Leitsatz (redaktionell)
1. Es stellt eine zu enge Auslegung des Begriffs der "wesentlichen Änderung der Verhältnisse" dar, wenn für die Verschlimmerung eine längere Dauer als 6 Monate gefordert wird.
2. Die wesentliche Änderung der (medizinischen) Verhältnisse ist ein unbestimmter Rechtsbegriff.
Normenkette
BVG § 62 Abs. 1 Fassung: 1964-02-21
Tenor
Auf die Revision des Klägers werden das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 14. März 1966, das Urteil des Sozialgerichts Lüneburg vom 30. Oktober 1962, der Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 2. Februar 1962 und der Bescheid des Beklagten vom 20. September 1960 geändert.
Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger für die Zeit vom 1. März bis 30. September 1964 Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 80 v.H. zu gewähren. Die weitergehende Klage wird abgewiesen, die weitergehende Berufung des Klägers zurückgewiesen.
Der Beklagte hat dem Kläger die Hälfte der außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe
Der 1922 geborene Kläger bezog auf Grund des Gerichtsvergleichs vom 8. Juli 1958 wegen "Verlustes des linken Unterschenkels im mittleren Drittel mit Durchblutungsstörungen am Stumpf, Deformierung des rechten Fußes mit hochgradiger Bänderlockerung im oberen Sprunggelenk mit Klumpfußstellung nach Bruch des zweiten und dritten Mittelfußknochens mit umformenden Veränderungen in den Fußwurzelgelenken" Versorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 70 v.H. vom 1. Dezember 1953 an. Mit Anträgen vom 5. März und 19. August 1959 beantragte er wegen Wirbelsäulenbeschwerden, Übergewichtigkeit und Herzmuskelschaden als Schädigungsfolgen eine höhere Versorgungsrente. Die Verwaltung ergänzte die Leidensbezeichnung mit Neufeststellungsbescheid vom 20. September 1960 durch "Fehlhaltung der Lendenwirbelsäule mit Reizung austretender Nervenwurzeln", erhöhte aber die MdE nicht. Der Widerspruch hatte keinen Erfolg (Bescheid vom 2. Februar 1962). Das Sozialgericht (SG) Lüneburg hat mit Urteil vom 30. Oktober 1962 die Klage abgewiesen, weil Übergewichtigkeit und Minderung der Herzleistungsbreite keine Schädigungsfolge seien. Auch die Berufung des Klägers ist ohne Erfolg geblieben (Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 14. März 1966). Da dem Kläger die Fortbewegung ohne Stock und ohne wesentliche Behinderung möglich sei, hat das Gericht das Übergewicht nicht für mittelbar wehrdienstbedingt gehalten. Den Herzmuskelschaden hat es auf beginnende altersübliche Gefäßsklerose zurückgeführt. Auch die Wirbelveränderungen hätten mit dem Versorgungsleiden nicht im Zusammenhang gestanden, soweit sie nicht schon durch den Prozeßvergleich vom 8. Juli 1958 anerkannt worden seien. Die für die Zeit vom 16. März bis 15. September 1964 nachgewiesene Verschlimmerung im Zustand des rechten Fußes bedeute nur eine geringe vorübergehende Veränderung im Gesundheitszustand, die nicht zu einer Neufeststellung führen müsse. Der Auffassung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 27. Juli 1965 (BSG 23, 194) werde insoweit nicht beigetreten, weil Veränderungen nachhaltig sein müssen, so daß relativ kleine Schwankungen noch nicht zu einer Neufeststellung führen könnten.
Mit der zugelassenen Revision rügt der Kläger, das LSG habe § 62 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) verletzt, weil es entgegen BSG 23, 194 eine wesentliche Änderung der Verhältnisse im Gesundheitszustand davon abhängig gemacht habe, daß sie über 6 Monate andauere. Der vorliegende Fall könne nicht anders beurteilt werden, wie eine Leidensverschlimmerung, die 6 Monate und 1 Tag gedauert habe.
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung der vorangegangenen Entscheidungen den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger für die Zeit vom 1. März bis 30. September 1964 Rente nach einer MdE um 80 v.H. zu zahlen,
hilfsweise,
die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Beklagte beantragt,
Die Revision des Klägers als unbegründet - zurückzuweisen.
Die Entscheidung des BSG über die Pflegezulage in BSG 23, 192 stelle es in Übereinstimmung mit § 35 BVG allein auf die Hilflosigkeit ab; die wesentliche Änderung nach § 62 BVG hänge sowohl von der Schwere wie von der Zeitdauer ab. Im Gegensatz zur Hilflosigkeit könne die Schwere des Leidenszustandes nicht genau nach Tagen, Wochen und Monaten abgegrenzt werden.
Die Revision ist durch Zulassung statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -); sie ist auch begründet.
Nach § 62 Abs. 1 Satz 1 BVG idF des 2. Neuordnungsgesetzes (NOG) vom 21. Februar 1964 (BGBl I S. 85) ist der Versorgungsanspruch entsprechend neu festzustellen, wenn in den Verhältnissen, die für die Feststellung des Anspruchs auf Versorgung (§ 9 BVG) maßgebend gewesen sind, eine wesentliche Änderung eingetreten ist.
Das LSG hat unangegriffen festgestellt, daß der Sachverständige Dr. P (Gutachten vom 25. Oktober 1965) für die Zeit vom 16. März bis 15. September 1964 den Zustand des rechten Fußes dahin beurteilt hat, daß es sich verschlimmert hat, so daß der Sachverständige für die angegebene Zeit die MdE auf 80 v.H. schätzte. Diese vom Sachverständigen festgestellte Verschlimmerung hat sich das LSG trotz einiger Bedenken zu eigen gemacht, indem es dargelegt hat: "lediglich für die Zeit vom 16. März bis 15. September 1964 ließ sich eine Verschlimmerung des Zustandes im rechten Fuß nachweisen". Auch die vorübergehende Schätzung auf eine MdE von 80 v.H. hat das LSG übernommen; es hat aber - allein aus rechtlichen Gründen - die Voraussetzung für eine Neufeststellung nicht für erfüllt gehalten. Denn zu einer wesentlichen Änderung hat dem LSG nicht eine Verschlimmerungsdauer von 6 Monaten genügt, sondern es hat eine mehr als 6 Monate anhaltende Veränderung des Gesundheitszustandes verlangt.
Der Senat hat vorliegend die auf Hilflosigkeit und Pflegezulage abgestellte Entscheidung in BSG 23, 192 nicht herangezogen. Er hat aber in dem Urteil vom 17. August 1967 (BSG 27, 126 - 128) eine wesentliche Änderung der Verhältnisse in einem Falle bejaht, in dem sich die MdE für die Dauer von drei Monaten um wenigstens 10 v.H. verändert hat. Nr. 3 der Verwaltungsvorschriften zu § 62 BVG sieht zwar eine wesentliche Änderung der MdE nur dann für gegeben an, wenn der veränderte Gesundheitszustand voraussichtlich mehr als 6 Monate anhalten werde und wenn die Änderung der MdE "wenigstens 10 v.H." betrage. Die Zeitdauer von mehr als 6 Monaten ist erst mit den Verwaltungsvorschriften idF vom 14. August 1961 (Bundesanzeiger Nr. 161 vom 23. August 1961) eingeführt worden. Vorher war verlangt, daß "die Änderung nicht nur vorübergehend ist". Arendts hat in seinem RVG-Kommentar zum Reichsversorgungsgesetz, 2. Auflage 1929 § 57 Anm 5 Abs. 3 Seite 313 ebenfalls eine nicht bloß vorübergehende, unsichere und schwankende, sondern bis zu einem gewissen Grad nachhaltige, dauernde Veränderung gefordert. Hiernach war auch vor dem Inkrafttreten der Verwaltungsvorschriften in der seit 14. August 1961 geltenden Fassung der Begriff der "wesentlichen Änderung der Verhältnisse" zeitlich nicht so genau begrenzt, wie dies jetzt der Fall ist. Die zeitliche Ausdehnung der bisher verlangten "nicht nur vorübergehenden Dauer" einer Änderung der Verhältnisse auf mehr als 6 Monate findet im Gesetz, das nur eine wesentliche Änderung der Verhältnisse fordert, keine ausreichende Grundlage (s. dazu auch BSG 27, 128).
Zwar ist dem LSG einzuräumen, daß die wesentliche Änderung der (medizinischen) Verhältnisse ein unbestimmter Rechtsbegriff ist, daß also das Gericht bei Auslegung und Anwendung dieses Begriffes über eine Rechtsfrage zu entscheiden hat. Dem LSG und dem Beklagten ist auch zuzugeben, daß die bisherige Rechtsprechung vor der Entscheidung des 10. Senats des BSG vom 27. Juli 1965 (BSG 23, 192) die Veränderung im Gesundheitszustand nur dann für wesentlich gehalten hat, wenn sie nicht nur vorübergehende Zeit angedauert hat (RVG 7, 50). Eine fest und sichere Grenze ist unbestimmten Rechtsbegriffen aber nicht eigen. Eine wesentliche Änderung des Gesundheitszustandes ist jedenfalls schon dann nachhaltig, wenn der Zustand, so wie vorliegend, genau sechs Monate angedauert hat. Die Entscheidung kann daher nicht genau auf einen Tag begrenzt werden. Das LSG hat mithin den Begriff der wesentlichen Änderung in § 62 Abs 1 BVG zu eng ausgelegt. Aus diesem Grunde waren das angefochtene Urteil und die vorausgegangenen Entscheidungen abzuändern und der Beklagte zu verurteilen, dem Kläger für die Zeit vom 1. März bis 30. September 1964 Versorgungsrente nach einer MdE um 80 v.H. zu gewähren.
Da der Kläger im Revisionsverfahren, in dem er seinen Antrag auf Rentenerhöhung auf die Zeit vom 1. März bis 30. September 1964 beschränkt hat insoweit obgesiegt hat, während er in den Vorinstanzen unterlegen ist, weil er im ersten und zweiten Rechtszug Rente nach einer MdE um 80 v.H. vom 1. März 1959 an beantragt hatte, erscheint es angemessen, daß ihm die Hälfte der außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits erstattet wird (§ 193 Abs. 1 SGG).
Fundstellen