Entscheidungsstichwort (Thema)
Aufrechnung von Beitragsrückständen zu zahlende Rente, wenn der Anspruchsberechtigte hilfsbedürftig ist
Leitsatz (amtlich)
Der Aufrechnung mit Beitragsrückständen gegen den Rentenanspruch eines Berechtigten, der gleichzeitig Sozialhilfe bezieht, steht nicht entgegen, daß die Aufrechnung eine stärkere Inanspruchnahme des Trägers der Sozialhilfe zur Folge hat (Anschluß an BSG 1968-11-01 12 RJ 342/66 - SozR Nr 12 zu § 1299 RVO).
Leitsatz (redaktionell)
Bei der in RVO § 1299 (AVG § 78) dem Rentenversicherungsträger zugestandenen Aufrechnungsmöglichkeit ist dieser keiner betragsmäßigen, anteilmäßigen oder zeitlichen Begrenzung unterworfen. Die Pfändungsschutzvorschriften der ZPO §§ 850 ff, die über BGB § 394 zum Ausschluß der Aufrechnung führen könnten, treten gegenüber der Regelung der RVO (AVG) zurück (ZPO § 850f Abs 4).
Normenkette
RVO § 1299 Fassung: 1959-07-23; AVG § 78 Fassung: 1959-07-23; ZPO § 850f Abs. 4; BGB § 394
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 24. Mai 1967 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die beigeladene Frau S (Beigeladene zu 1) war von August 1950 an Inhaberin eines Umschlagbetriebes in Hamburg. Bis November 1952 geriet sie mit der Abführung von - einbehaltenen - Sozialversicherungsbeiträgen für die von ihr beschäftigten Arbeitnehmer in Höhe von mehr als 12000,- DM in Rückstand. Deshalb wurde sie am 1. Dezember 1953 wegen Vergehens nach §§ 1492, 533 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF zu sechs Wochen Gefängnis verurteilt. Vollstreckungsmaßnahmen, welche die beigeladene Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) Hamburg in Abständen von etwa zwei Jahren vornahm, blieben erfolglos.
Mit Bescheid vom 18. Dezember 1963 bewilligte die beklagte Landesversicherungsanstalt (LVA) der Beitragsschuldnerin eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit von monatlich 30,30 DM für die Zeit vom 1. März 1963 an. Zugleich rechnete sie mit ihrem Anspruch auf rückständige Beiträge zur Rentenversicherung der Arbeiter in Höhe von rund 5000,- DM gegen den Anspruch auf Rentennachzahlung von 333,20 DM und auf die laufenden Rentenbezüge in Höhe von 10,- DM monatlich auf. - Der Widerspruch gegen die Aufrechnung hatte keinen Erfolg.
Mit der Klage begehrt die Klägerin, welche der Beigeladenen zu 1) seit November 1962 Sozialhilfe gewährt, auf Grund der §§ 1531 ff RVO die Verurteilung der Beklagten zur vollen Rentenleistung, weil die Aufrechnung, die zu einer Erhöhung der Sozialhilfeleistung führe und damit die Tilgung der Beitragsschuld auf den Träger der Sozialhilfe abwälze, unzulässig sei.
Das Sozialgericht (SG) Hamburg hat dem Klageantrag durch Urteil vom 10. März 1966 stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hin hat das Landessozialgericht (LSG) Hamburg durch Urteil vom 24. Mai 1967 die erstinstanzliche Entscheidung aufgehoben und die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Die Rückstände der Beitragsschuldnerin seien zur Aufrechnung geeignet; sie seien nicht verjährt. Die Verjährungsfrist betrage im vorliegenden Falle 30 Jahre, weil die Schuldnerin die Beiträge absichtlich hinterzogen habe (§ 29 Abs. 1 RVO, § 195 BGB). Weiter erfülle die zur Aufrechnung gestellte Beitragsschuld gegenüber dem Rentenanspruch die zu fordernden Merkmale der Gegenseitigkeit und Gleichartigkeit. Schließlich sei sie auch in der von der Beklagten festgesetzten Höhe von monatlich 10,- DM nicht zu beanstanden. § 1299 RVO begrenze - im Unterschied zu § 223 RVO und § 93 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) - die Aufrechnung nicht. Auch die Pfändungsgrenzen der §§ 850 ff der Zivilprozeßordnung (ZPO) seien für die Aufrechnung in der gesetzlichen Rentenversicherung nicht maßgebend. Während die Pfändungsschutzbestimmungen neben der Unterhaltssicherung die Erhaltung des Arbeitswillens bewirken sollten und die Sozialhilfe auf das Existenzminimum des Hilfsbedürftigen ausgerichtet sei, bemesse sich die Rente nach den Beitragsleistungen. Der Grundsatz der leistungsbezogenen Rente werde auch dann nicht durchbrochen, wenn der Zahlbetrag nicht die für das Existenzminimum erforderliche Höhe erreiche. Diese Unterschiede in der Motivation des Gesetzes ließen es zu, auch gegen Kleinstrenten mit Beitragsrückständen aufzurechnen.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Klägerin hat das Rechtsmittel eingelegt und zu dessen Begründung ausgeführt:
Die Beklagte habe mit Forderungen gegen die Beigeladene S nicht wirksam aufrechnen können, weil sie - die Klägerin - ihren Ersatzanspruch bereits vor der Rentenbewilligung angemeldet habe und die Ansprüche auf die laufenden Rentenbezüge schon bei ihrer Entstehung mit diesem Ersatzanspruch belastet gewesen seien. Abgesehen davon habe die Beklagte auch die Grenzen ihres pflichtgemäßen Ermessens überschritten. Diese würden durch den primären Zweck der Rentengewährung, nämlich die Sicherung der sozialen Existenz des Versicherten, gesteckt. Andernfalls würden die Beitragsschulden des Versicherten aus Sozialhilfemitteln beglichen. Dies verstoße gegen den Grundsatz der Subsidiarität der Sozialhilfe (§ 2 BSHG), der auch im Verhältnis zu den Sozialversicherungsträgern eingreife.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des LSG Hamburg vom 24. Mai 1967 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 10. März 1966 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie tritt den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils bei und führt weiter aus: Der in §§ 1531 ff RVO normierte Erstattungsanspruch des Trägers der Sozialhilfe sei gegenüber einem gesetzlichen Forderungsübergang eine abgeschwächte Art des Ausgleichs. Er bestimme sich nach dem konkreten Anspruch des Rentenberechtigten, wie er sich aus dem Vierten Buch der RVO einschließlich der Aufrechnungsberechtigung des Versicherungsträgers ergebe.
Die beigeladene AOK schließt sich dem Antrag der Beklagten an. Die Beigeladene S ist im Revisionsverfahren nicht durch einen zugelassenen Prozeßbevollmächtigten vertreten.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die Revision ist zulässig, aber unbegründet.
Gegen die von der Beklagten im Bescheid vom 18. Dezember 1963 ausgesprochene Aufrechnung mit Beitragsrückständen aus der Rentenversicherung der Arbeiter (ArV) bestehen keine rechtlichen Bedenken. Das im bürgerlichen Recht ausgeprägt Rechtsinstitut der Aufrechnung setzt - auch in seiner Anwendung auf dem Gebiet der Sozialversicherung - gegenseitige, gleichartige und fällige, nicht mit einer Einrede behaftete Forderungen voraus (§§ 387, 390 BGB). Diese Voraussetzungen sind bei dem Anspruch der Beklagten auf Beiträge zur ArV einerseits und dem Leistungsanspruch der Beigeladenen S aus diesem Versicherungszweig andererseits gegeben. Die Gleichartigkeit der Forderungen wird nicht dadurch in Frage gestellt, daß sie aus verschiedenen Versicherungsverhältnissen stammen, nämlich einerseits aus den Versicherungen von Arbeitnehmern des nicht mehr bestehenden Umschlagbetriebes und andererseits aus der eigenen Versicherung der Beigeladenen; die zu fordernde Gleichartigkeit bezieht sich auf den Inhalt der Leistung, nicht auf den Schuldgrund (vgl. BSG in SozR Nr. 10 zu § 1299 RVO). Den zur Aufrechnung gestellten Beitragsrückständen steht auch nicht etwa die Einrede der Verjährung entgegen. Der Anspruch auf Beitragsrückstände verjährt nach der hierfür getroffenen besonderen Regelung in zwei Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres der Fälligkeit, wenn aber die Rückstände absichtlich hinterzogen worden sind, in der regelmäßigen Verjährungsfrist von dreißig Jahren (§ 29 Abs. 1 RVO, § 195 BGB). Gegen die Annahme des LSG, daß im vorliegenden Falle die Voraussetzungen der dreißigjährigen Verjährung erfüllt seien, bestehen nach dem festgestellten Sachverhalt keine Bedenken, zumal die Klägerin und die Beigeladene S selbst nichts vorgebracht haben, was gegen eine absichtliche Hinterziehung der noch rückständigen, in den Jahren 1950 bis 1952 fällig gewordenen Beiträge sprechen könnte. Wie das LSG weiter mit Recht angenommen hat, ist die hier umstrittene Aufrechnung auch keiner betragsmäßigen, anteilsmäßigen oder zeitlichen Beschränkung unterworfen. Die Pfändungsschutzvorschriften der §§ 850 ff ZPO, die über § 394 BGB zum Ausschluß der Aufrechnung führen könnten, treten gegenüber der Regelung in der RVO zurück (§ 850 i Abs. 4 ZPO). Aber auch der in § 119 Abs. 1 Nr. 4 RVO verankerte Grundsatz, daß wegen rückständiger Beiträge die Ansprüche des Berechtigten nur in sehr engen Grenzen gepfändet werden dürfen und deshalb auch nur insoweit der Aufrechnung unterliegen, ist für einzelne Zweige der Sozialversicherung eingeschränkt, ja sogar weitgehend aufgehoben. Während § 223 RVO die Aufrechnung gegen Ansprüche auf Krankengeld u.a. wegen geschuldeter Beiträge nur "bis zur Hälfte" gestattet - ähnliches gilt für Ansprüche auf Arbeitslosengeld nach § 93 Abs. 2 AVAVG -, kennt das Recht der gesetzlichen Rentenversicherung (§ 1299 RVO, § 78 AVG) - ebenso wie das Recht der gesetzlichen Unfallversicherung (§ 629 RVO) - eine solche Einschränkung nicht, auch nicht aus Gründen schlechter wirtschaftlicher Verhältnisse des Leistungsberechtigten. Die Beklagte hat sich daher mit ihrem Anspruch gegen die Rentennachzahlung in voller Höhe und gegen den laufenden Rentenanspruch der Beigeladenen von monatlich 30,30 DM mit einer Gegenforderung von monatlich 10,- DM aus Beitragsrückständen aufzurechnen, im Rahmen der ihr vom Gesetz eingeräumten Befugnis gehalten; wie der erkennende Senat am 29. Juni 1967 entschieden hat (SozR Nr. 10 zu § 1299 RVO), stehen sogar einer Aufrechnung über ein Drittel des monatlichen Zahlbetrages hinaus weder das Gesetz noch ein Satz des Gewohnheitsrechts noch allgemein eine ständige Verwaltungsübung entgegen. In dem vorbezeichneten Falle hat der Senat die Aufrechnung mit Beitragsrückständen auch nicht daran scheitern lassen, daß durch die Aufrechnung der Rentenanspruch auf 88,80 DM und damit unter das Existenzminimum gesunken war. Einer solchen Verhaltensweise des Versicherungsträgers steht - darauf beruft sich die Klägerin zu Unrecht - der Zweck der Rentengewährung nicht entgegen. Dieser garantiert nämlich nicht, wie die Klägerin meint, die Sicherung der sozialen Existenz des Versicherten, vielmehr wird diesem nur eine Leistung gewährt, die den Beiträgen nach dem Versicherungsprinzip entspricht. Dies folgt daraus, daß das System der Rentenversicherung Rentenleistungen auch unter der Grenze des Existenzminimums, ja sogar Kleinstrenten in beliebiger Höhe, vorsieht und zuläßt. - Der erkennende Senat hat in der angeführten Entscheidung auch schon zum Ausdruck gebracht, es bedeute keinen Ermessensfehler der Verwaltung, wenn sie einem Rentenbezieher gegenüber, der ohnehin aus öffentlichen Mitteln unterstützt werden müsse, ihre Kassenbelange stärker beachte. In Präzisierung dieses Gedankens hat der 12. Senat des Bundessozialgerichts in einem Urteil vom 1. November 1968 - 12 RJ 342/66 - (SozR Nr. 12 zu § 1299 RVO) die Aufrechnung mit Beitragsrückständen auch dann für zulässig erklärt, wenn der Leistungsberechtigte hilfsbedürftig ist und deshalb Sozialhilfe bezieht. Demgegenüber meint die Klägerin zu Unrecht, die Beklagte sei wegen des in § 1531 RVO normierten und bereits vor der Rentenbewilligung angemeldeten selbständigen Ersatzanspruchs des Trägers der Sozialhilfe gehindert gewesen, wirksam gegenüber der Beigeladenen S aufzurechnen. Es trifft allerdings zu, daß dem Träger der Sozialhilfe nach §§ 1531, 1536 RVO unter gewissen Voraussetzungen ein Anspruch gegen den Träger der Rentenversicherung in der Form eines Zugriffs auf die Rente des unterstützen Hilfsbedürftigen zusteht, jedoch "nur bis zur Höhe des Anspruchs", den der Sozialhilfeempfänger "nach diesem Gesetz" - der RVO - für die Zeit der Unterstützung gegen jenen Versicherungsträger hat. Die Höhe der Rentenleistung ist im zweiten Abschnitt des Vierten Buches der RVO geregelt. Dazu gehören nicht nur die §§ 1253 ff über die Zusammensetzung und die Berechnung der Rente, sondern auch die - gegebenenfalls - zu einer betragsmäßigen Modifizierung der Rentenleistung führende Aufrechnungsvorschrift des § 1299 RVO. Nur in Höhe der - im vorliegenden Fall nicht umstrittenen - Differenz zwischen der zunächst errechneten Rente und der aufzurechnenden Beitragsforderung sichert das Gesetz den Träger der Sozialhilfe durch Gewährung eines Ersatzanspruchs; denn auch nur in dieser Höhe steht dem Leistungsberechtigten ein Anspruch gegen den Träger der Rentenversicherung zu. Bei dieser Betrachtungsweise kann von einer Verletzung des Grundsatzes der Subsidiarität der Sozialhilfe (§ 2 BSHG) keine Rede sein, weil hinsichtlich der Unterstützungsbeträge, die der Beigeladenen S über den durch die Aufrechnung modifizierten Rentenzahlbetrag hinaus zugeflossen sind, eine Leistungspflicht der Beklagten nicht bestanden hat.
Hiernach wird der Aufrechnungsausspruch der Beklagten vom Gesetz gedeckt. Die Revision der Klägerin gegen das in diesem Sinne ergangene Urteil des LSG ist als unbegründet zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 SGG).
Die Kostenentscheidung ergeht in Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen