Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Eintritt der obligatorischen Anschlussversicherung. verspäteter Hinweis der Krankenkasse über Austrittsmöglichkeit. Rückwirkung eines wirksamen Austritts
Leitsatz (amtlich)
Die obligatorische Anschlussversicherung setzt sich - auflösend bedingt durch einen wirksamen Austritt - bereits mit dem Tag nach dem Ausscheiden aus der Versicherungspflicht oder dem Tag nach dem Ende der Familienversicherung fort.
Normenkette
SGB V § 5 Abs. 1 Nr. 13, § 188 Abs. 4 Sätze 1-2, § 256a Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 16. September 2020 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Streitig zwischen den Beteiligten sind das Zustandekommen der sog obligatorischen Anschlussversicherung ab dem 2.3.2017 und die hierfür im Jahr 2017 erhobenen Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) und sozialen Pflegeversicherung (sPV).
Der Kläger war bei der Beklagten und der Beigeladenen bis zum 29.11.2016 als Bezieher von Arbeitslosengeld (Alg) versicherungspflichtiges Mitglied. Aufgrund einer noch während des Leistungsbezugs eingetretenen Arbeitsunfähigkeit erhielt er seit dem 30.11.2016 Krankengeld. Da die Arbeitsunfähigkeit lückenlos nur bis zum 1.3.2017 bescheinigt wurde, stellte die Beklagte bestandskräftig das Ende des Krankengeldanspruchs und der damit verbundenen Mitgliedschaft des Klägers mit Ablauf des 1.3.2017 fest (Bescheid vom 6.3.2017; Widerspruchsbescheid vom 4.5.2017).
Mit Schreiben vom 20.6.2017 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass eine Abmeldung zum 1.3.2017 vorliege. Sie forderte ihn mit einem Fragebogen zur Mitwirkung bei der Prüfung des weiteren Versicherungsstatus innerhalb von 14 Tagen auf. Zugleich erteilte sie den Hinweis, dass der Kläger bei ihr im Rahmen einer Anschlussversicherung versichert bleibe, wenn er in den kommenden 14 Tagen nicht bei ihr angemeldet werde und keine andere Krankenkasse über seine Mitgliedschaft informiere. Mit Schreiben vom 6.7.2017 forderte sie Einkommensnachweise zur Durchführung der mangels anderweitiger Absicherung im Krankheitsfall eingetretenen Anschlussversicherung. Der Kläger erklärte am 25.7.2017 gegenüber der Beklagten, er "verzichte (…) auf weiteres darauf", bei ihr versichert zu sein. Die Beklagte stellte daraufhin fest, dass sich die Versicherung des Klägers als freiwillige Mitgliedschaft beginnend am 2.3.2017 fortsetze. Mangels aktueller Informationen über seine Einkünfte seien auf Grundlage der Beitragsbemessungsgrenze ab 2.3.2017 monatliche Beiträge zur GKV und sPV in Höhe von insgesamt 754,73 Euro festzusetzen. Für die Zeit vom 2.3.2017 bis zum 31.7.2017 errechne sich ein Betrag von 3773,65 Euro (Bescheid vom 15.8.2017; Widerspruchsbescheid vom 13.12.2017).
Das SG hat die Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 13.6.2018). Das LSG hat den Gerichtsbescheid und die Verwaltungsentscheidungen aufgehoben. Die Voraussetzungen für die obligatorische Anschlussversicherung seien frühestens ab 4.7.2017 erfüllt. § 188 Abs 4 Satz 1 SGB V verlange einen vorherigen rechtlichen Hinweis der Krankenkasse auf die Austrittsmöglichkeiten und eine sich anschließende Frist von zwei Wochen. Einen solchen Hinweis habe die Beklagte dem Kläger frühestens mit Schreiben vom 20.6.2017 erteilt. Die obligatorische Anschlussversicherung trete erst ex nunc nach Ablauf der fruchtlos verstrichenen Zweiwochenfrist ein. Ansonsten könnte sich die zuständige gesetzliche Krankenkasse für den Hinweis beliebig Zeit lassen und die angestrebte zeitnahe Klärung des nahtlosen Versichertenstatus wäre nicht sichergestellt. Die Rückwirkung der obligatorischen Anschlussversicherung könne nicht damit begründet werden, dass ansonsten die identischen beitragsrechtlichen Folgen aufgrund der Auffangpflichtversicherung nach § 5 Abs 1 Nr 13 SGB V eintreten würden. Denn die Schutzvorschrift des § 256a SGB V gelte nur für Auffangpflichtversicherte, nicht aber für obligatorisch Anschlussversicherte. Außerdem werde die Auffangpflichtversicherung ggf durch die Familienversicherung gemäß § 10 SGB V verdrängt. In welchem Versichertenstatus der Kläger vom 2.3. bis frühestens zum 4.7.2017 gestanden habe, werde die Beklagte ebenso zu klären haben wie die zugehörige Beitragsbemessung (Urteil vom 16.9.2020).
Mit ihrer Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 188 Abs 4 SGB V. Nach dem Wortlaut der Vorschrift schließe sich die Anschlussversicherung nahtlos an das beendete Versicherungspflichtverhältnis an. Sinn und Zweck der Regelung sei es, einen lückenlosen Versicherungsschutz zu gewährleisten. Das angefochtene Urteil stehe auch mit der Gesetzessystematik nicht in Einklang. Die gegenüber der Auffangpflichtversicherung vorrangige Anschlussversicherung könne durch fristgemäßen Austritt und Nachweis einer anderweitigen Absicherung rückwirkend beseitigt werden.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 16. September 2020 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Oldenburg vom 13. Juni 2018 zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil des LSG für zutreffend. Die Beklagte hätte ihn ordnungsgemäß und rechtzeitig über seine Rechte und Pflichten aufklären müssen.
Die beigeladene Pflegekasse hat keinen Antrag gestellt.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision der Beklagten ist im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung der Sache an das LSG (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG) begründet. Dieses ist zu Unrecht von einem Beginn der obligatorischen Anschlussversicherung frühestens mit Ablauf der Zweiwochenfrist nach Hinweis der Krankenkasse ausgegangen (dazu A.). Mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen des Berufungsgerichts kann der Senat nicht abschließend entscheiden, ob und für welchen Zeitraum die Anschlussversicherung eingetreten ist und ob die erhobenen Beiträge rechtmäßig festgesetzt worden sind (dazu B.).
A. Nach § 188 Abs 4 SGB V (idF des Gesetzes zur Beseitigung sozialer Überforderung bei Beitragsschulden in der Krankenversicherung vom 15.7.2013 - BGBl I 2423) setzt sich für Personen, deren Versicherungspflicht oder Familienversicherung endet, die Versicherung mit dem Tag nach dem Ausscheiden aus der Versicherungspflicht oder mit dem Tag nach dem Ende der Familienversicherung als freiwillige Mitgliedschaft fort, es sei denn, das Mitglied erklärt innerhalb von zwei Wochen nach Hinweis der Krankenkasse über die Austrittsmöglichkeiten seinen Austritt (Satz 1). Der Austritt wird nur wirksam, wenn das Mitglied das Bestehen eines anderweitigen Anspruchs auf Absicherung im Krankheitsfall nachweist (Satz 2). Liegen die Voraussetzungen für diese obligatorische Anschlussversicherung vor, beginnt die damit verbundene freiwillige Mitgliedschaft im unmittelbaren Anschluss an den Wegfall der Versicherungspflicht oder der Familienversicherung (Ulmer, jurisPR-SozR 24/2020 Anm 2; Felix in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl 2020, § 188 RdNr 41.3, Stand der Einzelkommentierung: November 2022). Dies ergibt sich aus Wortlaut und Systematik der Vorschrift (dazu 1.) sowie Sinn und Zweck der Anschlussversicherung unter Berücksichtigung ihrer Entstehungsgeschichte (dazu 2.). Gegen diese Auslegung sprechen auch keine schutzwürdigen Belange des Mitglieds (dazu 3.).
1. Bereits der unmissverständliche Wortlaut des § 188 Abs 4 Satz 1 SGB V ("setzt sich (…) fort") als auch seine Struktur im Sinne eines Regel-Ausnahme-Verhältnisses ("es sei denn") lassen unzweifelhaft erkennen, dass sich die freiwillige Versicherung lückenlos "mit dem Tag" nach der beendeten Pflicht- oder Familienversicherung anschließt. Der Ablauf der Zweiwochenfrist stellt danach keine aufschiebende Bedingung für das Zustandekommen der Versicherung dar. Der wirksame "Austritt" des "Mitglieds" knüpft vielmehr an eine bereits eingetretene freiwillige Mitgliedschaft an und wirkt im Sinne einer auflösenden Bedingung auf den Tag nach dem Ausscheiden aus der Versicherungspflicht oder Familienversicherung zurück (vgl Peters in Kasseler Komm, Stand März 2022, § 188 SGB V, RdNr 16: Beendigung evtl sogar erst mit Austritt). Der mit der Zweiwochenfrist verbundene vorübergehende Schwebezustand ist hinnehmbar, weil im Ergebnis feststeht, dass nach dem Ende der Versicherungspflicht oder der Familienversicherung entweder eine freiwillige Mitgliedschaft nach § 188 Abs 4 SGB V oder ein anderweitiger vorrangiger Anspruch auf Absicherung im Krankheitsfall vorliegt. Würde der Beginn der freiwilligen Mitgliedschaft dagegen den Ablauf der Zweiwochenfrist nach Hinweis der Krankenkasse voraussetzen, käme es im Fall eines fehlenden (wirksamen) Austritts - also trotz Vorliegens der Voraussetzungen für die Anschlussversicherung - regelmäßig zu einer Lücke im Versicherungsschutz, die systemwidrig durch die eigentlich subsidiäre (vgl § 5 Abs 8a Satz 1 SGB V, hier idF des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes - GKV-WSG - vom 26.3.2007, BGBl I 378) Auffangpflichtversicherung nach § 5 Abs 1 Nr 13 SGB V geschlossen werden müsste. Diese Lücke könnte nur durch einen mindestens 14 Tage vor dem Ende der vorangehenden Pflicht- oder Familienversicherung gegebenen Hinweis vermieden werden. Wie der vorliegende Sachverhalt zeigt, ist das Ende der Pflichtversicherung aber nicht immer so frühzeitig absehbar. Selbst wenn die Beklagte - wie das LSG anrät - ihren Bescheid vom 6.3.2017 über das Ende des Krankengeldanspruchs und der damit einhergehenden Mitgliedschaft mit dem Hinweis nach § 188 Abs 4 Satz 1 SGB V verbunden hätte, wäre das Ende der Zweiwochenfrist nicht mit dem Ende der Versicherungspflicht zusammengefallen. Ein solcher Gleichlauf ist auch in anderen Fallgestaltungen nicht gesichert. Denn die Krankenkassen haben auch auf den Zeitpunkt einer (Ab)Meldung nach § 28a SGB IV hinsichtlich der gemäß § 5 Abs 1 Nr 1 SGB V versicherten Beschäftigten oder nach § 203a SGB V hinsichtlich der gemäß § 5 Abs 1 Nr 2 und Nr 2a SGB V versicherten Bezieher von Alg oder Alg II nur bedingt Einfluss.
2. Sinn und Zweck des § 188 Abs 4 Satz 1 SGB V ist es gerade, durch den nahtlosen Eintritt der obligatorischen Anschlussversicherung den Grundsatz des Vorrangs der freiwilligen Versicherung vor der nachrangigen Auffang-Versicherungspflicht des § 5 Abs 1 Nr 13 SGB V zu stärken (vgl Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit, BT-Drucks 17/13947 S 27 f zu Nr 2b Buchst b; BSG Urteil vom 10.3.2022 - B 1 KR 30/20 R - SozR 4-2500 § 188 Nr 4, auch zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen, juris RdNr 17; BSG vom 10.12.2019 - B 12 KR 20/18 R - BSGE 129, 265 = SozR 4-2500 § 188 Nr 1, RdNr 25). Dadurch soll ein lückenloser Versicherungsschutz ohne die Vollzugsprobleme des § 5 Abs 1 Nr 13 SGB V gewährleistet werden. Diese waren dadurch entstanden, dass Personen ohne anderweitige Absicherung im Krankheitsfall der Aufforderung der Krankenkassen, sich zur Klärung ihres Versicherungsschutzes zu melden, nicht nachgekommen waren. Auf diese Weise waren bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Mitgliedschaft rückwirkend festgestellt werden konnte, oft erhebliche Beitragsrückstände aufgelaufen. Um dem zukünftig entgegenzuwirken, lehnte der Gesetzgeber die Neuregelung des § 188 Abs 4 SGB V an die bisherige Regelung in § 190 Abs 3 SGB V (aufgehoben zum 1.8.2013 durch das Gesetz zur Beseitigung sozialer Überforderung bei Beitragsschulden in der Krankenversicherung vom 15.7.2013 - BGBl I 2423) an, wonach sich für Personen, deren Versicherungspflicht wegen Überschreitens der Jahresarbeitsentgeltgrenze zum Ablauf eines Kalenderjahres endete, die Mitgliedschaft als freiwillige Versicherung fortsetzte, wenn nicht innerhalb von zwei Wochen nach einem Hinweis der Krankenkasse der Austritt erklärt wurde. Diese Regelung sollte auf alle Personen, deren vorhergehende Versicherung kraft Gesetzes endete, ohne dass sich unmittelbar ein weiterer vorrangiger Versicherungspflichttatbestand anschloss, erweitert werden (vgl hierzu BT-Drucks 17/13947 S 27 zu Nr 2b Buchst b). Durch das Erfordernis der fristgebundenen Austrittserklärung nach § 188 Abs 4 Satz 1 SGB V und der grundsätzlich beim Mitglied liegenden Beweislast für das Vorliegen einer anderweitigen Absicherung (vgl Gerlach in Hauck/Noftz, SGB V, § 188 RdNr 20, Stand der Einzelkommentierung: September 2020) ist für die Krankenkassen die Durchführung der Anschlussversicherung im Vergleich zur Auffangpflichtversicherung erleichtert worden. Dieser angestrebten Effektivierung des Verwaltungsverfahrens läuft die vom LSG vorgeschlagene Lösung zuwider. Statt der bezweckten Verfahrenserleichterung müsste die Beklagte den Zugang des Hinweises und damit den Beginn der freiwilligen Versicherung jeweils individuell feststellen und außerdem den Versicherungsstatus für die Zwischenzeit - wie vor der Neuregelung des § 188 Abs 4 SGB V - nach § 5 Abs 1 Nr 13 SGB V prüfen.
3. Die Auslegung des LSG ist auch nicht durch schutzwürdige Interessen der Betroffenen geboten. Insbesondere erfordert es die Dispositionsfreiheit des Mitglieds (Art 2 Abs 1 GG) nicht, dass die freiwillige Anschlussversicherung erst nach dessen ordnungsgemäßer Aufklärung und anschließender Überlegungsfrist eintreten dürfte. Denn auch wenn § 188 Abs 4 SGB V von einer "freiwillige(n) Mitgliedschaft" spricht, setzt sich die nach dieser Vorschrift konstruierte Anschlussversicherung unabhängig von einem darauf gerichteten Willen des Mitglieds kraft Gesetzes fort (vgl Gerlach in Hauck/Noftz, SGB V, § 188 RdNr 19, Stand der Einzelkommentierung: September 2020). Es handelt sich um eine Pflichtkrankenversicherung in Form der freiwilligen Versicherung, nicht aber um eine Versicherung "aus freien Stücken" (vgl bereits BSG Beschluss vom 24.1.2017 - B 12 KR 19/17 B - juris RdNr 23; vgl Felix, NZS 2013, 921, 926: neuer Typus gesetzlicher Pflichtversicherung).
Auch der als Willenserklärung ausgestaltete Austritt liegt nicht allein im freien Belieben des Mitglieds. Der Hinweis soll zwar die Grundlage für den Austritt bilden, sodass die Zweiwochenfrist grundsätzlich erst mit dem Zugang des Hinweises der Krankenkasse über die Austrittsmöglichkeit beginnt (vgl SG Freiburg Urteil vom 30.11.2017 - S 11 KR 2756/17 - juris RdNr 15; Anm Bürger, NZS 2018, 192; Felix in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl 2020, § 188 RdNr 39, Stand der Einzelkommentierung: November 2022; Senger in Krauskopf, Soziale Krankenversicherung, Pflegeversicherung, EL 114 April 2022, § 188 SGB V RdNr 15). Die Wirksamkeit des Austritts hängt aber insbesondere davon ab, dass das Mitglied das Bestehen eines anderweitigen Anspruchs auf Absicherung im Krankheitsfall nachweist (§ 188 Abs 4 Satz 2 SGB V). Ohne eine solche anderweitige Absicherung kommt dem Austrittswillen keine Bedeutung zu. Ein (vermeintliches) Recht auf mangelnde Eigenvorsorge tritt im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung hinter den Zweck der GKV zurück, die Allgemeinheit vor unzureichender Absicherung des Einzelnen gegen das finanzielle Risiko von Krankheit zu schützen. Dieser Gemeinwohlbezug beruht auf einem umfassenden sozialen Ausgleich zwischen Gesunden und Kranken. Insoweit verfügt der Gesetzgeber über einen weiten Gestaltungsspielraum, der es ihm erlaubt, den Kreis der Pflichtversicherten so abzugrenzen, wie es für die Begründung einer leistungsfähigen Solidargemeinschaft erforderlich ist (BVerfG Urteil vom 10.6.2009 - 1 BvR 706/08 ua - BVerfGE 123, 186, 263 = SozR 4-2500 § 6 Nr 8 RdNr 229; BSG Urteil vom 10.12.2019 - B 12 KR 20/18 R - BSGE 129, 265 = SozR 4-2500 § 188 Nr 1, RdNr 27 mwN).
Auf den (fehlenden) Austrittswillen des Mitglieds kommt es auch dann nicht an, wenn bereits gesetzliche Ausschlussgründe gegeben sind. Das ist nach § 188 Abs 4 Satz 3 SGB V ua der Fall, wenn die Voraussetzungen für eine Familienversicherung erfüllt sind (vgl auch BSG Urteil vom 29.6.2021 - B 12 KR 33/19 R - BSGE 132, 237 = SozR 4-2500 § 188 Nr 2, RdNr 14; Felix in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl 2020, § 188 SGB V RdNr 35, 37, Stand der Einzelkommentierung: November 2022) oder auch bei Eintritt einer anderweitigen Pflichtversicherung (s Vorranggrundsatz § 191 Nr 2 SGB V; vgl BSG Urteil vom 10.3.2022 - B 1 KR 30/20 R - SozR 4-2500 § 188 Nr 4, auch zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen, juris RdNr 16; Gerlach in Hauck/Noftz, SGB V, § 188 RdNr 27, 37, Stand der Einzelkommentierung: September 2020). Das Mitglied verfügt insbesondere dann über eine echte Austrittsmöglichkeit, wenn es eine Krankenversicherung bei einem privaten Krankenversicherungsunternehmen abgeschlossen hat (vgl Gerlach in Hauck/Noftz, SGB V, § 188 RdNr 35, Stand der Einzelkommentierung: September 2020). Der Vorteil der Austrittsmöglichkeit besteht für das Mitglied vor allem darin, dass es nicht der ansonsten notwendigen Kündigung (§ 191 Nr 3 in Verbindung mit § 175 Abs 4 SGB V) bedarf und auch die Mindestbindungsfrist des § 175 Abs 4 Satz 1 SGB V nicht gilt (vgl Gerlach in Hauck/Noftz, SGB V, § 188 RdNr 34, Stand der Einzelkommentierung: September 2020). Diese Vorteile bleiben bei einer mit dem Austritt verbundenen Rückwirkung erhalten, und zwar auch dann, wenn die Austrittsfrist erst nach einem verspäteten Hinweis oder ohne Hinweis noch nicht begonnen hat (so im Ergebnis auch bereits zu § 190 Abs 3 SGB V aF: Thüringer LSG-Urteil vom 30.8.2005 - L 6 KR 39/04 - juris RdNr 36; Becker in Wannagat, Sozialgesetzbuch/Gesetzliche Krankenversicherung, Stand Februar 2008, § 190 RdNr 17; Baier in Krauskopf, Soziale Krankenversicherung, Pflegeversicherung, EL 2012, § 190 SGB V RdNr 20; Hänlein in Hänlein/Kruse/Schuler, SGB V, 4. Aufl 2012, § 190 RdNr 2). Aus der Rückwirkung resultierende Nachteile für die Krankenkasse - wie zB zu Unrecht erbrachte Leistungen - hat diese ggf selbst zu vertreten. Daraus lassen sich grundsätzlich keine Schadensersatzansprüche gegenüber dem Mitglied herleiten (vgl Senger in Krauskopf, Soziale Krankenversicherung, Pflegeversicherung, EL 114 April 2022, § 188 SGB V RdNr 13). Entstehen dem Betroffenen infolge eines verspäteten Hinweises finanzielle Nachteile, ist eventuell Raum für den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch oder Amtshaftungsansprüche (Felix, NZS 2013, 921, 925; dieselbe in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl 2020, § 188 SGB V RdNr 39, Stand der Einzelkommentierung: November 2022). Hierfür ist allerdings erforderlich, dass auch die Kausalität zwischen einem Pflichtverstoß der Krankenkasse und der behaupteten Rechtsbeeinträchtigung besteht. Daran fehlt es, wenn ohnehin keine anderweitige Absicherung vorliegt oder erwogen worden wäre.
