Entscheidungsstichwort (Thema)
Anerkannte Grundsätze staatlichen Strafens. Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Motiv der Abschreckung. Generalprävention. Strafverschärfung im Militärstrafrecht in Notzeiten. Festung Breslau
Leitsatz (amtlich)
"Offensichtliches Unrecht" iS des § 1 Abs 2 Buchst d BVG ist ein Todesurteil durch ein Standgericht im Jahre 1945 grundsätzlich schon dann, wenn festgestellt wird, daß dem Standgericht jegliche Erwägungen zur Schuld und Strafzumessung aus Gründen der Abschreckung verwehrt worden sind.
Orientierungssatz
1. Durfte das Standgericht sich nur am äußeren Geschehensablauf ausrichten, ist ein Todesurteil solange als offensichtliches Unrecht zu werten, wie nicht ein Sachverhalt vorgetragen wird, der die Höchststrafe auch unter Beachtung der nach dem MStGB geltenden Grundsätze gerechtfertigt hätte.
2. Die gewollt generalpräventive Wirkung, die augenfällig das Strafmaß des Standgerichts Breslau bestimmte, kennzeichnet das Endstadium einer im Verlaufe des Zweiten Weltkrieges fortschreitenden Tendenz, den Wert des Lebens gering zu achten, es geradezu zu mißachten. Es ist daher anzunehmen, daß die im Jahre 1945 jedenfalls vom Standgericht in Breslau erlassenen Todesurteile vor allem dem Strafzweck der kollektiven Abschreckung dienten und bei der Strafzumessung im allgemeinen nicht mehr ein angemessenes Verhältnis zur Schuld beachtet wurde.
3. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz darf nach rechtsstaatlichen Erfordernissen auch unter Extremverhältnissen nicht aus dem Auge verloren werden.
Normenkette
BVG § 1 Abs 1; BVG § 1 Abs 2 Buchst d; MilStGB §§ 84-85; KrStrVfO §§ 13a, 51, 79-80, 103 Abs 4
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Klägerin begehrt Hinterbliebenenversorgung im Zugunstenwege nach ihrem im Februar 1945 in Breslau zum Tode verurteilten und hingerichteten Ehemann (Sch.).
Sch. war im Februar 1945 Unteroffizier und Gruppenführer im ersten Zug der in der Festung Breslau eingesetzten Goliath-Kompanie. Die aus zwei Zügen bestehende und dem Pionierregiment Breslau zugeordnete Einheit war mit 96 Goliath-Panzern ausgerüstet. Diese unbemannten Kettenfahrzeuge, etwa 50 cm hoch und 150 cm lang und mit einer Sprengladung von 50 bis 75 kg versehen, wurden über zwei 800 Meter lange Kabel ferngesteuert und -gezündet. Die Goliath-Kompanie unterstand hinsichtlich der Kampfverwendung dem Kommandanten der Festung Breslau. Die Züge der Kompanie wurden getrennt und mit besonderem Kampfauftrag zur Sprengung von Brücken, Häusern und gelegentlich auch zur Abwehr von durchgebrochenen Panzern eingesetzt. Kompaniechef und Führer des ersten Zuges war Leutnant T., Führer des zweiten Zuges Leutnant K.. Sch. führte eine der drei Gruppen des ersten Zuges.
Die am 1. Oktober 1944 zur Festung erklärte Stadt Breslau wurde im Verlaufe der Mitte Januar 1945 eröffneten sowjetischen Großoffensive am 15. Februar 1945 eingeschlossen. Wenige Tage zuvor - am 8. Februar 1945 - hatte der Festungskommandant von Breslau folgenden Tagesbefehl Nr 2 erlassen: "Ich mache es allen Führern zur Pflicht, die ihnen anvertraute Stellung zu halten. Wer eine Stellung eigenmächtig aufgibt und zurückgeht, wird wegen Feigheit vom Standgericht zum Tode verurteilt. Jeder Führer, gleich welcher Einheit, hat nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, sich Drückebergern gegenüber, die ihre Stellung verlassen, mit allen Mitteln, gegebenenfalls unter Anwendung der Waffe, durchzusetzen. Ich mache alle Führer für die Einhaltung dieses Befehles verantwortlich."
Nach der Einschließung Breslaus verlief die Verteidigungslinie der 17. Armee unter Generaloberst Schörner bis Ende März 1945 etwa 30 km südlich bzw westlich der Stadt. Während des vom 17. bis 22. Februar 1945 im Süden Breslaus vorgetragenen Angriffs erzielte die sowjetische Armee Geländegewinne von etwa 2 km Tiefe. Während dieser Zeit war der erste Zug der Goliath-Kompanie mit Sch. im Südabschnitt der Stadt eingesetzt. Dabei erhielten die Gruppen des ersten Zuges den Befehl, an drei parallel jeweils etwa 300 m entfernt zueinander nach Süden verlaufenden Straßen hinter der Hauptkampflinie (HKL) Stellung zu beziehen, um diese Straßen gegen feindliche Panzer zu sichern. Dieser Auftrag war solange zu erfüllen, bis er zurückgenommen wurde. Die an der rechten Parallelstraße eingesetzte Gruppe Sch. war als einzige einem kombinierten russischen Infanterie- und Panzerangriff ausgesetzt; die übrigen beiden Gruppen blieben unbehelligt. Die Gruppe Sch. zündete zwei Goliath-Panzer. Der dritte noch verbliebene Goliath war wegen eines durch feindlichen Beschuß beschädigten Kabels nicht mehr einsatzbereit. Die Gruppe Sch. räumte, ohne hierzu einen Befehl erhalten zu haben, die Stellung, ließ den Goliath-Panzer zurück und rückte in das Quartier ein.
Wegen dieses Geschehens wurde Sch. vom Standgericht Breslau am 23. Februar 1945 wegen Dienstpflichtverletzung aus Furcht in einem besonders schweren Fall zum Tode verurteilt. Am Morgen des 24. Februar 1945 wurde der Verurteilte im Hof der Kaserne B. in Breslau durch ein aus Angehörigen der Goliath-Kompanie zusammengesetztes Exekutionskommando hingerichtet. Die Klägerin erhielt hiervon durch ein von Leutnant T. am 1. März 1945 abgefaßtes Schreiben Kenntnis. Darin sind der Hinrichtungsgrund, der Hinrichtungszeitpunkt sowie das Standgericht benannt.
Den im Oktober 1951 gestellten Antrag der Klägerin auf Gewährung von Hinterbliebenenversorgung lehnten das Versorgungsamt Verden und das Landesversorgungsamt Niedersachsen ab (Bescheid vom 12. März 1956; Widerspruchsbescheid vom 15. März 1958). Die hiergegen erhobene Klage nahm die Klägerin nach Einvernahme des Zeugen T. zurück.
Am 2. Juni 1978 beantragte die Klägerin erneut Hinterbliebenenrente. Die Versorgungsverwaltung gab diesem Antrag nicht statt (Bescheid vom 20. März 1979; Widerspruchsbescheid vom 16. August 1979).
Die Klage blieb erfolglos. Das Landessozialgericht (LSG) hat nach Einvernahme mehrerer Zeugen das Urteil des Sozialgerichts (SG) aufgehoben und den Beklagten verurteilt, der Klägerin rückwirkend vom 1. Januar 1974 an Hinterbliebenenversorgung zu gewähren. Zur Begründung hat es ua ausgeführt, es sei weder bewiesen, daß der Ehemann der Klägerin keine Dienstpflichtverletzung aus Furcht im besonders schweren Fall begangen habe, noch sei erwiesen, daß er diesen gesetzlichen Straftatbestand verwirklicht habe. Es sei jedenfalls nicht ausgeschlossen, daß die gegen Sch. verhängte Todesstrafe objektiv auch unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes dem Unwert der verübten Tat entsprochen haben könnte. Sch. habe die Stellung ohne Befehl des Zugführers verlassen und zuvor auch nicht versucht, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Die Strafe sei auch mit dem heute erreichten Stand der Zivilisation nicht schlechthin unverträglich. Die Beweislage lasse auch nicht die Feststellung zu, daß rechtsstaatliche Verfahrensgrundsätze verletzt worden seien. Ob Sch. einen Verteidiger gehabt habe, wie die erforderlichen und präsenten Beweismittel ausgeschöpft worden seien und welche Besetzung das Standgericht gehabt habe, bleibe ungewiß. Dennoch bedeute das Urteil ein offensichtliches Unrecht, weil es dem Standgericht unmöglich gewesen sei, den gesetzlichen Strafzumessungsrahmen unter Beachtung des Schuldgrundsatzes auszuschöpfen. Es habe nicht entsprechend dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz die Schuld des Täters ahnden können. Nach dem Befehl des Festungskommandanten vom 8. Februar 1945 sei das Standgericht gezwungen gewesen, als einzigen in Betracht kommenden Strafausspruch die Todesstrafe zu verhängen. Der Tagesbefehl sei allein unter dem Gesichtspunkt der Aufrechterhaltung der Kampfmoral durch Abschreckung ergangen und habe bewußt und gewollt das Ziel verfolgt, durch drakonische Strafen mit rücksichtsloser Härte gegen jede Auflösungserscheinung vorzugehen.
Der Beklagte hat die - vom LSG zugelassene - Revision eingelegt. Er rügt eine Verletzung des § 1 Abs 1 und Abs 2 Buchst d sowie Abs 5, § 38 Abs 1 Satz 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG), § 44 Abs 1 Satz 1 des Zehnten Buchs des Sozialgesetzbuchs - Verwaltungsverfahren - (SGB X) und §§ 103, 128 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Das Beweisergebnis - meint der Beklagte - rechtfertige nicht die Feststellung der Unrichtigkeit der bisher ergangenen ablehnenden Bescheide. Das Urteil des Standgerichts sei nicht als "offensichtliches Unrecht" iS des § 1 Abs 2 Buchst d BVG anzusehen. Das Berufungsgericht habe nicht auszuschließen vermocht, daß die gegen Sch. verhängte Todesstrafe auch unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes dem Unwert der Tat entsprochen haben könnte. Das LSG habe nicht hinreichend geprüft, ob der Befehl des Festungskommandanten sich auf den Urteilsspruch des Standgerichts unmittelbar ausgewirkt habe. Damit habe das Berufungsgericht gegen den Grundsatz der freien Beweiswürdigung sowie gegen die Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts verstoßen.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG für das Land Nordrhein- Westfalen vom 20. Dezember 1982 abzuändern und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Dortmund vom 3. September 1981 zurückzuweisen; hilfsweise, das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision des Beklagten zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
Die Revision des Beklagten hat keinen Erfolg. Das LSG hat der Klägerin zu Recht Hinterbliebenenrente ab 1. Januar 1974 zuerkannt.
Der ursprünglich auf § 40 Abs 1 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOV-VfG) gestützte Begehren der Klägerin, im Zugunstenwege Hinterbliebenenversorgung zu erhalten, ist nunmehr nach § 44 SGB X zu beurteilen. § 40 KOV-VfG ist durch Art II § 16 Nr 1 SGB X mit Wirkung ab 1. Januar 1981 (Art II § 40 Abs 1 SGB X) gestrichen und durch Art I § 44 SGB X (= § 44 SGB X) ersetzt worden. Diese mit dem SGB X eingetretene Rechtsänderung erfaßt rückwirkend den Streitgegenstand (Beschluß des Großen Senats vom 15. Dezember 1982: BSGE 54, 223 ff = SozR 1300 § 44 Nr 3).
Nach der nunmehr einschlägigen Vorschrift des § 44 SGB X ist ein unanfechtbar gewordener Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, daß bei seinem Erlaß das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Diese Tatbestandsvoraussetzungen sind hier erfüllt. Entgegen der in den angefochtenen Bescheiden geäußerten Meinung des Beklagten sind die rechtsverbindlichen Bescheide vom 12. März 1956 bzw 15. März 1958 über die Ablehnung der Hinterbliebenenversorgung rechtswidrig. Die Versorgungsverwaltung ist bei Bescheiderteilung von einem unvollständigen Sachverhalt ausgegangen und hat zudem das Recht unrichtig angewandt. Der Klägerin steht nach der zutreffenden Entscheidung des Berufungsgerichts auch schon rückwirkend ab 1. Januar 1974 Hinterbliebenenrente zu (§ 44 Abs 4 SGB X).
Anspruchsgrundlage ist § 38 Abs 1 Satz 1 iVm § 1 Abs 5 BVG; Sch. ist an den Folgen einer Schädigung gestorben. Den Schädigungen iS des § 1 Abs 1 BVG gleichgestellt ist ua eine solche, die durch eine mit dem militärischen Dienst zusammenhängenden Strafmaßnahme herbeigeführt worden und wenn sie den Umständen nach als offensichtliches Unrecht anzusehen ist (§ 1 Abs 2 Buchst d BVG).
