Entscheidungsstichwort (Thema)
Handlungspflicht des Gesetzgebers. Abgrenzung des Fachgebiets des Laborarztes
Leitsatz (amtlich)
1. Zu der Frage der Bemessung der Übergangszeit, in der eine formell verfassungswidrige Regelung aus übergeordneten Gründen des Gemeinwohls noch hingenommen werden kann.
2. Zum Fachgebiet des Laborarztes gehört nicht die Anfertigung und Auswertung von Elektrokardiogrammen. Insoweit ist die Berufsordnung für Ärzte in Nordrhein inhaltlich mit GG Art 12 Abs 1 vereinbar.
Normenkette
RVO § 368n Abs. 4 Fassung: 1955-08-17; ÄBerufsO NR § 32 Fassung: 1971-11-06; GG Art. 12 Abs. 1 Fassung: 1968-06-24
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 25. April 1973 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Frage, ob der Kläger, der als Facharzt für Laboratoriumsdiagnostik an der kassen- und vertragsärztlichen Versorgung teilnimmt, auch elektrokardiographische - EKG - Untersuchungen uneingeschränkt abrechnen darf.
Mit Bescheid der Abrechnungsstelle Köln der Beklagten vom 21. Oktober 1966 und Widerspruchsbescheid des Vorstandes der Beklagten vom 15. Dezember 1966 wurde dem Kläger mitgeteilt, daß gemäß einem Beschluß des Vorstandes EKG's nicht mehr von Laborärzten abgerechnet werden dürften und daß dieser Beschluß für den Kläger nach einer Übergangszeit wirksam werde.
Das Sozialgericht (SG) hat die gegen diese Bescheide gerichtete Klage mit der Begründung abgewiesen, die Anfertigung und Auswertung von EKG's sei eine für Laborärzte fachfremde Tätigkeit. Das folge daraus, daß nach gutachtlichen Äußerungen seitens der Bundesärztekammer EKG-Untersuchungen den Ärzten vorbehalten sein sollten, die auch klinische Untersuchungen durchführen dürften. Diese Befugnis habe der Kläger unstreitig nicht (Urteil des SG Düsseldorf vom 27. Oktober 1967).
Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen. Es hat sich besonders mit der inzwischen durch die Kammerversammlung der Ärztekammer Nordrhein festgelegten Definition des Fachgebiets des Laborarztes (vgl. § 32 Nr. 11 der Berufsordnung der Ärztekammer Nordrhein - BONR - idF vom 14. Februar 1970, zuletzt geändert am 6. November 1971 in MinBl. NRW 1970 S. 1839 und 1971 S. 2173) und dem sogenannten Facharzt-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 9. Mai 1972 (BVerfG 33, 125) auseinandergesetzt: Die Fachgebietsdefinition sei auch hinsichtlich des statusbildenden Inhalts wirksam, weil sie der Verkehrsanschauung und der Auffassung der betroffenen Kreise entspreche. Der Einwand des Klägers, die Definition verweise den Laborarzt in den technisch-vorärztlichen Bereich, sei unerheblich, weil dieser Einwand auch dann fortbestehen würde, wenn den Laborärzten die Anfertigung von EKG's gestattet würde.
Der Kläger hat die zugelassene Revision eingelegt und beantragt,
unter Aufhebung der entgegenstehenden Entscheidungen die Beklagte zu verpflichten, die Abrechnung von EKG-Leistungen weiterhin zu gestatten,
hilfsweise,
den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.
Er ist der Auffassung, die Facharztordnung, die das BVerfG vor über zwei Jahren beanstandet und die der erkennende Senat vor über einem Jahr (Urteil vom 18. September 1973 in BSG 36, 155) für eine Übergangszeit als wirksam erachtet habe, dürfe nun nicht mehr angewendet werden. Die Übergangszeit, die der Gesetzgeber nicht genutzt habe, sei abgelaufen. Im übrigen rügt er die Verletzung des Art. 12 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) und legt im einzelnen dar, daß der Ausschluß von EKG-Leistungen bei Laborärzten anders zu beurteilen sei als der entsprechende Ausschluß bei Radiologen, den der Senat in dem angeführten Urteil gebilligt habe. Die Fachgebietsdefinition wie sie für Laborärzte in der BO NR festgelegt sei, sei nämlich auch inhaltlich verfassungswidrig, weil kein überzeugender fachlich-medizinischer Grund hierfür festzustellen sei. Der Meinung berufsständischer Organisationen sei im Hinblick auf den Facharzt-Beschluß des BVerfG kein Gewicht beizumessen.
Die Beklagte und die Beigeladenen zu 1), 3) und 5) beantragen die Zurückweisung der Revision. Sie nehmen zur Begründung auf das angefochtene Urteil und das angeführte Urteil des Senats Bezug. Die Beigeladenen zu 2) und 4) haben keine Stellung genommen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet. Das angefochtene Urteil ist zu Recht zu dem Ergebnis gelangt, daß die Beklagte dem Kläger die Anfertigung und Auswertung von EKG's als kassen- bzw. vertragsärztliche Leistungen nicht mehr zu vergüten hat. Allerdings ist einschränkend klarzustellen, daß dadurch nicht solche EKG-Leistungen ausgeschlossen werden, die in sachlichem und zeitlichem Zusammenhang mit laborärztlichen Tätigkeiten erforderlich werden (zur Frage der Abgrenzung des Zulassungsbereichs vgl. BSG 23, 97, 102; 36, 155, 159; BSG in SozR 5528 § 4 Nr. 1). Von dieser Rechtslage gehen die Beklagte und die Beigeladenen, soweit sie sich im Revisionsverfahren geäußert haben, nunmehr auch aus.
Der Ausschluß des Klägers von der Honorierung selbständiger EKG-Leistungen folgt aus der Abhängigkeit seiner Zulassung - und Beteiligung - von dem Umfang seiner berufsrechtlichen Befugnisse. Demnach nämlich nach den die Facharztordnung betreffenden §§ 31 Abs. 1, 31 Abs. 5 und 37 Abs. 1 BONR ist der Kläger zu diesen Leistungen nicht befugt. Der Senat hat zwar in Anlehnung an die Rechtsprechung des BVerfG zur ärztlich-berufsständischen Satzungsautonomie und deren Grenzen (BVerfG 33, 125, 160) entschieden, daß die in den vorgenannten Vorschriften enthaltenen statusbildenden Regelungen wegen ihrer Bedeutung für die betreffenden Ärzte und die Gesundheitspflege der Bevölkerung einer Normsetzung durch den von der Allgemeinheit legitimierten Gesetzgeber bedürfen, an der es hier fehlt (BSG 36, 155, 158). Es kann auch davon ausgegangen werden, daß die hier besonders umstrittene Fachgebietsdefinition des § 32 Abs. 5 Nr. 11 BONR solche statusbildenden, d.h. Umfang und Inhalt der fachärztlichen Berufstätigkeit wesentlich prägenden Regelungselemente enthält. Aber auch diese Definition ist, soweit sie hier zur Anwendung kommt, wie die des in BSG 36, 155 umstritten gewesenen § 32 Abs. 5 Nr. 19 BONR (Radiologie), für eine Übergangszeit hinzunehmen, weil ein regelloser, die ärztliche Versorgung der Bevölkerung gefährdender Zustand der verfassungsmäßigen Ordnung noch ferner stünde als das lediglich satzungsrechtlich geregelte Facharztwesen.
Entgegen der Meinung der Revision ist die Übergangszeit noch nicht abgelaufen, die für eine den verfassungsrechtlichen Erfordernissen entsprechende Neuordnung des Facharztwesens erforderlich ist. Die Bemessung der Zeit, die für die Herstellung des verfassungsmäßigen Zustandes in Anspruch genommen werden kann, steht zwar nicht im Belieben des Gesetzgebers, sondern hängt von objektiven Gesichtspunkten (vgl. dazu BVerfG 15, 337, 351; 25, 167, 186; 33, 1, 12 ff) ab, die u. U. zu dem Schluß zwingen können, daß der Gesetzgeber nicht mehr "ohne schuldhaftes Zögern" (so BVerfG 33, 1, 13) die erforderliche Neuregelung unterlassen hat. Davon kann aber im Falle der Facharztordnung noch nicht die Rede sein.
Im Jahre 1972 hat das BVerfG in seiner Facharztentscheidung erstmals den Rechtsgrundsatz festgestellt, daß die statusbildenden Normen, aber auch einschneidende, das Gesamtbild der beruflichen Betätigung wesentlich prägende Vorschriften über die Ausübung des Berufs in ihren Grundzügen vom Gesetzgeber festgelegt werden müßten. Erst in seiner Entscheidung vom 18. September 1973 (BSG 36, 155, 157) hat der erkennende Senat für die auch in diesem Streitfall maßgebliche Bestimmung des § 37 Abs. 1 BONR - wonach Fachärzte grundsätzlich nur in dem Fachgebiet tätig werden dürfen, dessen Bezeichnung sie führen - festgestellt, daß sie in ihren Grundzügen wirksam nur durch den Gesetzgeber getroffen werden kann. Die gesetzgeberische Arbeit (zu deren Stand vgl. Severing in Deutsches Ärzteblatt 1974, 2284) ist bei der zu regelnden Materie besonders zeitraubend. Entsprechend einem allgemein anerkannten Bedürfnis nach einem wie bisher möglichst übereinstimmenden Berufsrecht in den Bundesländern haben nicht nur verschiedene gesetzgeberische Organe zu handeln, sondern auch eine Vielzahl von rechtlich unabhängigen Gesetzgebern in teilweise sehr strittigen Fragen eine Einigung zu versuchen. Geraume Zeit erfordert auch die Beteiligung der berufsständischen Organisationen, die hier nicht nur wegen ihrer Fachkunde, sondern auch wegen der Abgrenzung des der Satzungsautonomie zu überlassenden fachlich-technischen Bereichs des Berufsrechts unabdingbar ist.
Auch die auf Art. 12 GG gestützten Rügen der Revision, die sich gegen den sachlichen Gehalt des die Begrenzung der Facharzttätigkeit regelnden § 31 Abs. 1 Nr. 11 BONR richten, greifen nicht durch. Dem Kläger ist zwar zuzustimmen, daß gegen die Definition des laborärztlichen Fachgebiets als solche und auch im Hinblick auf die Geschichte dieses Fachgebiets eine Reihe von Gesichtspunkten sprechen, die bei der Beurteilung des radiologischen Fachgebiets nicht in vergleichbarem Maße gegeben waren. So mag es zutreffen, daß die Definition des laborärztlichen Fachgebiets in § 32 Abs. 1 Nr. 11 BONR dahin verstanden werden kann, daß sie, wie der Kläger meint, den Laborarzt auf lediglich die Diagnose-u.U. auch die Therapie - unter stützende Hilfeleistungen technisch-medizinischer Art beschränkt. Dieser weitgehende Ausschluß von dem Kernbereich der ärztlichen Tätigkeit - der kurativen Medizin - liegt aber im Wesen des vom Kläger selbst gewählten Wirkungsfelds begründet, das seiner Natur nach einen auf dem Gebiet der Laboratoriumsdiagnostik tätigen Facharzt von der eigentlichen Behandlung fernhält. Daran würde sich nichts ändern, wenn der Laborarzt uneingeschränkt EKG's anfertigen dürfte. Auch dann bliebe ein solcher Arzt auf das Gebiet technisch-medizinischer Verrichtungen zur Unterstützung und Sicherung der Behandlung des Patienten beschränkt.
Es ist dem Kläger auch darin recht zu geben, daß sich aus dem Begriff des Laborarztes im Gegensatz zu dem Begriff des Radiologen keine Beschränkungen auf die Verwendung bestimmter Arten von medizinisch-technischen Einrichtungen ergeben. Jedoch folgt schon aus der Facharztbezeichnung, daß der Laborarzt grundsätzlich nicht zu ärztlichen Tätigkeiten befugt ist, die in keinem Zusammenhang mit medizinisch-technischen, also labormäßigen, Einrichtungen stehen. Im übrigen ergibt sich schon aus der Facharztbezeichnung der Ausschluß von selbständigen klinischen, d.h. körperlichen Untersuchungen. Deshalb ist es vom fachlich-medizinischen Standpunkt aus sachgerecht, EKG-Untersuchungen denjenigen Ärzten vorzubehalten, die auch zu klinischen Untersuchungen befugt sind (z.B. praktische Ärzte, Internisten, Kinderärzte). Für die Berechtigung dieser Auffassung kann sich der Senat nicht nur auf Äußerungen berufsständischer Organisationen stützen, bei denen der Kläger den Einfluß von sachfremden Gruppeninteressen befürchtet. Auch in der medizinischen Fachliteratur wird betont, daß die Deutung elektrokardiographischer Veränderungen nur im Rahmen eingehender klinischer Untersuchungen möglich ist und daß objektive, d.h. durch "Computeranalyse" erlangte Auswertungen der EKG's leicht zu falschen Schlüssen führen können (vgl. Meyer u.a. in Deutsche Medizinische Wochenschrift 1974, 1213; Zapfe in Der medizinische Sachverständige 1972, 69; Rosenbaum in Der medizinische Sachverständige 1962, 30).
Es kann zugunsten des Klägers weiter unterstellt werden, daß EKG-Untersuchungen zu den typischen Tätigkeiten der älteren Laborärzte gehörten. Das zeigt sich auch daran, daß den Laborärzten EKG-Untersuchungen von Ersatzkassenpatienten ausdrücklich übertragen worden waren (vgl. § 2 Ergänzungsvertrag - Laborarztvertrag - vom 24. September 1955 zu dem Arzt-Ersatzkassenvertrag vom 12. Mai 1950 - Hinweis auf Ziff. 46 a und 46 b der damals gültigen Ersatzkassen - Adgo, vergl. Ärztliche Mitteilungen 1955, 900 und 902). Wie die auf Anregung des Klägers vor dem LSG gehörte Arbeitsgemeinschaft der Laboratoriumsärzte Deutschlands dargelegt hat, waren Leiter der "medizinisch-diagnostischen Institute", die Vorgänger der Laborärzte, im allgemeinen Internisten, so daß der Ausschluß von EKG-Untersuchungen schon deshalb zunächst nicht erforderlich erscheinen mußte. Nach der Verselbständigung des Fachgebiets der Laboratoriumsmedizin, d.h. der Herauslösung aus dem Gebiet der inneren Medizin, konnten entsprechend neueren Erkenntnissen der ärztlichen Wissenschaft im Interesse der bestmöglichen Versorgung der Allgemeinheit EKG-Untersuchungen auf solche Ärzte beschränkt werden, die von ihrem Fachgebiet her befugt sind, klinische Untersuchungen durchzuführen und Herzpatienten u.U. auch medikamentös vor- und nachzubehandeln (vgl. S. 81 des Berichtshefts über den Kongress für Laboratoriumsmedizin vom 27. bis 30. April 1961, das der Kläger selbst vorgelegt hat).
Dieser im ganzen Bereich des Facharztwesens ständig andauernde Prozeß der Neugliederung der Facharztbereiche ist unter weitestgehender Wahrung der berechtigten Interessen des Klägers - Besitzstand und Vertrauensschutz (vgl. dazu BSG 36, 155, 161) - durchgeführt worden, wie an der ihm für die Umstellung gewährten relativ langen - zuletzt bis zum 31. Dezember 1972 verlängerten - Übergangszeit deutlich wird.
Da das angefochtene Urteil somit zutreffend ist, war die Revision zurückzuweisen (§§ 170 Abs. 1 Satz 1, 193 des Sozialgerichtsgesetzes).
Fundstellen