Für den Beginn der Anschlussversicherung ist auch nicht deshalb auf den Ablauf der Austrittsfrist abzustellen, damit § 256a SGB V in der Zwischenzeit Anwendung finden könnte. Nach Abs 1 dieser zeitgleich mit § 188 Abs 4 SGB V (durch das Gesetz zur Beseitigung sozialer Überforderung bei Beitragsschulden in der Krankenversicherung vom 15.7.2013 - BGBl I 2423) eingeführten Regelung soll die Krankenkasse die für die Zeit seit dem Eintritt der Versicherungspflicht nachzuzahlenden Beiträge angemessen ermäßigen, wenn ein Versicherter das Vorliegen der Voraussetzungen der Versicherungspflicht nach § 5 Abs 1 Nr 13 SGB V erst nach dem Beginn der Mitgliedschaft (§ 186 Abs 11 Satz 1 und 2 SGB V) anzeigt. Auch diese Vorschrift stellt - ebenso wie § 188 Abs 4 SGB V - eine Reaktion auf den seit Einführung der nachrangigen Versicherungspflicht nach § 5 Abs 1 Nr 13 SGB V zum 1.4.2007 angewachsenen (zT uneinbringlichen) Schuldenberg dar. Diese Rückstände waren entstanden, weil die Krankenkassen insbesondere aufgrund fehlender Kontaktaufnahme und Mitteilung der betroffenen Versicherten den Eintritt der Versicherungspflicht nicht erkennen konnten. Zugleich sollte das bereits mit dem GKV-WSG verfolgte gesamtgesellschaftliche Ziel eines "Versicherungsschutzes für alle Einwohner" durch den Anreiz befördert werden, bislang unterbliebene Anzeigen nachzuholen (BT-Drucks 17/13947 S 28 f zu Nr 2 d). Diese mit den speziellen Vollzugsdefiziten des § 5 Abs 1 Nr 13 SGB V verknüpfte Zielsetzung des § 256a SGB V erfordert es nicht, den Beginn der freiwilligen Versicherung nach § 188 Abs 4 Satz 1 SGB V einengend auszulegen, um damit den Anwendungsbereich der Auffangpflichtversicherung noch auszudehnen. Dass eine unmittelbare Anwendung des § 256a SGB V für den Kläger nach der hier vertretenen Auslegung nicht in Betracht kommt, ist hinzunehmen. Durch die Anschlussversicherung erhält er einen lückenlosen vollwertigen Versicherungsschutz, für den auch eine entsprechende Beitragspflicht besteht. Sollte es durch ein von der Beklagten zu verantwortendes Verhalten zu Verzögerungen oder Nachteilen des Betroffenen beim Vollzug des § 188 Abs 4 SGB V kommen, sind diese ggf durch die allgemeinen Instrumente auszugleichen (vgl oben).
B. Dem Senat ist eine abschließende Entscheidung über den Eintritt und die Dauer der Anschlussversicherung (dazu 1.) sowie die eventuell entstandene Beitragsschuld (dazu 2.) verwehrt. Er verweist daher den Rechtsstreit zur weiteren Klärung an das Berufungsgericht zurück.
1. Mit dem angefochtenen Bescheid vom 15.8.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13.12.2017 wird nicht nur punktuell der Beginn der freiwilligen Versicherung am 2.3.2017 festgestellt, sondern auch deren (Fort)Bestand über diesen Tag hinaus geregelt. Es handelt sich dabei um einen Dauerverwaltungsakt, der über den Zeitpunkt seiner Bekanntgabe hinaus rechtliche Wirkungen erzeugt (vgl BSG Urteil vom 29.3.2022 - B 12 KR 1/20 R - SozR 4-2400 § 7a Nr 14, auch zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen, juris RdNr 14, zur Versicherungspflicht im Rahmen einer Statusfeststellung), solange und soweit er nicht zurückgenommen, widerrufen, anderweitig aufgehoben oder durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt ist (§ 39 Abs 2 SGB X), zB durch Beginn einer Pflichtversicherung (§ 191 Nr 2 SGB V; vgl BSG Urteil vom 10.12.1998 - B 12 KR 7/98 R - BSGE 83, 186, 187 = SozR 3-2500 § 186 Nr 7 S 19 f, juris RdNr 13). Ob die Beklagte rechtmäßig von der Fortsetzung der Krankenversicherung als freiwillige Mitgliedschaft ab 2.3.2017 ausgegangen ist und wie lange diese fortgewirkt hat, kann der Senat nicht abschließend anhand der Feststellungen des LSG entscheiden. Das Berufungsgericht hat lediglich festgestellt, dass der Kläger keine anderweitige Absicherung nachgewiesen habe. Damit wäre der vom Kläger mit seinem "Verzicht" auf eine weitere Krankenversicherung sinngemäß geltend gemachte Austritt - unabhängig davon, ob dieser fristgerecht erklärt wurde - zwar unwirksam (vgl § 188 Abs 4 Satz 2 SGB V). Das LSG hat aber offengelassen, ob ein gesetzlicher Ausschlussgrund gegeben war, etwa weil die Voraussetzungen für eine Familienversicherung vorlagen (§ 188 Abs 4 Satz 3 SGB V; vgl hierzu Gerlach in Hauck/Noftz, SGB V, § 188 RdNr 32, Stand der Einzelkommentierung: September 2020; Felix in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl 2020, § 188 RdNr 36, Stand der Einzelkommentierung: November 2022). Aus seiner Sicht konsequent hat das LSG auch Feststellungen dazu unterlassen, ob und wann die ggf kraft Gesetzes entstandene freiwillige Versicherung nach § 191 SGB V (idF des GKV-WSG vom 26.3.2007, BGBl I 378) wieder geendet hat.
2. Neben der Feststellung über die freiwillige Versicherung ab 2.3.2017 regelt der angegriffene Bescheid auch die Beitragspflicht zur GKV und sPV in Höhe von insgesamt 754,73 Euro monatlich. Der von Amts wegen zu prüfende und vom Kläger nicht begrenzte Streitgegenstand umfasst insoweit die Beiträge für die Zeit vom 2.3. bis zum 31.12.2017. Entgegen der Auffassung des LSG wird nicht nur eine Beitragsnachforderung für den Zeitraum vom 2.3. bis zum 31.7.2017, sondern auch ein monatlicher Beitrag "ab 02.03.2017" festgesetzt. Eine Bindung an den vom Tatsachengericht festgestellten Erklärungsinhalt des Verwaltungsakts tritt insoweit nicht ein, weil die Auslegung auf einer unvollständigen Würdigung beruht. In einem solchen Fall kann das Revisionsgericht die Erklärung selbst auslegen (vgl BSG Urteil vom 10.3.2022 - B 1 KR 30/20 R - SozR 4-2500 § 188 Nr 4, auch zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen, juris RdNr 24). Die auch für die Folgemonate fortwirkende Beitragsfestsetzung ist durch den nachfolgenden Bescheid der Beklagten vom 13.1.2018 für die Zeit ab 1.1.2018 geändert worden. Da der Kläger die unterbliebene Einbeziehung dieses Verwaltungsakts in das Klageverfahren nach § 96 Abs 1 SGG in der Revisionsinstanz nicht gerügt hat, ist diese Verwaltungsentscheidung nicht Gegenstand des Revisionsverfahrens.
Ausreichende Feststellungen dazu, ob die für den streitgegenständlichen Zeitraum vom 2.3. bis zum 31.12.2017 erhobenen Beiträge zutreffend festgesetzt wurden, fehlen noch. Insoweit wird das LSG ggf auch zu prüfen haben, ob Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die beitragspflichtigen Einnahmen des Klägers die anzuwendende Mindestbeitragsbemessungsgrundlage tatsächlich nicht überschritten haben und insoweit § 240 Abs 1 Satz 4 SGB V in der ab 15.12.2018 geltenden Fassung des Gesetzes zur Beitragsentlastung der Versicherten in der gesetzlichen Krankenversicherung vom 11.12.2018 (BGBl I 2387) rückwirkend anzuwenden ist (so etwa LSG Mecklenburg-Vorpommern Urteil vom 11.4.2019 - L 6 KR 80/17 - juris RdNr 51; LSG Baden-Württemberg Urteil vom 21.5.2021 - L 4 KR 1203/19 - juris RdNr 47 ff).
C. Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Heinz Padé Bergner
Fundstellen
Haufe-Index 15581862 |
BSGE 2024, 218 |