Wie das LSG unangegriffen festgestellt hat (§ 163 SGG), ist Sch. am 23. Februar 1945 vom Standgericht in Breslau wegen Dienstpflichtverletzung aus Furcht in einem besonders schweren Fall zum Tode verurteilt und am Morgen des 24. Februar 1945 durch ein Exekutionskommando, das aus Angehörigen der Einheit des Sch. gebildet worden war, hingerichtet worden. Sonach ist Sch. aufgrund einer mit dem militärischen Dienst zusammenhängenden Strafmaßnahme getötet worden (BSGE 6, 195, 196 = SozR Nr 18 zu § 1 BVG; BSGE 12, 216, 218 = SozR Nr 48 zu § 1 BVG; BSGE 21, 222, 224 = SozR Nr 71 zu § 1 BVG). Auch ist Sch. mit der Verurteilung zum Tode und deren Vollstreckung ein offensichtliches Unrecht zugefügt worden. Denn die Strafmaßnahme widersprach fundamentalen Erfordernissen der Gerechtigkeit, die sich an rechtsstaatlichen Anschauungen orientiert (BSGE 6, 195, 196; 12, 175, 176). Danach muß jede Strafe in einem gerechten Verhältnis zur Schwere der Straftat und dem Verschulden des Täters stehen (BVerfGE Bd 45, 187, 228 mwN). Das Gebot der Achtung der Menschenwürde, wie es allen Kulturnationen eigen ist, bedeutet insbesondere, daß grausame, unmenschliche und erniedrigende Strafen verboten sind (BVerfGE 45 aa0). Ob außerdem das Standgerichtsverfahren nach rechtsstaatlichen Gesichtspunkten ausgerichtet war, Sch. insbesondere ein Verteidiger gestellt worden ist (Hinweis auf § 51 der Kriegsstrafverfahrensordnung -KStVO- RGBl 1939 I 1457), kann letztlich dahinstehen. Jedenfalls hat das Standgericht gegen den im Strafrecht herrschenden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen und damit grobes Unrecht gesetzt.
Allerdings ist das Tatbestandsmerkmal "offensichtliches Unrecht" nicht schon deswegen zu bejahen, weil etwa die Todesstrafe mit der öffentlichen Meinung in der gesamten heutigen Kulturwelt schlechthin unverträglich wäre. Dafür ist die Abschaffung der Todesstrafe nach Art 102 Grundgesetz (GG) nicht das geeignete Indiz, vielmehr Ausdruck der Bewältigung einer vom nationalsozialistischen Unrechtssystem geprägten Vergangenheit. Auch bewährte Demokratien der westlichen Welt haben die Todesstrafe beibehalten. Die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen enthält sich trotz ihres humanitären Charakters jeder Stellungnahme zur Todesstrafe, verurteilt sie also auch nicht. Die Europäische Menschenrechtskommission setzt sie sogar als eine mögliche Strafe voraus (BVerfGE 18, 112, 117, 118). Ebenso ist, sofern bei im 2. Weltkrieg begangenen Militärstraftaten die in Betracht kommenden Bestimmungen der Kriegssonderstrafrechtsverordnung -KSSVO- vom 17. August 1938 (RGBl 1939 I 1455) und des Militärstrafgesetzbuches (MStGB) idF der Verordnung vom 10. Oktober 1940 (RGBl I 1347 f) zur Anwendung gelangten, damit die Rechtsstaatlichkeit nach übereinstimmender Rechtsprechung grundsätzlich nicht in Frage gestellt (ua BSGE 6 aa0, 12 aa0, 21 aa0, BSGE SozEntsch IX/3 Nr 17 zu § 1(c) BVG; BVerwG in Buchholz BVerwG 231, § 53 DBG Nr 2; BVerwGE Bd 8, 131; BGHZ DRiZ 1964, 313; BGHSt 2, 173; 3, 110, 116; 4, 66, 68; LM Nr 3 zu § 826 -Gc- BGB und die dort zitierten weiteren Entscheidungen der Strafsenate des BGH).
Indessen ist der Ausspruch der Todesstrafe und seine Vollstreckung offensichtliches Unrecht, weil darin die Verletzung anerkannter Grundsätze staatlichen Strafens deutlich sichtbar wird. Nach § 84 MStGB wird mit Arrest oder mit Gefängnis bestraft, wer aus Furcht vor persönlicher Gefahr eine militärische Dienstpflicht verletzt. In besonders schweren Fällen der Dienstpflichtverletzung aus Furcht ist wegen Feigheit auf Todesstrafe oder auf lebenslanges Zuchthaus oder zeitliches Zuchthaus zu erkennen (§ 85 Abs 1 MStGB). Ein besonders schwerer Fall kann dann vorliegen, wenn die Tat während einer Kampfhandlung oder zu einer Zeit, in der eine Kampfhandlung zu erwarten ist, oder in besonders schimpflicher Weise begangen worden ist, oder wenn sie einen erheblichen Nachteil herbeigeführt hat (§ 85 Abs 2 MStGB). Das LSG hat hierzu festgestellt, daß Sch. die Stellung während der Kampfhandlung entgegen dem ursprünglich ergangenen Befehl des Kompanieführers geräumt und einen offenbar unbrauchbar gewordenen Goliath-Panzer zurückgelassen hatte. Er war dann mit seinen Männern in das Quartier der Kompanie eingerückt. Selbst wenn aufgrund dessen der objektive Tatbestand des § 85 Abs 1 iVm Abs 2 MStGB erfüllt erscheinen mag, rechtfertigt dies nicht ohne weiteres die Todesstrafe. Die Strafandrohung der vorgenannten Vorschrift, die vom zeitlichen über lebenslängliches Zuchthaus bis hin zur Todesstrafe reicht, macht deutlich, daß wahlweise neben der schärfsten Strafe minderschwere Strafen zulässig sind. Mit diesem dem Richter im Strafgesetz gegebenen Strafrahmen ist die Verpflichtung verbunden, bei Bemessung der Strafe im Einzelfall den mannigfaltigen Lebenserscheinungen gerecht zu werden. Es widerspricht deshalb einer gerechten Strafzumessung, wenn der Richter eine Tat, die unter Berücksichtigung aller für das Strafmaß in Betracht zu ziehenden Umstände, wie insbesondere der Schwere der Folgen und der Schuld des Täters, mit der nach dem Strafrahmen höchstmöglichen Strafe ahndet, obwohl eine weit darunter liegende Strafe gerechtfertigt erscheint.
Zwar meint das LSG, es sei nicht auszuschließen, daß die gegen Sch. verhängte Todesstrafe auch unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes dem Unwert der Tat entsprochen haben könnte. Diese Aussage bezieht sich ersichtlich allein auf das Ergebnis der Beweisaufnahme. Indessen hat das LSG seine Überzeugung aus den seinerzeitigen besonderen Umständen der Kriegssituation sowie insbesondere aus dem Tagesbefehl des Festungskommandanten vom 8. Februar 1945 gewonnen, der jegliche Strafzumessungserwägungen des Standgerichts von vornherein unterband und als einziges die Verhängung der Todesstrafe gebot. Allein unter diesem rechtlichen Gesichtspunkt wollte das Berufungsgericht den geschehenen Strafausspruch als einen eindeutigen Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gewertet wissen. Die im Urteil des LSG enthaltene Begründung ist also nicht widersprüchlich, wie der Beklagte meint.
Die Annahme eines Sch. widerfahrenen offensichtlichen Unrechts setzt allerdings voraus, daß jeglicher Rechtfertigungsgrund für die oberste Grenze des Strafrahmens fehlt. Darauf hat das LSG abgehoben, ohne dies allerdings unmissverständlich zu sagen. Es hat neben der Tat als solcher auf die zur Tatzeit herrschende politische und militärische Lage Bedacht genommen und ist unter Würdigung des Tagesbefehls des Festungskommandanten zu der fraglichen Wertung bestimmt worden. Dieser Beurteilungsmaßstab, den bereits Kühne in seiner kritischen Anmerkung zum Urteil des 8. Senats vom 18. August 1966 - 8/10 RV 612/73 - (SozArb 1967, 68) angewandt wissen wollte (SGb 1967, 489 f), ist nicht zu beanstanden. Die militärische Lage der Festung Breslau war, wie dokumentarisch belegt, offenkundig aussichtslos. Um dennoch den Durchhalteparolen des "Führers" Folge zu leisten, ließ der Festungskommandant mit rücksichtsloser Härte durchgreifen, wobei drakonische Strafen als allein wirksames Mittel erschienen. Die Abschreckung stand dabei allein, wie das Berufungsgericht zutreffend festgestellt hat, im Vordergrund. Zu dessen Verwirklichung standen dem Festungskommandanten die geeigneten Machtmittel zur Verfügung. Ihm oblag es als Gerichtsherrn, die Urteile des Standgerichts nachzuprüfen und entweder zu bestätigen oder aufzuheben (§§ 79 und 80 KStVO; Absolon, Sammlung wehrrechtlicher Gutachten und Vorschriften, Heft 15, S 109; Absolon, Wehrgesetz und Wehrdienst 1935 bis 1945 S 282). Auch legen der vom LSG zitierte Führerbefehl Nr. 11 vom 8. März 1944 und das Fernschreiben des Reichsführers SS vom 29. Januar 1945 den rücksichtslosen Durchsetzungswillen schonungslos offen. Zusätzlich wird das Motiv der Abschreckung noch dadurch besonders augenfällig, daß Angehörige der Einheit des Sch. die Exekution selbst vornehmen mußten. Die Anordnung hierzu erteilte offensichtlich der Gerichtsherr, der die Befugnis hatte, anstelle des Vollzugskommandos einer anderen Einheit die Hinrichtung zu befehlen (§ 103 Abs 4 idF der 11. VO zur Durchführung und Ergänzung der VO über das militärische Strafverfahren im Kriege und bei besonderem Einsatz vom 11. Januar 1945 - RGBl I 13 -). Das LSG hat mit diesen Hinweisen festgestellt, daß die Schuld des Täters entgegen der auch nach dem MStGB geltenden Grundsätzen (Schwinge, MStGB einschließlich Kriegsstrafrecht, 6. Aufl 1944, S 13 ff, 110 ff; Schweling, Die deutsche Militärjustiz in der Zeit des Nationalsozialismus, herausgegeben von Schwinge, S 188 mit Hinweis auf Eberhard Schmidt, der zur Erfüllung einer Militärstraftat ausnahmslos ein Verschulden forderte) bei der Strafzumessung völlig unbeachtlich war. Wenn sich damit der Strafausspruch an den Zweck einer extrem überbewerteten Abschreckung ausrichtete, dann sind die typischen Merkmale der Unverhältnismäßigkeit erfüllt, deretwegen die Vorschrift des § 1 Abs 2 Buchst d BVG nicht zuletzt geschaffen worden ist (BSG Urteil vom 16. März 1972 - 10 RV 172/70 - mwN).
Die dokumentarisch gesicherten und damit offenkundigen politischen und militärischen Verhältnisse zur Zeit des Tathergangs und die daraus gewonnenen allgemeinen Erkenntnisse bestätigen diese Wertung. Daher ist es nicht zu beanstanden, wenn das Berufungsgericht darauf seine volle richterliche Überzeugung gestützt hat. Da feststeht, daß sich das Standgericht nur am äußeren Geschehensablauf ausrichten durfte, ist ein Todesurteil solange als offensichtliches Unrecht zu werten, wie nicht ein Sachverhalt vorgetragen wird, der die Höchststrafe auch unter Beachtung der nach dem MStGB geltenden Grundsätze gerechtfertigt hätte. Der Beklagte hat keinen Sachverhalt vorgetragen, aus dem sich auch nur die ernsthafte Möglichkeit eines anderen Geschehens hätte ergeben können und damit die Überzeugung des Gerichts erschüttert worden wäre.
Wichtig ist in diesem Zusammenhang, daß die sowjetischen Einheiten am 15. Februar 1945 den Ring um die Festung Breslau geschlossen hatten (Ahlfen/Niehoff, So kämpfte Breslau, S 39). Die Stadt zu halten, schien zunächst militärischen Notwendigkeiten zu entsprechen. Immerhin konnten dadurch sieben sowjetische Divisionen gebunden und die etwa 30 km entfernt von Breslau Stellung bezogene Heeresgruppe Mitte entlastet werden. Auch war dadurch den unzähligen Flüchtlingstrecks Zeit und Raum gegeben, den Marsch nach Westen fortzusetzen (Ahlfen/Niehoff aa0 S 117). Indessen scheiterte das militärische Vorhaben, Breslau zu entsetzen. Die insoweit durch Mundpropaganda genährte Hoffnung erfüllte sich nicht. Der Versuch einer Entsetzung blieb schon in den Anfängen stecken (Peikert, Festung Breslau, S 85/86). Trotz der militärisch hoffnungslos gewordenen Lage setzte der Festungskommandant auf Befehl des "Führers" alles daran, die Stellung so lange wie nur möglich zu halten. Dabei war jedes Mittel recht, um dieses Vorhaben mit aller Rücksichtslosigkeit durchzusetzen. Als Beleg dafür mag außer dem genannten Tagesbefehl des Festungskommandanten vom 8. Februar 1979 die in der "Schlesischen Tageszeitung" - ab 18. Februar 1945 "Frontzeitung der Festung Breslau" genannt - unter Nr. 46 am 19. Februar 1945 veröffentlichte Bekanntmachung vom 18. Februar 1945 dienen: "Aufgrund der Verordnung des Reichsministers der Justiz vom 15. Februar 1945 ist auf Anordnung des Reichsverteidigungsministers in der Festung Breslau ein Standgericht gebildet worden. Das Standgericht ist für alle Straftaten zuständig, durch die die deutsche Kampfkraft oder Kampfentschlossenheit gefährdet wird" (Peikert aa0 S 75). Da in den Standgerichtsverfahren nur ausnahmsweise Wehrmachtsrichter mitgewirkt haben (Schweling, aa0 S 306), konnte die Heeresführung davon ausgehen, mit dieser nach § 13a KStVO geschaffenen Einrichtung ein willfähriges Werkzeug in der Hand zu haben, das bereit war, jedwede Verfehlung mit äußerster Härte zu begegnen. Dies umso mehr, als dem Gerichtsherrn - wie ausgeführt - die Bestätigung der Urteile vorbehalten war. Offensichtlich erfüllte das Standgericht Breslau die dahingehenden Erwartungen. So berichtet Peikert, der als katholischer Seelsorger in der Festung Breslau bis zu deren Kapitulation verblieben und über die seinerzeitigen Verhältnisse gut informiert war, über vollzogene Hinrichtungen in der Kürassierkaserne "am laufenden Band" (aa0 S 75). Die Frontzeitung der Festung Breslau schreibt unter Nr. 71 am 16. März 1945, daß "Feiglinge, Verräter und Drückeberger ausgemerzt" worden seien und gab hierbei die Namen von 11 Soldaten, darunter auch den des Sch., bekannt (Peikert aa0 S 195). Zuvor schon hatte der seinerzeitige Gauleiter Hanke in seiner Eigenschaft als Reichsverteidigungskommissar den Bürgermeister Breslaus Dr. Spielhagen am 29. Januar 1945 vor dem Denkmal Friedrichs des II. morgens 6.00 Uhr standrechtlich erschießen lassen. Auf roten Plakaten wurde der Bevölkerung bekanntgegeben, daß Spielhagen "ohne Befehl die Stadt Breslau und seinen Posten verlassen wollte, um sich anderswo eine Beschäftigung zu suchen". "Wer den Tod in Ehren fürchtet, stirbt ihn in Schande", hieß es dort weiter (Grieger "Wie Breslau fiel ..." S 11).
Diese gewollt generalpräventive Wirkung, die augenfällig das Strafmaß des Standgerichts Breslau bestimmte, kennzeichnet das Endstadium einer im Verlaufe des Zweiten Weltkrieges fortschreitenden Tendenz, den Wert des Lebens gering zu achten, es geradezu zu mißachten. Die Zunahme der verhängten Todesurteile im Zweiten Weltkrieg, die Schweling mit insgesamt 10.000 bis 12.000 angibt, wovon etwa 60 % vollstreckt worden sein sollen (Schweling aa0 S 280) macht dies besonders deutlich. Messerschmidt (in: Hans Jochim Vogel, Simon, Podlech "Die Freiheit der Anderen", Festschrift für Martin Hirsch S 136 und 142) berichtet sogar von 11.664 verhängten Todesstrafen in der Zeit zwischen Ende August 1939 bis Ende des zweiten Quartals 1944 und von 10.000 Vollstreckungen bis Ende 1944. Die anhand der Vergleichszahlen (Todesstrafen 1939/1940 519, 1940/1941 447, 1941/1942 1.673, 1942/1943 2.769 und 1943/1944 4.118: Messerschmidt aa0 S 137; dazu auch Schweling aa0 S 265) nachgewiesene rapid ansteigenden Todesurteile, die gegen Kriegsende sicher noch zunahmen (Vultejus, Kampfanzug unter der Robe, Kriegsgerichtsbarkeit des Dritten Weltkriegs, S 51), läßt ohne weiteres annehmen, daß die im Jahre 1945 jedenfalls vom Standgericht in Breslau erlassenen Todesurteile vor allem dem Strafzweck der kollektiven Abschreckung dienten und bei der Strafzumessung im allgemeinen nicht mehr ein angemessenes Verhältnis zur Schuld beachtet wurde. Gewichtige Anhaltspunkte, daß im Falle des Sch. von der Annahme eines solchen erfahrungsgemäß typischen Geschehens Abstand zu nehmen wäre, sind, wie bereits ausgeführt, vom LSG nicht festgestellt und auch vom Beklagten nicht vorgetragen worden.
Der untragbare Ausschluß jeglicher Strafzumessungserwägungen läßt sich auch nicht aus der seinerzeitigen politischen und militärischen Situation rechtfertigen. Wohl ist bei allen Kulturnationen anerkannt, daß ein Staatswesen in Zeiten höchster kriegerischer und politischer Gefahr Gerichte walten läßt, die sachlich mit größter Strenge zu urteilen haben (BHGSt 2, 173). Die Aufrechterhaltung der Disziplin auch mit harten Mitteln ist noch nicht unbedingt ein Ausfluß nationalsozialistischen Terrors (Oberster Gerichtshof für die britische Zone OGH 2, 131). Das Motiv einer Strafverschärfung in Zeiten größter Not wird ebenfalls im Urteil des Nürnberger Juristenprozesses anerkannt (Schweling aa0 S 42; vgl auch Rüping "Streng aber gerecht. Schutz der Staatssicherheit durch den Volksgerichtshof" JZ 1984, 815 mwN). Darauf hat das Bundessozialgericht (BSG) bei der zu entscheidenden Rechtsfrage eines "offensichtlichen Unrechts" iS des § 1 Abs 2 Buchst d BVG schon bisher abgehoben (vgl ua BSGE 6, 195, 197 mwN; BSG SozEntsch IX/3 § 1(c) BVG Nr 17). Mit dieser Rechtsprechung soll aber keineswegs die Eskalation der Todesstrafe sowie die daraus offenbar werdende menschenverachtende Denkweise sanktioniert werden. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz darf nach rechtsstaatlichen Erfordernissen auch unter Extremverhältnissen nicht aus dem Auge verloren werden. Ihn hat aber das Standgericht, wie die aus dem damaligen Geschehen abzuleitende Erkenntnis lehrt, gröblichst mißachtet.
Im übrigen ist der Meinung der Klägerin nicht zu folgen, das Todesurteil sei allein deswegen unrechtmäßig iS des § 1 Abs 2 Buchst d BVG, weil die in Nordrhein-Westfalen - dem Wohnsitz der Klägerin - erlassene VO über die Gewährung von Straffreiheit vom 3. Juni 1947 (VOBl.BZ S 68) das Urteil des Standgerichts beseitigt habe. Nach § 7 der genannten VO gelten Urteile bestimmter Art von Rechts wegen als aufgehoben "ohne daß es einer gesetzlichen Entscheidung bedarf". Darunter zu subsumieren sind solche Verurteilungen, in denen materielles Unrecht durch Bestrafung ohne gesetzliche Grundlage oder aufgrund formal geltender, aber materiell ungerechter Gesetze zugefügt worden ist (BGHZ 10, 75, 77). Davon ist hier - wie ausgeführt - nicht auszugehen. Darüber hinaus kommt der VO nur Amnestiecharakter zu (BGHZ 10 aa0; BVerwGE 11, 89, 81 mwN, BVerwGE NJW 1962, 2367), mit der Rechtsfolge, daß solche Urteile nicht als rückwirkend aufgehoben gelten. Liegt, wie in dem hier zu entscheidenden Fall, nach entsprechender Überprüfung eine offenkundige Verletzung des Prinzips der materiellen Gerechtigkeit vor, dann folgt der Anspruch der Klägerin unmittelbar aus § 38 Abs 1 Satz 1 BVG iVm § 1 Abs 2 Buchst d BVG, ohne daß die VO zur Anwendung gelangen müßte. Die bisher ergangenen anders lautenden Entscheidungen des BSG sind nicht einschlägig. Entweder war das Todesurteil nachträglich durch gerichtlichen Beschluß aufgehoben worden (BSGE 21, 222, 225) oder galt das Urteil samt allen Nebenstrafen kraft Gesetzes - damals durch das Bayerische Gesetz zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Strafrechtspflege vom 29. Mai 1946 (BayGVBl S 180); ähnliche Gesetze auch in Hessen (GVBl 1946, 223), Bremen (GBl 1947, 85) und Baden-Württemberg (RegBl 1947 S 68) - als aufgehoben, ohne daß es insoweit einer gerichtlichen Nachprüfung bedurfte (BSGE 12, 175, 176 = SozR Nr 47 zu § 1 BVG).
-ie Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen