Leitsatz (amtlich)

1. Die Regelung des Bundesversorgungsrechts, daß ein Kind keinen Anspruch auf Rente hat, wenn der Ehemann der Mutter während der Dauer der Empfängniszeit verschollen war (BVG § 52 Abs 2), kann nicht entsprechend auf Ansprüche von Waisen nach aF § 1258 angewendet werden.

2. Ein Kind, das unter Zugrundelegung des in der gerichtlichen Todeserklärung festgestellten Zeitpunkts des Todes des verschollenen Versicherten als ehelich gilt (BGB § 1593), handelt in der Regel nicht rechtsmißbräuchlich, wenn es seinen Anspruch auf Waisenrente nach RVO § 1258 aF geltend macht.

 

Normenkette

RVO § 1258 Fassung: 1939-04-19; BVG § 52 Abs. 2 Fassung: 1953-08-07; BGB § 1593 Fassung: 1943-02-06

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 21. Dezember 1955 wird zurückgewiesen, soweit es die Waisenrente des Klägers betrifft.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I.

Die Mutter des Klägers war seit 1942 mit dem Versicherten Paul U. verheiratet. Sie hat ... 1944 ihre Tochter U und ... 1946 den Kläger geboren. Ihr Ehemann ist seit dem 29. Juni 1944 als Soldat im Osten vermißt. Auf ihren Antrag wurde dieser durch Beschluß des Amtsgerichts Oberhausen vom 11. Juni 1952 nach den Vorschriften des Verschollenheitsänderungsgesetzes (VerschÄndG) vom 15. Januar 1951 (BGBl. I S. 59) ohne Ermittlungen für tot erklärt. Als Zeitpunkt des Todes wurde der 31. Dezember 1945 festgestellt.

Die beklagte Landesversicherungsanstalt (LVA.) gewährte Ursula U. durch Beschluß vom 25. Juli 1950 für die Zeit vom 1. Juli 1944 an Waisenrente. Am 29. Juni 1953 beantragte die Mutter des Klägers, auch ihr selbst und dem Kläger Hinterbliebenenrente zu gewähren. Die beklagte LVA. gewährte der Mutter des Klägers Witwenrente zunächst vom 1. Juli 1946 bis zum 1. Juni 1952 (§ 1256 Abs. 2 RVO a. F.) und späterhin vom 1. August 1955 an (§ 21 Abs. 5 Satz 2 SVAG). Hingegen lehnte sie den Antrag auf Waisenrente mit Bescheid vom 2. April 1954 ab: In dem früheren Rentenverfahren für das Kind U sei der Todestag des versicherten Vaters auf den 30. Juni 1944 festgesetzt worden; der Kläger, der erst am 30. Juni 1946 geboren sei, könne demnach nicht ein eheliches Kind des Versicherten sein.

Hiergegen erhob der Kläger beim Sozialgericht (SG.) Düsseldorf Klage mit dem Antrag,

die beklagte LVA. unter Aufhebung ihres Bescheides vom 2. April 1954 zu verurteilen, dem Kläger Waisenrente vom 1. Juli 1946 an zu gewähren.

Das SG. gab der Klage statt (Urteil vom 5. Juli 1935).

Das Landessozialgericht (LSG.) wies die Berufung der beklagten LVA. zurück; die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 21. Dezember 1955.)

Gegen dieses Urteil hat die beklagte LVA. Revision eingelegt mit dem Antrag,

das angefochtene Urteil aufzuheben und ... ihren Bescheid vom 2. April 1954 wiederherzustellen.

Zur Begründung berief sie sich auf ihr bisheriges Vorbringen, daß nach dem von ihr festgestellten Zeitpunkt des Todes des Versicherten der Kläger nicht dessen eheliches Kind sei.

Auf eine entsprechende Vorlage des Senats hat der Große Senat am 11. Mai 1960 beschlossen:

Eine gerichtliche Todeserklärung, bei der der Zeitpunkt des Todes des Verschollenen nach Art. 2 § 2 Abs. 3 Satz 1 des Verschollenheitsänderungsgesetzes vom 15. Januar 1951 ohne Ermittlungen festgestellt ist, schließt eine Feststellung des Todeszeitpunkts durch den Versicherungsträger nach § 1260 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung a. F. aus.

Die beklagte LVA. bittet nunmehr noch um Nachprüfung, ob der Kläger nicht sein Recht mißbräuchlich ausübe. Der Waisenrentenanspruch des Klägers sei eng mit dem Witwenrentenanspruch seiner Mutter verbunden. Nur durch sein Hinzutreten als "waisenberechtigtes Kind" im Sinne des § 1256 Abs. 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) a. F. seien die Voraussetzungen für den Witwenrentenanspruch seiner Mutter erfüllt worden. Es erscheine als unzulässige Rechtsausübung, wenn das Kind sich für seinen Rentenanspruch auf den rechtlichen Schein der Ehelichkeit berufe und gleichzeitig damit erreiche, daß damit auch der Witwenrentenanspruch seiner Mutter begründet werde.

II.

Die Revision der beklagten LVA. ist nicht begründet.

Der Waisenrentenanspruch des Klägers beruht auf § 1258 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 1 RVO a. F. in Verbindung mit § 2 Satz 1 Kriegsfristengesetz. In der gerichtlichen Todeserklärung ist als Zeitpunkt des Todes des Versicherten Paul U. der 31. Dezember 1945 festgestellt worden. Nach der Entscheidung des Großen Senats vom 11. Mai 1960 ist eine solche Feststellung des Todeszeitpunkts sowohl für die Frage, ob und wann der Versicherungsfall eingetreten ist, als auch für die vom Familienrechtsstand abhängigen Anspruchsvoraussetzungen maßgebend (BSG. 12 S. 139 (141)). Hiernach ist im vorliegenden Streitfall davon auszugehen, daß die Ehe des Versicherten Paul U. mit der Mutter des Klägers am 31. Dezember 1945 als aufgelöst zu gelten hat. Der Kläger ist innerhalb dreihundertundzwei Tagen nach diesem Zeitpunkt geboren. Seine "an sich" bestehende Unehelichkeit kann somit nur geltend gemacht werden, wenn sie rechtskräftig festgestellt ist (§ 1593 BGB). Da dies nicht geschehen ist, muß der Kläger als eheliches Kind des Versicherten Paul U. behandelt werden. Demnach sind alle Voraussetzungen der beantragten Waisenrente erfüllt.

Dem Anspruch auf Waisenrente steht nicht entgegen, daß der Ehemann der Mutter während der Dauer der Empfängniszeit verschollen war. Dieser Umstand wäre zwar für die Rechtsstellung eines Kindes erheblich, das Ansprüche aus dem Bundesversorgungsgesetz herleitet (vgl. § 52 Abs. 2 BVG). Wie schon der Große Senat festgestellt hat, kennt jedoch das Sozialversicherungsrecht keine dem § 52 Abs. 2 BVG vergleichbare Regelung (BSG. 12 S. 147 (152)). Auch eine entsprechende Anwendung des in § 52 Abs. 2 Bundesversorgungsgesetz (BVG) zum Ausdruck gekommenen Rechtsgedankens scheidet in der Rentenversicherung aus. Sie wäre allenfalls zulässig, wenn die Regelung des § 52 Abs. 2 BVG sich als die zweckentsprechende Durchführung eines Grundprinzips darstellte, das sowohl im Versorgungsrecht als auch im Sozialversicherungsrecht in Geltung stünde. Nun ist zwar in beiden Rechtsbereichen die institutionelle Zweckbestimmung der Hinterbliebenenrenten - ihre Unterhaltsersatzfunktion - gleich. Mit dieser Zwecksetzung steht aber die Versagung der Waisenrente an solche ehelichen Kinder, deren Schein-Vater während der Dauer der Empfängniszeit verschollen war, nicht in Einklang; denn das bürgerliche Recht räumt jedem ehelichen Kind - auch dem scheinehelichen - einen Unterhaltsanspruch gegen denjenigen ein, der im bürgerlich-rechtlichen Sinn Vater ist oder doch als solcher gilt. Deshalb stellt § 52 Abs. 2 BVG eine Regelung dar, die positivrechtlich in Durchbrechung eines sonst das Versorgungsrecht beherrschenden Grundgedankens eine Ausnahme setzt. Als Besonderheit des Versorgungsrechts kann sie aber nicht im Wege der Analogie auf das seit seinen Anfängen eigenständige Sozialversicherungsrecht übertragen werden.

Der Kläger handelt auch nicht rechtsmißbräuchlich, wenn er den Anspruch auf Waisenrente geltend macht. Daß der Grundsatz von Treu und Glauben, wie er seinen Niederschlag in §§ 138, 157, 226, 242, 826 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) gefunden hat, nicht nur das Privatrecht beherrscht, sondern auch für das gesamte Gebiet des öffentlichen Rechts gilt, ist anerkannten Rechts (vgl. RVA. in Grunds. Entsch. Nr. 1736 in AN. 1913 S. 596 (599), Nr. 2327 in AN. 1917 S. 396 (398), Nr. 5054 in AN. 1937 S. 73 (74); vgl. ferner BGH. in Lindenmaier-Möhring § 242 (Cd) BGB Nr. 40; RGZ. 148 S. 266 (269 f.); Haueisen in NJW. 1957 S. 729 (mit weiteren Nachweisen)). Indessen ist Vorsicht bei Heranziehung dieses Grundsatzes geboten. Auszugehen ist davon, daß die Rechtsordnung den Inhaber eines Rechts bei dessen Geltendmachung schützt.

Dieser Schutz ist allerdings dann zu versagen, wenn ein Recht funktionswidrig ausgeübt wird; denn der Inhalt eines Rechts wird durch seine rechtsethische und soziale Funktion bestimmt und begrenzt (vgl. Haueisen a. a. O.). Gerade unter diesem Gesichtspunkt aber erweist sich die Verfolgung des Anspruchs auf Waisenrente durch ein scheineheliches Kind als funktionsgerecht. Wie bereits dargelegt, tritt die Waisenrente nach ihrer institutionellen Zweckbestimmung an die Stelle des Unterhalts, den der lebende Versicherte gewährt hatte oder zu gewähren verpflichtet war. Von dieser Unterhaltsersatzfunktion her betrachtet ist es daher durchaus sachgemäß, daß das Sozialversicherungsrecht die Gewährung von Waisenrenten von den gleichen Kriterien abhängig macht, die für den Unterhaltsanspruch gegen den lebenden Versicherten maßgebend sind (vgl. BSG. 12 S. 147 (148 f.)). Da aber für den Unterhaltsanspruch ehelicher oder als ehelich geltender Kinder das bürgerlich-rechtliche Verwandtschaftsverhältnis bestimmend ist (das innerhalb bestimmter Grenzen dem Rechtsschein gegenüber der auf dem Blutsband beruhenden "natürlichen Verwandtschaft" den Vorrang einräumt (§ 1593 BGB)), entspricht es der Funktion der Waisenrente, daß auch bei ihr das gleiche Merkmal als persönliche Anspruchsvoraussetzung zugrundegelegt wird. So wenig ein "Scheinvater", der seine Unterhaltspflicht gegenüber dem scheinehelichen Kind verletzt (vgl. § 170 b StGB), sich auf die "eigentlich" bestehende Unehelichkeit seines Kindes berufen kann (vgl. BGH. in NJW. 1959 S. 303 (304)), so wenig kann auch ein Versicherungsträger den Einwand der mißbräuchlichen Rechtsausübung erheben, wenn ein scheineheliches Kind den Anspruch auf Waisenrente aus der Versicherung seines verstorbenen oder verschollenen Scheinvaters geltend macht. Das gilt um so mehr, als sein rechtlicher Familienstand es ihm nicht erlaubt, einen Unterhaltsanspruch gegen den außerehelichen Erzeuger - oder im Falle des Todes einen Anspruch auf Waisenrente aus dessen Versicherungsverhältnis - geltend zu machen; er ist vielmehr allein auf Ansprüche gegen seinen Scheinvater bzw. aus dem Versicherungsverhältnis seines Scheinvaters angewiesen. Beansprucht daher ein solches Kind Waisenrente nach seinem Scheinvater, so liegt darin keine zweckfremde, systemwidrige Ausübung seines Rechts.

Ebensowenig stellt das Verhalten des Klägers einen Verstoß gegen Treu und Glauben im Hinblick auf früheres Verhalten dar. Dieser für das Sozialversicherungsrecht wohl bedeutsamste Anwendungsfall der Lehre vom Rechtsmißbrauch (vgl. die oben zitierten Entscheidungen des RVA.) ist regelmäßig beim scheinehelichen Kind nicht gegeben. Daß ein solches Kind seinen Waisenrentenanspruch geltend macht, steht in aller Regel nicht im Gegensatz zu seinem früheren Verhalten oder dem seines gesetzlichen Vertreters, dessen Verhalten ihm zuzurechnen wäre. Eine mißbräuchliche Ausnutzung seiner familienrechtlichen Stellung könnte z. B. vorliegen, wenn sich das Kind durch seinen gesetzlichen Vertreter seinen Familienstand "erschlichen" hätte, indem es etwa den Staatsanwalt durch täuschende Angaben von der Anfechtung seiner Ehelichkeit abgehalten hat. Der vorliegende Sachverhalt gibt zu Vermutungen in dieser Richtung keinen Anhalt.

Erst recht kann - entgegen der Auffassung der beklagten LVA. - eine unzulässige Rechtsausübung nicht darin erblickt werden, daß das klagende Kind durch sein Hinzutreten als zweites "waisenrentenberechtigtes Kind unter sechs Jahren" im Sinne des § 1256 Abs. 2 RVO a. F. zur Erfüllung der Voraussetzungen für die Gewährung der Erziehungs-Witwenrente (nach § 1256 Abs. 2 RVO a. F.) an die Mutter des Klägers beigetragen hat. Wie schon das LSG. zutreffend erwogen hat, könnte dieses Bedenken allenfalls - wenn überhaupt - dem Anspruch der Witwe entgegengehalten werden. Jedenfalls kann ein Kind an der Verfolgung seines Rechts auf Waisenrente nicht dadurch gehindert werden, daß das Gesetz an seine Waisenrentenberechtigung Rechtsfolgen für den Anspruch der Mutter knüpft. - Demnach ist die Revision der beklagten LVA. zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.

 

Fundstellen

BSGE, 202

NJW 1961, 700

MDR 1961, 358

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