Leitsatz (amtlich)
Für die Verurteilung zur Rentengewährung reicht es nicht aus, generell festzustellen, der allgemeine Teilzeitarbeitsmarkt sei für nicht vollschichtig einsetzbare Männer verschlossen (Bestätigung von BSG 1973-11-22 12 RJ 130/73).
Normenkette
RVO § 1247 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 26. Februar 1973 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Streitig ist, ob der Kläger Rente wegen Erwerbsunfähigkeit beanspruchen kann (§ 1247 der Reichsversicherungsordnung - RVO -).
Der 1920 geborene Kläger war mit Unterbrechungen von 1934 bis 1946 als Leder- und Rüstungsarbeiter sowie als Kraftfahrer beschäftigt. Nach einer von 1947 bis 1950 dauernden Lehrzeit bei einer Viehverwertungs-Genossenschaft war er als selbständiger Viehhändler tätig. Den im September 1969 gestellten Rentenantrag lehnte die Beklagte aufgrund des Ergebnisses der von ihr veranlaßten Untersuchung und Begutachtung des Klägers durch den Facharzt für innere Krankheiten Obermedizinalrat Dr. R ab (Bescheid vom 24. November 1969).
Das Sozialgericht (SG) Koblenz hat die Beklagte durch Urteil vom 26. Oktober 1971 zur Gewährung der Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit "ab Antrag" verpflichtet. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten durch Urteil vom 26. Februar 1973 zurückgewiesen. In den Entscheidungsgründen, auf die Bezug genommen wird, hat es ausgeführt: Der Kläger könne entsprechend der Beurteilung des vom SG gehörten ärztlichen Sachverständigen Dr. N nur leichte, vorwiegend im Sitzen und in geschlossenen Räumen auszuführende Arbeiten vier bis sechs Stunden täglich verrichten; dabei solle ein längerer Anmarschweg zum Arbeitsplatz vermieden werden. Mit diesem eingeschränkten Leistungsvermögen sei der Kläger erwerbsunfähig, weil nach den tatsächlichen Verhältnissen auf dem Teilzeitarbeitsmarkt die nicht mehr vollschichtig einsatzfähigen männlichen Versicherten vom Erwerbsleben praktisch ausgeschlossen seien. Dies ergebe sich aus dem in den "Amtlichen Nachrichten der Bundesanstalt für Arbeit" veröffentlichten statistischen Zahlenmaterial, aus den "Sozialpolitischen Informationen" des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung vom 6. Oktober 1971 und 8. Dezember 1972 sowie aus einer - in einem anderen Rechtsstreit erteilten - Auskunft der Bundesanstalt für Arbeit vom 26. April 1972. Danach seien die Ausführungen über die Verhältnisse auf dem allgemeinen Teilzeitarbeitsmarkt für Männer in den Beschlüssen des Großen Senats (GS) des Bundessozialgerichts (BSG) vom 11. Dezember 1969 (BSGE 30, 167; 30, 192) "in einigen Punkten" von der Entwicklung überholt worden.
Die Beklagte hat - die vom LSG zugelassene - Revision eingelegt. Sie rügt die unrichtige Anwendung des materiellen Rechts sowie eine Verletzung der dem LSG obliegenden Amtsermittlungspflicht (§ 103 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil sowie das Urteil des SG Koblenz vom 26. Oktober 1971 aufzuheben und die Klage abzuweisen;
hilfsweise,
die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen,
hilfsweise
als unbegründet zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für richtig.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 SGG) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet.
Wie der erkennende Senat im Urteil vom 22. November 1973 - 12 RJ 130/73 - bereits entschieden hat, reicht eine generelle Feststellung, der allgemeine Teilzeitarbeitsmarkt des Bundesgebietes sei für Männer, die nicht mehr vollschichtig arbeiten können, praktisch verschlossen, nicht schlechthin für die Verurteilung zur Rentengewährung aus. Die offenbar gegenteilige Auffassung des LSG steht nicht im Einklang mit Abschnitt C V 2 des Beschlusses des GS des BSG vom 11. Dezember 1969 - GS 4/69 - (BSGE 30, 167, 188, 189), wonach für männliche Versicherte, die auf den gesamten allgemeinen halbschichtigen bis untervollschichtigen Teilzeitarbeitsmarkt (leichte bis mittelschwere Tätigkeiten im Sitzen, im Stehen und im Gehen in geschlossenen Räumen und im Freien) verweisbar sind, der Arbeitsmarkt grundsätzlich offen ist. Dem LSG ist zwar zuzugeben, daß dieses vom GS im Dezember 1969 gewonnene Ergebnis nicht für alle Zeiten maßgebend sein kann (vgl. Urteil des Senats vom 21. September 1971 - 12/11 RA 204/70 -). Das LSG übersieht indes, daß aufgrund des vom Kläger im September 1969 gestellten Rentenantrags hier ein Zeitraum streitig ist, der jedenfalls zum Teil von der Entscheidung des GS vom 11. Dezember 1969 (aaO) erfaßt wird. Insoweit ist diese somit gerade nicht - wie das LSG meint - von der Entwicklung überholt worden.
Der Kläger kann allerdings nur auf einen eingeschränkten Teil des allgemeinen Teilzeitarbeitsfeldes verwiesen werden, weil ihm nach den Feststellungen des LSG nur noch leichte vorwiegend im Sitzen auszuführende Arbeiten in geschlossenen Räumen bis zu sechs Stunden täglich gesundheitlich zumutbar sind (vgl. BSG SozR Nr. 93 zu § 1246 RVO; Nrn. 22 und 26 zu § 1247 RVO). Aufgrund dieser Feststellungen kann jedoch noch nicht entschieden werden, ob dem Kläger damit der Zugang zum Teilzeitarbeitsmarkt im Sinne von Abschnitt C V 2 b des Beschlusses des GS vom 11. Dezember 1969 (BSGE 30, 167, 189, 190) in besonders starkem Maße erschwert ist und er nach dem weiteren Beschluß des GS vom gleichen Tage - GS 2/68 - (BSG 30, 192, 206) schon allein deswegen als erwerbsunfähig anzusehen ist. Hierfür ist maßgeblich, ob die nur noch möglichen leichten Arbeiten im Sitzen in geschlossenen Räumen eine wesentliche Einschränkung der Einsatzfähigkeit des Klägers zur Folge haben. Dies hat das LSG - wie die Revision zutreffend rügt - nicht klargestellt. Das BSG hat bisher eine derartige zur Erwerbsunfähigkeit des Versicherten führende Einschränkung angenommen, wenn die nur noch halb- bis untervollschichtig zumutbaren leichten sitzenden Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes keine Maschinen- oder Fließbandarbeiten mehr zulassen (so übereinstimmend die Urteile des 5. und 12. Senats in SozR Nr. 23 zu § 1247 RVO und in BSG 34, 280 sowie neuerdings die Urteile des 1. Senats vom 27. März 1974 - 1 RA 31/73 - und vom 21. Mai 1974 - 1 RA 151/73 -). Insoweit ist allerdings schon in dem von der Beklagten veranlaßten Gutachten des Obermedizinalrates Dr. R ausgeführt worden, daß der Kläger u.a. keine Fließbandarbeiten mehr verrichten könne. Das LSG hat sich jedoch diese Einschränkung in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils nicht ausdrücklich zu eigen gemacht.
Unabhängig davon kann auch deswegen noch nicht abschließend entschieden werden, weil nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats der Teilzeitarbeitsmarkt jedenfalls dann als offen angesehen werden müßte, wenn der Kläger von dem für seinen Wohnort zuständigen Arbeitsamt auf einen für ihn geeigneten Teilzeitarbeitsplatz hätte vermittelt werden können (BSG SozR Nr. 115 zu § 1246 RVO; Urteile vom 22. November 1973 - 12 RJ 130/73 und 12 RJ 248/73 -). Nach dem bisher vom LSG festgestellten Leistungsvermögen des Klägers erscheint aber die Vermittlung eines zumutbaren Arbeitsplatzes durch das zuständige Arbeitsamt nicht von vornherein aussichtslos, so daß Anlaß zu einer zusätzlichen Prüfung auch in dieser Richtung besteht.
Nach alledem reicht der vom LSG bisher festgestellte Sachverhalt für eine abschließende Entscheidung nicht aus. Das angefochtene Urteil ist daher aufzuheben und der Rechtsstreit zu entsprechenden weiteren Ermittlungen und Feststellungen an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Die abschließende Kostenentscheidung bleibt dem LSG vorbehalten.
Fundstellen