Entscheidungsstichwort (Thema)
Fürsorgepflicht im Rahmen truppenärztlicher Versorgung. Unterlassene Behandlung durch Truppenarzt. Wehrdiensteigentümliche Verhältnisse. Selbstmordversuch. Ausschluß freier Arztwahl
Leitsatz (redaktionell)
Die Bundeswehr erfüllt mit der Zurverfügungstellung der truppenärztlichen Versorgung ihre Fürsorgepflicht in Form der gesundheitlichen Betreuung der Wehrpflichtigen. Dafür hat der Truppenarzt die Pflicht, von sich aus erfahrene Praktiker oder Spezialisten heranzuziehen oder den Kranken zumindest unter Bewachung zu stellen, wenn er ihm die notwendige Behandlung nicht zuteil werden lassen kann.
Orientierungssatz
1. Wehrdiensteigentümlich iS des § 81 Abs 1 SVG ist auch die Verpflichtung des Soldaten, die unentgeltliche freie Heilfürsorge (§ 30 Abs 1 SG) in Anspruch zu nehmen. Der Soldat hat in diesem Rahmen keinen Anspruch auf freie Arztwahl (vgl BSG vom 4.10.84 9a/9 KLV 1/81 = SozR 3200 § 81 Nr 20).
2. Unterläßt es der Truppenarzt, bei einem psychisch gefährdeten Soldaten die gebotene, besondere Behandlung zu veranlassen, so sind die gesundheitlichen Schäden, die der Soldat bei einem anschließenden Selbstmordversuch erlitten hat, als Wehrdienstbeschädigung anzuerkennen.
Normenkette
SVG § 81 Abs. 1 Alt. 3, § 80 S. 1
Verfahrensgang
Hessisches LSG (Entscheidung vom 16.11.1982; Aktenzeichen L 4 Vs 986/79) |
SG Kassel (Entscheidung vom 10.07.1979; Aktenzeichen S 7 V 407/76) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger wegen der Verletzungen, die er bei einem Sprung aus dem Fenster eines im siebten Stock eines Neubaus gelegenen Raumes erlitten hat, Leistungen nach dem Soldatenversorgungsgesetz (SVG) zustehen.
Der im Jahre 1954 geborene Kläger hatte sich nach Ablegung der Reifeprüfung um Einstellung als Soldat auf Zeit beworben; die Verpflichtungszeit sollte zwei Jahre betragen. Am 1. Oktober 1974 kam er im Rahmen der Ableistung des Wehrdienstes zur Grundausbildung nach A; ab 1. Januar 1975 tat er bei der Nachschubkompanie in M Dienst. Im Februar 1975 wurde ihm eröffnet, daß die Kompanie seine Übernahme für die volle Verpflichtungszeit nicht befürworte und deshalb sein Dienstverhältnis als Soldat auf Zeit am 1. März 1975 ende. Am 1. April 1975 wurde er zur Sportförderungsgruppe in M versetzt.
Da er von seinem Kompaniechef ungünstig beurteilt worden war, verfiel er in Depressionen. Am 29. Juni 1975 erlitt er eine schwere Nervenkrise, die sich nach einer Aussprache mit seinem Vater wieder besserte. Am Abend desselben Tages trat erneut eine Nervenkrise auf, die vom Hausarzt mit Beruhigungsmitteln behandelt wurde. Der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. M teilte in einem Arztbrief vom 2. Juli 1975 dem Truppenarzt Dr. K mit, daß es beim Kläger zu Entfremdungserlebnissen gekommen sei; dazu träten Konflikte mit seiner Freundin auf. Hinweise auf eine Psychose bestünden zur Zeit nicht.
Dr. M hatte gegen eine Urlaubsreise des Klägers mit seiner Freundin keine Einwände; er schlug aber vor, daß der Kläger nach der Rückkehr aus dem Urlaub der psychosomatischen Poliklinik in M vorgestellt werden sollte, die seine weitere Betreuung während der restlichen Wehrdienstzeit zu übernehmen hätte.
Am 24. Juli 1975, nach der Rückkehr aus dem Urlaub, suchte der Kläger den neuen Truppenarzt Dr. K auf, der den Arztbrief des Dr. M kannte. Dr. K führte mit dem Kläger ein etwa anderthalb- bis zweistündiges Gespräch und bestellte ihn für den nächsten Tag wieder ein. An diesem Tag kam es nur zu einem kurzen Gespräch mit dem Truppenarzt; für den späteren Vormittag war ein Behandlungstermin bei einem Psychiater vereinbart worden. Da bis zu diesem Zeitpunkt noch etwas Zeit bestand, suchte der Kläger nochmals sein Zimmer auf. Gegen 10.30 Uhr stürzte er sich vom siebten Stock eines Neubaus herab und fiel in einen 150 cm tiefen Graben, in dem Zementrohre verlegt waren. Der Kläger erlitt durch diesen Sturz: 1) Schädelbasisfraktur links, 2) Contusio cerebri, 3) Kompressionsfraktur des Wirbelkörpers Th 10 mit komplettem Querschnittssyndrom, 4) Frakturen a) linke Hand und linker Ellenbogen, b) rechter Radius, c) Malleus fibularis (Knöchel) rechts.
Wegen der Verletzungen, die der Kläger bei dem Sturz davongetragen hatte, wurde sein Vater als Gebrechlichkeitspfleger bestellt.
Dieser beantragte am 11. Februar 1976 die Gewährung von Versorgung nach dem SVG, weil der Selbstmordversuch auf die dem Wehrdienst eigentümlichen Verhältnisse zurückzuführen seien. Dieser Antrag wurde abgelehnt (Bescheid vom 30. September 1976).
Auf die Klage hat das Sozialgericht (SG) durch Urteil vom 14. Juli 1979 den Bescheid des Beklagten aufgehoben und den Beklagten verurteilt, dem Kläger "Grundrente" wegen der näher bezeichneten Verletzungsfolgen zu gewähren. Das Landessozialgericht (LSG) hat durch Urteil vom 16. November 1982 die Berufung des Beklagten gegen dieses Urteil zurückgewiesen und dazu ausgeführt: Der Selbstmordversuch des Klägers sei zwar in einem Zustand einer schizophrenen Psychose geschehen, die durch den Wehrdienst weder verursacht noch verschlimmert worden sei. Auch ein Unfall iS der 2. Alternative des § 81 Abs 1 SVG liege nicht vor. Der Sturz des Klägers sei aber zurückzuführen auf die dem Wehrdienst eigentümlichen Verhältnisse. § 81 Abs 6 SVG stehe dem geltend gemachten Anspruch nicht entgegen, denn im Zeitpunkt des Sturzes aus 24 m Höhe sei die Willensfreiheit des Klägers nicht mehr gegeben gewesen. Der Sturz des Klägers sei nach der 3. Alternative des § 81 Abs 1 SVG zu entschädigen. Der Truppenarzt habe nicht die richtige Diagnose gestellt. Dies könne ihm zwar nicht angelastet werden, da er wegen seiner damaligen Unerfahrenheit nicht zu einer richtigen Diagnose fähig gewesen sei. Er habe seine Fürsorgepflicht aber dadurch verletzt, daß er den Kläger nicht für den Rest der Bundeswehrzeit zur weiteren Betreuung der psychosomatischen Poliklinik der Universität M überwiesen habe, wie dies Dr. M vorgeschlagen hatte; spätestens die Merkwürdigkeiten, die der Kläger am 25. Juli 1975 gezeigt habe, hätten Dr. K veranlassen müssen, ihn einem Nervenarzt vorzustellen. Diese militärärztliche Falschbehandlung sei den dem Wehrdienst eigentümlichen Verhältnissen zuzurechnen und löse den Versorgungsanspruch aus.
Wenn der Kläger am 25. Juli 1975 unter Aufsicht gestanden hätte, wäre es wahrscheinlich nicht zu dem Selbstmordversuch gekommen. Der Beklagte, der verlange, daß ein Unfall bei optimalem truppenärztlichem Verhalten ausgeschlossen gewesen sein müßte, verkenne, daß das Fehlverhalten des Truppenarztes die wesentliche Bedingung für den eingetretenen Körperschaden des Klägers gesetzt habe.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Der Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt und rügt die Verletzung der §§ 80, 81 SVG. Bei der Kausalität einer Unterlassung komme es darauf an, ob die versäumte Handlung eine entsprechende Erfolgsaussicht gehabt hätte. Es erhebe sich die weitere Frage, ob das tragische Geschehen wahrscheinlich verhindert worden wäre, wenn der Kläger unter Aufsicht gestanden hätte. Darauf habe das Bundessozialgericht (BSG) in verschiedenen Urteilen entscheidend abgehoben. Darüber fehlten aber in dem Urteil des LSG alle Einzelheiten.
Der Beklagte beantragt, die Urteile des Landessozialgerichts vom 16. November 1982 und des Sozialgerichts Kassel vom 10. Juli 1979 aufzuheben und die Klage abzuweisen, hilfsweise, die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Die beigeladene Bundesrepublik beantragt, das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts und das Urteil des Sozialgerichts Kassel aufzuheben und die Klage abzuweisen, hilfsweise, die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Hessische Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Sie schließt sich der Begründung des Beklagten an.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben einer Entscheidung des erkennenden Senats ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-) zugestimmt.
Entscheidungsgründe
Die zulässigen Revisionen sind nicht begründet. Das LSG hat zu Recht die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG Kassel zurückgewiesen.
Nach § 80 Satz 1 SVG erhält ein Soldat, der eine Wehrdienstbeschädigung erlitten hat, nach Beendigung des Wehrdienstverhältnisses wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Wehrdienstbeschädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG), soweit im SVG nichts Abweichendes bestimmt ist. Der Begriff der Wehrdienstbeschädigung wird in § 81 Abs 1 SVG erläutert. Danach ist sie eine gesundheitliche Schädigung, die durch eine Wehrdienstverrichtung, durch einen während der Ausübung des Wehrdienstes erlittenen Unfall oder durch die dem Wehrdienst eigentümlichen Verhältnisse herbeigeführt worden ist.
Das LSG ist zu Recht davon ausgegangen, daß der Sturz des Klägers weder auf eine Wehrdienstverrichtung noch auf einen während der Ausübung des Wehrdienstes erlittenen Unfall zurückzuführen ist.
Der Selbstmordversuch und die durch ihn eingetretenen Verletzungen sind jedoch durch "die dem Wehrdienst eigentümlichen Verhältnisse" herbeigeführt worden (§ 81 Abs 3 -3. Alternative- BVG).
Dem Wehrdienst eigentümlich sind Verhältnisse, die für diesen Dienst typisch und in der Regel zwangsläufig mit ihm verbunden sind, sofern sie sich deutlich von denen unterscheiden, die im Zivilleben herrschen (vgl SozR 3200 § 81 Nrn 2 und 18). Als wehrdiensteigentümlich ist hier vor allem zu nennen, daß der Soldat verpflichtet ist, die freie Heilfürsorge (§ 30 Abs 1 SoldatenG) in Anspruch zu nehmen (vgl das zur Veröffentlichung vorgesehene Urteil des Senats vom 4. Oktober 1984 - 9a/9 KLV 1/81 -) Das schließt auf der anderen Seite eine freie Arztwahl aus (vgl BSG SozR 3200 § 80 Nr 1). Er muß also in der Regel den Truppenarzt - ungeachtet dessen Qualifikation - konsultieren. Das LSG hat zu Recht darauf hingewiesen, daß bei der Bundeswehr der Einsatz junger Ärzte gebräuchlich ist, die gerade ihre Ausbildung abgeschlossen haben und häufig noch nicht die Erfahrungen in allen medizinischen Fachbereichen sammeln konnten, die ein erfahrener Praktiker, besonders ein Spezialist, im Zivilleben aufweist. Die Bundeswehr erfüllt mit der Zurverfügungstellung der truppenärztlichen Versorgung ihre Fürsorgepflicht in Form der gesundheitlichen Betreuung der Wehrpflichtigen. Dafür hat der Truppenarzt die Pflicht, von sich aus erfahrene Praktiker oder Spezialisten heranzuziehen, wenn er dem Soldaten die notwendige Behandlung nicht zuteil werden lassen kann. Das hat Dr. K nicht rechtzeitig getan. Dr. K hatte zwar einen Termin bei einem Psychiater für den 25. Juli 1975 vorgesehen. Der Truppenarzt hätte aber nicht so lange warten dürfen. Angesichts der Auffälligkeiten, die den Feldwebel, einen medizinischen Laien, veranlaßt hatten, den Kläger einer ärztlichen Behandlung zuzuführen, hätte der Kläger schon bei dem ersten Besuch von Dr. K nicht entlassen werden dürfen, sondern unter Aufsicht gestellt werden müssen, damit er sich nicht selbst gefährden konnte. Ein Zivilarzt, vor allem eine psychosomatische Poliklinik, deren Besuch dem Kläger empfohlen worden war, die aber wegen der Bundeswehrzugehörigkeit nicht direkt aufgesucht werden konnte, hätte erkannt, daß der Kläger in Gefahr war, sich selbst zu schädigen. Der Beklagte kann dagegen nicht erfolgreich einwenden, auch der private Neurologe Dr. M habe die Selbstmordgefährdung des Klägers nicht erkannt. Immerhin lag der Besuch bei Dr. M fast vier Wochen zurück, und dieser Arzt hatte ausdrücklich eine dauernde psychosomatische Betreuung empfohlen.
Durch die gebotene, aber von dem Truppenarzt unterlassene Anordnung einer besonderen Betreuung wurde der Kläger in die Lage versetzt, selbst Hand an sich zu legen. Das ist den dem Wehrdienst eigentümlichen Verhältnissen anzulasten. Es muß nicht geprüft werden, ob durch die richtige Behandlung eines privaten Arztes dem Kläger jede Möglichkeit zu einem Selbstmordversuch unterbunden worden wäre. Es reicht aus, daß der Kläger im Zivilleben unmittelbar zu einem Facharzt hätte gebracht werden können und daß dessen Weisungen den Selbstmordversuch in dieser Form, zu dieser Zeit und mit diesen Folgen wahrscheinlich verhindert hätten. Diese Behandlung und Überwachungsmöglichkeit wurde aber durch den wehrdiensteigentümlichen Ausschluß der freien Arztwahl verhindert (Urteil des erkennenden Senats vom 4. Oktober 1984 - 9a/9 KLV 1/81 -).
Daß der Kläger bei pflichtgemäßem Handeln des Truppenarztes wahrscheinlich daran gehindert worden wäre - jedenfalls in dieser Art und zu diesem Zeitpunkt - Hand an sich zu legen, hat das LSG festgestellt. Es kommt nicht darauf an, ob der Ausschluß der Willensfreiheit, unter dem der Kläger im Zeitpunkt des verhängnisvollen Sprunges stand, auf wehrdienstbedingte Umstände zurückzuführen ist. Dem Wehrdienst eigentümlich ist hier der Umstand, daß der Kläger im Stadium der heraufziehenden Psychose allein gelassen wurde.
Die Auslegung, die das LSG dem Tenor des Urteils des SG gegeben hat, ist vertretbar, denn unter Nr 1 des Tenors ist der Beklagte verurteilt worden, die geltend gemachten Verletzungen als Wehrdienstbeschädigung im Sinne der Entstehung anzuerkennen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen