). Dann ist regelmäßig klar, daß ruhende Rententeile nicht zu beachten sind. Das gilt indessen nicht, wenn es - wie in § 1268 Abs. 5 Satz 1 RVO - auf diejenige Rente abstellt, welche jemandem "zugestanden" hat. Das ist § 1279 Abs. 3 RVO zu entnehmen. Dort ist angeordnet, daß die hier in Betracht kommenden Regelungen über eine Leistungsminderung (§ 1279 Abs.1 und § 1278 RVO) nicht Platz greifen.
Die Beklagte möchte § 1279 Abs. 3 RVO einengend interpretiert wissen. Sie meint, für die dort erwähnten Ruhensbestimmungen könne es nur ein Anwendungsfeld geben, wenn die Bezüge für das Sterbevierteljahr überhaupt erst noch zu berechnen seien. Soweit sich diese Bezüge aber von einer vorgegebenen festen Größe, nämlich von dem her bestimmen, was dem verstorbenen Versicherten zugestanden habe, seien § 1278 und 1279 Abs. 1 RVO unanwendbar. Insofern habe es eines gesetzgeberischen Ausspruchs nicht bedurft. Man könne sich nicht vorstellen, daß der Witwe im Sterbevierteljahr mehr zukommen solle, als der Versicherte erhalten habe und erhalten hätte. - Diesen Überlegungen kann nicht gefolgt werden. Daß der Gesetzgeber sich bei seiner Rechtsgestaltung von solchen Erwägungen hat leiten lassen, ist nicht zu erkennen. Die während der parlamentarischen Beratung des ArVNG in den Gesetzentwurf eingefügte, in § 1279 Abs. 3 RVO Gesetz gewordene Regelung ist ausnahmslos gewollt, jedenfalls soweit es um das Aufeinandertreffen von Verletztenrente und Versichertenrente geht. § 1279 Abs. 3 RVO ist damit begründet worden, daß "die Anrechnungsbestimmungen" - damit waren die in Rede stehenden Ruhensvorschriften gemeint - auf die Hinterbliebenenbezüge für das Sterbevierteljahr ganz allgemein "nicht angewendet werden sollen" (2. Deutscher Bundestag, 186. Sitzung vom 18. Januar 1957, S. 10 400 D). Damit stimmt überein, daß im Recht der Beamtenversorgung, an die sich der Gesetzgeber bei Einführung des hier maßgeblichen § 1268 Abs. 5 RVO anlehnte (Ausschußbericht zu § 1272 des Entwurfs, Bundestagsdrucks. zu II/3080), das Ruhen von Versorgungsbezügen eines Ruhestandsbeamten nicht ohne weiteres auch eine Kürzung des Sterbegeldes bedingt; vielmehr sind lediglich Vorkehrungen gegen die doppelte Hingabe von Sterbegeldern getroffen; im übrigen wird das Sterbegeld nur gemindert, wenn die Voraussetzungen auch bei dem Sterbegeldberechtigten erfüllt sind. Sonst hört das Ruhen der Leistung mit dem Tode des Ruhestandsbeamten auf; das Sterbegeld wird also ungeschmälert gewährt (Verwaltungsvorschriften Nr. 3 Abs. 6 und 7 idF vom 17. November 1966 zu § 122 des Bundesbeamtengesetzes, Beilage zum Bundesanzeiger Nr. 220 vom 25. November 1966; ferner Verwaltungsvorschriften Nr. 5 idF vom 26. September 1958, Beilage zum Bundesanzeiger Nr. 188 vom 1. Oktober 1958).
Zu einer anderen Beurteilung besteht um so weniger Anlaß, als der Vorschlag der Beklagten von einer unbefriedigenden Auswirkung begleitet wäre. Die Höhe der Leistung für das Sterbevierteljahr wird in § 1268 Abs. 5 RVO, je nachdem, ob dem Versicherten zuletzt eine Rente zustand oder ob er nicht rentenberechtigt war, auf verschiedene Weise festgelegt. Dabei können sich recht unterschiedliche Resultate ergeben; insbesondere kann die Witwe, deren Mann noch kein Rentner war, deshalb begünstigt sein, weil Umstände, die in ihrer Person verwirklicht sind, privilegierend berücksichtigt werden (§ 1268 Abs. 2 RVO) und weil die bis zum Tode des Versicherten zurückgelegten Versicherungszeiten gutgebracht werden, was im anderen Falle nicht stets geschieht. Diese voneinander abweichenden Rechtsfolgen, die sich auf die Höhe der Leistung auswirken, werden zwar damit gerechtfertigt, daß der Tod eines Versicherten, der aus dem vollen Erwerbsleben gerissen wird, die wirtschaftlichen Verhältnisse der Witwe besonders einschneidend beeinflußt BSG Urteil vom 27. Juli 1967 - 12 RJ 218/64 -). Dieses Argument ist indessen nicht so durchschlagend, daß man bereit ist, sich ohne zwingenden Grund mit einem weiteren Auseinanderklaffen der auf die eine oder andere Art zu ermittelnden Leistungshöhen abzufinden. Da das Gesetz in bezug auf das Nichtruhen der Leistung nach § 1268 Abs. 5 RVO eine Ausnahme nicht ausdrücklich fordert, vielmehr für die gegenteilige Auslegung eine Handhabe bietet, ist dieser Lösung der Vorzug zu geben (ebenso Ludwig, in einem demnächst im Zentralblatt für Sozialversicherung, Sozialhilfe und Versorgung erscheinenden Artikel).
Notwendigkeiten der Verwaltungspraxis stehen der Lösung des Senats nicht entgegen. Der Betrag der dem Verstorbenen bewilligten ungekürzten Rente ist bereits bei Anweisung der gekürzten festgestellt; es bedarf also keiner zusätzlichen Berechnung.
Hiernach hat das SG richtig entschieden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen
Haufe-Index 2285194 |
BSGE, 129 |