Leitsatz (amtlich)
1. Eine nach bisherigen versorgungsrechtlichen Vorschriften ergangene Entscheidung ist nicht nach BVG § 85 S 1 rechtsverbindlich für die Frage, ob ein schädigender Vorgang im Sinne des BVG § 1 vorliegt. (Anschluß BSG 1956-10-16 100 RV 1050/55 = BSGE 4, 21).
2. Zur Frage, unter welchen Umständen auch während eines Urlaubs militärischer Dienst im Sinne des BVG § 1 geleistet werden kann.
Normenkette
BVG § 1 Abs. 1 Fassung: 1950-12-20, § 85 S. 1 Fassung: 1950-12-20
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Schleswig vom 11. August 1955 wird aufgehoben; die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Schleswig zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I.
Der Ehemann der Klägerin wurde im Herbst 1918 zum Wehrdienst eingezogen. Am 17. Oktober 1918 kam er in das Reservelazarett Allenstein wegen entzündeter Zehen; am 30. Oktober 1918 wurde er dort in ambulante Behandlung entlassen. Er starb am 20. November 1918 in seiner Wohnung in Preußisch-Holland an einer doppelten Lungenentzündung.
Die Klägerin beantragte im Oktober 1945 Kriegshinterbliebenenrente: sie habe früher eine Versorgungsrente von Versorgungsdienststellen in Ostpreußen bezogen. Sie erhielt ab 1. August 1946 eine Rente von monatlich RM 30,-- von der Landesversicherungsanstalt Schleswig-Holstein. Diese teilte der Klägerin durch "Benachrichtigung" vom 29. August 1947 mit, daß ihr die Witwenrente nunmehr in Höhe von RM 60,-- weiter gewährt werde. Den Antrag der Klägerin vom 4. Februar 1952, ihr Witwenrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) zu gewähren, lehnte die Versorgungsverwaltung durch Bescheid vom 15. September 1953 ab: der Tod des Ehemannes sei nicht auf eine Schädigung im Sinne des BVG zurückzuführen, die Klägerin habe früher nicht Witwenrente, sondern Witwenbeihilfe bezogen.
Der Widerspruch blieb ohne Erfolg (Bescheid vom 3. April 1954). Das Sozialgericht Schleswig wies die Klage durch Urteil vom 6. August 1954 ab. Das Landessozialgericht (LSG.) wies die Berufung der Klägerin durch Urteil vom 11. August 1955 zurück: der Ehemann der Klägerin habe sich die Lungenentzündung, die zu seinem Tode geführt habe, während seines Urlaubs zugezogen, sein Tod sei nicht Folge einer Schädigung im Sinne des BVG; die "Benachrichtigung" vom 29. August 1947 über die weitere Rentengewährung sei kein Versorgungsbescheid und für die Versorgungsbehörde "nicht im Sinne des § 85 BVG" verbindlich. Das LSG. ließ die Revision zu. Das Urteil wurde der Klägerin am 23. September 1955 zugestellt. Am 30. September 1955 legte sie Revision ein und begründete die Revision gleichzeitig. Sie beantragte, die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihr die Witwenrente über den 31. Oktober 1953 hinaus zu gewähren. Zur Begründung führte sie aus, das LSG. habe die rechtliche Bedeutung der "Benachrichtigung" vom 27. August 1947 verkannt; diese sei ein rechtsverbindlicher Versorgungsbescheid nach der Sozialversicherungsdirektive (SVD) Nr. 27, der früheren Versorgungsregelung; die Versorgungsbehörde könne daher nach § 85 Satz 1 BVG über ihr Versorgungsbegehren nach diesem Gesetz nicht abweichend entscheiden.
Der Beklagte beantragte, die Revision zurückzuweisen.
II.
Die Revision ist zulässig. Sie ist auch begründet.
Der Anspruch der Klägerin auf Versorgung nach dem BVG ist abgelehnt worden, weil die gesundheitliche Schädigung, die den Tod des Ehemannes der Klägerin herbeigeführt hat, nach Ansicht der Vorinstanzen nicht die Folge eines Tatbestandes ist, der nach § 1 BVG Versorgungsansprüche begründet. Nach § 85 Satz 1 BVG ist, soweit nach bisherigen versorgungsrechtlichen Vorschriften über die Frage des ursächlichen Zusammenhangs einer Gesundheitsstörung mit einem schädigenden Vorgang im Sinne des § 1 BVG entschieden ist, "die Entscheidung hierüber auch nach diesem Gesetz rechtsverbindlich". Die Verbindlichkeit der früheren Entscheidung ergreift also insoweit auch die Entscheidung nach dem BVG. Die Frage, ob ein schädigender Vorgang vorgelegen hat, der auch die Merkmale eines nach dem BVG geschützten Tatbestandes erfüllt, muß der Beklagte aber bei der ersten Entscheidung nach dem BVG - der "Umanerkennung" - prüfen; er ist dabei nicht an einen Bescheid nach früheren versorgungsrechtlichen Vorschriften gebunden. Im vorliegenden Fall ist die Klägerin am 29. August 1947 vom Beklagten zwar nur "benachrichtigt" worden, daß ihr die Witwenrente weitergewährt werde; bei dieser "Benachrichtigung" handelt es sich aber um einen "Bescheid" im Sinne des § 85 BVG (vgl. BSG. 3 S. 251 [253, 254]). Das BVG beruht, wie aus den Übergangsvorschriften (§§ 84 bis 86) zu entnehmen ist, auf dem Grundgedanken, daß von seinem Inkrafttreten an die Tatbestände der §§ 1 bis 5 BVG die alleinige Grundlage für die Versorgung bilden und daß frühere Entscheidungen über Versorgungsansprüche mit dem Außerkrafttreten der älteren Versorgungsgesetze hinfällig geworden sind (BSG. 1/210 [215]; 2/113 [114], 2/263 [264]; 3/251 [255]; 4/21 [25]). Die Vorschrift des § 85 Satz 1 BVG schränkt diesen Grundsatz nur insoweit ein, als sie hinsichtlich einer Voraussetzung des Anspruchs auf Versorgung eine Bindung an Bescheide nach früherem Recht begründet. Nach ihrem Wortlaut kommt als erstes Glied des ursächlichen Zusammenhangs nicht irgendein Ereignis, des irgendwann geeignet gewesen ist, einen Versorgungsanspruch zu begründen, in Betracht, sondern nur "ein schädigender Vorgang im Sinne des § 1 BVG". Danach muß ein schädigender Vorgang, von dem eine bindende Wirkung hinsichtlich des ursächlichen Zusammenhangs nach § 85 Satz 1 BVG ausgeht, alle Tatbestandsmerkmale des § 1 BVG erfüllen. Die Rechtsverbindlichkeit einer früheren Entscheidung hängt also davon ab, daß der schädigende Vorgang eine Schädigung im Sinne des BVG ist; die Beurteilung des schädigenden Vorgangs nach früherem Recht selbst wird nicht von der bindenden Wirkung mit umfaßt (BSG. 4/21 [23]). Die Bindungswirkung des § 85 Satz 1 BVG soll die Änderung einer nach bisherigen versorgungsrechtlichen Vorschriften ergangenen Entscheidung nur insoweit ausschließen, als etwa auf Grund inzwischen geänderter medizinischer Anschauungen der ursächliche Zusammenhang einer Gesundheitsstörung mit einem schädigenden Ereignis anders als in der früheren Entscheidung zu beurteilen wäre (Bünger, Der Versorgungsbeamte, 1952, S. 17). Sie erstreckt sich demnach nur auf den ursächlichen Zusammenhang im medizinischen Sinne, d.h. auf die ursächliche Verknüpfung zwischen der gesundheitlichen Schädigung und ihren Folgen (BSG. 2/113 [114]; 4/21 [23]) (Lungenentzündung und Tod).
Auf die andere ursächliche Verknüpfung, die der Versorgungsanspruch voraussetzt, nämlich die zwischen dem versorgungsrechtlich erheblichen Ereignis (militärischen Dienst) und der gesundheitlichen Schädigung erstreckt sich die Bindungswirkung nicht. Das bedeutet, daß der Beklagte berechtigt gewesen ist, zu prüfen, ob die Entscheidungen, die nach bisherigen versorgungsrechtlichen Vorschriften ergangen sind, Feststellungen enthalten, die das Vorliegen eines schädigenden Vorgangs im Sinne des BVG erkennen lassen. Sind solche Feststellungen nicht nachweisbar und ergibt auch der Sachverhalt nicht einen versorgungsrechtlich geschützten Tatbestand im Sinne des § 1 BVG, so ist das Versorgungsbegehren nicht begründet. Das Gesetz bietet keinen Anhalt dafür, daß die Prüfung, ob ein versorgungsrechtlich geschützter Tatbestand im Sinne des § 1 BVG vorliegt, auf die Fälle beschränkt bleiben muß, in denen sich die Tatbestandsmerkmale der §§ 1 bis 5 BVG mit den Tatbestandsmerkmalen des früheren Rechts nicht decken (BSG. 4/21 [24]). Die Annahme des LSG., der Beklagte habe, ohne an einen früheren Bescheid gebunden zu sein, das Versorgungsbegehren nach dem BVG zu Recht geprüft, ist hiernach im Ergebnis zutreffend.
Die Revision ist jedoch trotzdem begründet. Zwar ist das Revisionsgericht an die tatsächlichen Feststellungen des LSG. gebunden, da gegen sie zulässige und begründete Revisionsgrunde nicht vorgebracht worden sind (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -); diese Feststellungen rechtfertigen aber die Ablehnung des Versorgungsanspruchs der Klägerin nach § 1 BVG nicht. Das LSG. hat angenommen, daß sich der Ehemann der Klägerin die Lungenentzündung zugezogen habe, während er (nach seiner Entlassung aus dem Lazarett) "zur ambulanten Behandlung nach Hause beurlaub" gewesen sei. Es hat daraus ohne nähere Begründung gefolgert, daß er sich die Erkrankung nicht durch den militärischen Dienst zugezogen habe und daß deshalb ein schädigender Vorgang im Sinne des § 1 BVG nicht vorliege. Diese rechtliche Schlußfolgerung begegnet erheblichen Bedenken, sie ergibt sich aus dem festgestellten Sachverhalt nicht zwingend. Die Beurlaubung eines Soldaten bedeutet zwar eine vorübergehende Entbindung vom Dienst, so daß in der Regel während des Urlaubs militärischer Dienst nicht geleistet wird. Im Einzelfall können aber besondere Umstände die Annahme rechtfertigen, daß auch eine Tätigkeit während des Urlaubs unter den Begriff "militärischer Dienst" fällt (vgl. auch RVGer. 1 S. 95; 2 S. 34).
Wenn der Ehemann der Klägerin vom Reservelazarett Allenstein unmittelbar in seine benachbarte Heimatstadt mit der Weisung der Lazarettärzte beurlaubt worden ist, sich von dort aus bis zur Wiederherstellung seiner Dienstfähigkeit ambulant behandeln zu lassen, so hat er einem militärischen Befehl nachkommen müssen; er hat sich jedenfalls insoweit in der Ausübung des militärischen Dienstes befunden. Es kann daher - auch wenn der Sachverhalt so gewesen ist, wie das LSG. angenommen hat - nicht ohne weiteres ausgeschlossen werden, daß sich der Ehemann der Klägerin trotz seines Urlaubs die Erkrankung durch Verrichtung militärischen Dienstes zugezogen hat.
Ist aber der Ehemann der Klägerin aus dem Lazarett zu seinem Truppenteil entlassen worden und dort zunächst zur ambulanten Behandlung verblieben und ist er während eines gelegentlichen Familien- oder Sonntagsurlaubs an einer Lungenentzündung erkrankt, so kann es sich wegen der Art der Krankheit sehr wohl darum handeln, daß er sich diese schon bei seinem Truppenteil zugezogen hat und deshalb eine Schädigung im Sinne des § 1 BVG vorliegt.
Das angefochtene Urteil beruht hiernach auf rechtsirrtümlicher Auslegung des § 1 BVG (vgl. § 162 Abs. 2 SGG); das LSG. ist zu Unrecht davon ausgegangen, daß eine Erkrankung während des militärischen Urlaubs ungeachtet der Besonderheiten des Einzelfalls den Versorgungsanspruch stets ausschließe; es ist daher aufzuheben. Das Bundessozialgericht kann in der Sache selbst nicht entscheiden, weil die tatsächlichen Feststellungen zu einer abschließenden Beurteilung nicht ausreichen; es muß deshalb die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG). Das LSG. wird den Sachverhalt unter Beachtung der angeführten Gesichtspunkte aufzuklären haben (§ 103 SGG). Dabei kommt vor allem eine eingehende Anhörung der Zeugen O... B... (vgl. seine Erklärung vom 29.8.1953) und H... N... sowie die Anhörung der von dem Zeugen B... sonst noch benannten Zeugen in Betracht. Das LSG. wird auch den Auszug aus dem Hauptkrankenbuch des Reservelazaretts (Garnisonlazaretts) A. zu beachten haben, wonach der Ehemann der Klägerin am 30. Oktober 1918 zur ambulanten Behandlung im Reservelazarett I in Allenstein entlassen worden ist.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der abschließenden Entscheidung des LSG. vorbehalten.
Fundstellen