Leitsatz (amtlich)
1. SGG § 109 enthält eine zwingende Verfahrensvorschrift, die aus rechtsstaatlichen Gründen ergangen ist. Ein Verstoß gegen diese Vorschrift, der das darin niedergelegte Recht erheblich beeinträchtigt, stellt einen wesentlichen Verfahrensmangel iS des SGG § 162 dar.
2. Ist die in das Wissen des ärztlichen Sachverständigen gestellte Beweisfrage für die Entscheidung rechtserheblich, so kann ein Antrag auf SGG § 109 vom Tatsachenrichter nicht deshalb abgelehnt werden, weil das Gutachten die Entscheidung nicht mehr beeinflussen könne.
Normenkette
SGG § 109 Fassung: 1953-09-03, § 162 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts ... vom 6. August 1954 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
Der Kläger beantragte im September 1950 beim Versorgungsamt ... wegen Verletzungen an der Brust und am rechten Fuß sowie wegen eines Nierenleidens Versorgung; er führte diese Schädigungen auf Einwirkungen während des Wehrdienstes im zweiten Weltkrieg zurück. Das Versorgungsamt ... hat mit Bescheid vom 11. Dezember 1951 Schädigungsfolgen nach dem Gesetz über die Versorgung von Kriegs- und Militärdienstbeschädigten sowie ihren Hinterbliebenen vom 24. Juli 1950 - Berliner KVG - (VOBl. für Berlin I S. 318) und nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) verneint und Versorgungsansprüche abgelehnt.
Auf den Einspruch des Klägers erkannte das Landesversorgungsamt ... mit Entscheidung vom 15. November 1952 "geringe Schwellung des rechten Fußes nach Unfall" mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um weniger als 25 v.H. an. Hiergegen hat der Kläger Klage zum Versorgungsgericht ... erhoben, da die MdE durch die Fußverletzung zu gering bewertet und Folgen der Brustverletzung abgelehnt worden seien. Außerdem machte er ein Herzleiden als Wehrdienstbeschädigung geltend. Gegen die Ablehnung des Nierenleidens hat sich der Kläger nicht gewandt.
Das Versorgungsgericht ... hat mit Urteil vom 14. September 1953 die Klage abgewiesen. Hiergegen hat der Kläger rechtzeitig Berufung beim Oberversorgungsgericht ... eingelegt. Mit Schriftsatz vom 18. Dezember 1953 beantragte er die Anhörung des Facharztes für Chirurgie ... auf seine Kosten nach § 104 des Verfahrensgesetzes vom 10. Januar 1922. Mit Verfügung vom 30. April 1954 machte der Senatsvorsitzende des Landessozialgerichts ... auf das die Berufung gemäß § 218 Abs. 6 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) übergegangen ist, die Anhörung dieses Arztes gemäß § 109 SGG von der Vorlage eines Kostenvorschusses durch den Kläger abhängig und gab ihm auf, bis 25. Mai 1954 den Nachweis über die Einzahlung von DM 80,- zu erbringen. Der Vorschuß ging nicht ein. Statt dessen beantragte der Kläger, da er zur Zahlung des Kostenvorschusses nicht imstande sei, "in Abänderung seiner damaligen Zeilen" ... gemäß § 106 Abs. 3 Nr. 5 SGG von Amts wegen als Gutachter zu hören. Das Landessozialgericht hat diesem Antrag nicht entsprochen. In der mündlichen Verhandlung am 6. August 1954 hat der Kläger seinen Antrag vom 18. Dezember 1953 auf Anhörung des ... nach § 109 SGG wiederholt.
Das Landessozialgericht hat mit Urteil vom 6. August 1954 die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Es führte aus, es fehle der Nachweis, daß ein schädigendes Ereignis mit den schweren gesundheitlichen Folgen, wie sie der Kläger behauptet, stattgefunden habe. Die Lazarettmeldung der deutschen Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht, Abwicklungsstelle, Berlin, verzeichne keine Lazarettbehandlung in der fraglichen Zeit (1942). Auch die Lazarettpapiere über die Fußverletzung aus dem Jahre 1943 enthielten keinen Hinweis auf einen Unfall, den der Kläger 1942 erlitten haben will. Es seien auch keinerlei Folgen eines solchen Unfalls am Herzen und an den übrigen Brustorganen festzustellen. Die beantragte Anhörung des Arztes ... nach § 109 SGG sei überflüssig, da das Gutachten das Ergebnis des Rechtsstreits nicht beeinflussen könne. Der benannte Arzt könne nach Lage der Dinge einen Nachweis für den ursächlichen Zusammenhang einer Schädigung mit einem während des Wehrdienstes erlitten Unfall nicht erbringen. Die Revision wurde nicht zugelassen.
Gegen dieses Urteil hat der Kläger durch beim Bundessozialgericht zugelassene Prozeßbevollmächtigte Revision eingelegt und beantragt, das Urteil des 5. Senats des Landessozialgerichts vom 6. August 1954 aufzuheben. Anstelle des weiteren Antrags auf Feststellung von Schädigungsfolgen und Gewährung von Versorgung hat der Bevollmächtigte in der mündlichen Verhandlung vom 14. März 1956 die Zurückverweisung der Sache an das Landessozialgericht zur erneuten Verhandlung und Entscheidung beantragt.
In der Revisionsbegründung vom 29. September und 12. Oktober 1954 rügt der Kläger wesentliche Verfahrensmängel. Das Landessozialgericht habe § 109 SGG verletzt. Der benannte Arzt ... hätte feststellen können, ob und zu welchem Zeitpunkt sich der Kläger die bestrittene Brustverletzung zugezogen habe. Diese Angabe des Zeitpunkts wäre wesentlich gewesen, um die Wahrscheinlichkeit der Beschädigung nachzuweisen. Außerdem habe das Landessozialgericht § 103 SGG verletzt. Es hätte den Kläger nach Zeugen für die behauptete Verletzung fragen müssen. Daß diese Befragung nicht erfolglos gewesen wäre, ergebe sich daraus, daß jetzt ein Zeuge ausfindig gemacht worden sei, der die Behauptungen des Klägers bestätigen könne.
Die Beklagte hat Zurückweisung der Revision beantragt.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Da sie nicht nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG zugelassen ist, findet sie nur statt, wenn sie auf die Verletzung verfahrensrechtlicher Vorschriften (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG) oder auf eine Verletzung des Gesetzes bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs zwischen einer Gesundheitsstörung und einer Schädigung im Sinn des BVG (§ 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG) gestützt wird und der gerügte wesentliche Verfahrensmangel oder die gerügte in § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG genannte Gesetzesverletzung tatsächlich vorliegt (Urteile des BSGer . vom 14.7.1955 - 8 RV 177/54 - und vom 14.10.1955 - 2 RU 16/54 -). Der Kläger hat nur die Verletzung verfahrensrechtlicher Vorschriften gerügt.
Er macht Verletzung des § 109 SGG durch das Landessozialgericht geltend. Nach dieser Vorschrift muß auf Antrag des Versorgungsberechtigten ein bestimmter Arzt gutachtlich gehört werden. Die Anhörung kann davon abhängig gemacht werden, daß der Antragsteller die Kosten vorschießt und vorbehaltlich einer anderen Entscheidung des Gerichts endgültig trägt. Das Gericht kann den Antrag ablehnen, wenn durch die Zulassung die Erledigung des Rechtsstreits verzögert werden würde und der Antrag nach der freien Überzeugung des Gerichts in der Absicht, das Verfahren zu verschleppen oder aus grober Nachlässigkeit nicht früher vorgebracht worden ist.
Das Gericht hat unabhängig von einem Antrag nach § 109 SGG die Pflicht, den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen (§ 103 SGG) und die hierzu nötigen Maßnahmen zu treffen (§ 106 SGG). Daneben gibt aber § 109 SGG den dort genannten Prozeßbeteiligten das Recht, zusätzlich zu den Ermittlungen des Gerichts die gutachtliche Anhörung eines bestimmten Arztes zu verlangen, der ihr besonderes Vertrauen genießt. Das Gericht muß den benannten Arzt als Gutachter im Sinn der §§ 118 Abs. 1 SGG, 402 ff. ZPO hören. Insoweit bedeutet § 109 SGG eine Einschränkung des Gerichts in der freien Auswahl der ärztlichen Sachverständigen. Andererseits enthält § 109 SGG eine zwingende Verfahrensvorschrift, die aus rechtsstaatlichen Gründen ergangen ist. Sie dient, wie die Einführung des § 1681 der Reichsversicherungsordnung (RVO), der Gleichbehandlung der Beteiligten vor Gericht bei der Beschaffung von Beweismitteln (vgl. AN. 1928 S. 112 Nr. 3129). Ein Verstoß gegen die Vorschrift des § 109 SGG, der das darin niedergelegte Recht erheblich beeinträchtigt, stellt einen wesentlichen Verfahrensmangel im Sinne des § 162 SGG dar.
Nach prozeßrechtlichen Grundsätzen, die auch für das sozialgerichtliche Verfahren gelten, sind nur solche Tatsachen beweisbedürftig, die für die Entscheidung erheblich sind (siehe Rosenberg, Lehrbuch des deutschen Zivilprozeßrechts, 6. Auflage, § 112 II 3). Hieraus folgt, daß der Tatsachenrichter einen Antrag nach § 109 SGG außer bei Vorliegen der Voraussetzungen des Abs. 2 a.a.O. auch dann ablehnen kann, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits von einer medizinischen Beurteilung der Verhältnisse nicht abhängt. Dem entsprach auch die ständige Rechtsprechung des früheren Reichsversicherungsamts zu § 1681 RVO (EuM 21 S. 129 Nr. 53) und des früheren Reichsversorgungsgerichts zu § 104 Verfahrensgesetz vom 10. Januar 1922 (Bd. 7 S. 279), die insoweit zur analogen Beurteilung herangezogen werden kann. Der Tatsachenrichter kann die Anhörung eines bestimmten Arztes jedoch nicht ablehnen, wenn er der Ansicht ist, zur Bildung seiner Überzeugung sei ein weiteres ärztliches Gutachten über die gleichen Punkte, zu denen schon von Amts wegen nach §§ 103, 106 SGG Feststellungen getroffen wurden, nicht notwendig, weil es die Auffassung des Gerichts nicht mehr beeinflussen könne. Durch eine solche Auslegung würde der Zweck des den Beteiligten in § 109 SGG zugebilligten Verfahrensrechts auf Beschaffung eines zusätzlichen Beweismittels hinfällig gemacht.
Im vorliegenden Fall hat das Landessozialgericht zwar ausgeführt, daß nach der Mitteilung der deutschen Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht - Abwicklungsstelle Berlin - und den Lazarettpapieren aus dem Jahr 1943 ein schweres schädigendes Ereignis im Jahre 1942, das zu einer erheblichen Brustverletzung geführt haben könnte, nicht wahrscheinlich gemacht sei. Für die Feststellung eines solchen schädigenden Ereignisses wäre die medizinische Beurteilung des gegenwärtigen Gesundheitszustandes des Klägers an sich nicht erforderlich. Wie sich aber aus den weiteren Ausführungen des Landessozialgerichts ergibt, hat dieses seine Überzeugung von dem Nichtvorliegen eines schädigenden Ereignisses nicht nur auf die Mitteilung der genannten deutschen Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen und den Inhalt der Lazarettpapiere von 1943 gestützt. Es hat vielmehr auch die Tatsache, daß in dem versorgungsärztlichen Gutachten aus 1951 und dem Untersuchungsbefund der Versicherungsanstalt Berlin keine Beschädigung der Brustorgane festgestellt ist, zur Begründung seiner ablehnenden Feststellung mit herangezogen. Insofern war auch die Begutachtung des jetzigen Gesundheitszustandes des Klägers für die Entscheidung des Landessozialgerichts erheblich. Bei dieser Sachlage konnte der Vorderrichter aber die Anhörung eines bestimmten Arztes nach § 109 SGG über eben diesen Gesundheitszustand nicht mit der Begründung ablehnen, das Gutachten könne die Entscheidung nicht mehr beeinflussen.
Soweit das Landessozialgericht mit seinen Ausführungen ausdrücken wollte, daß es sich schon auf Grund des versorgungsärztlichen Gutachtens und des Befundes der Versicherungsanstalt ... eine feste Meinung über den jetzigen Gesundheitszustand des Klägers gebildet habe, und daß deshalb ein weiteres Gutachten über den gleichen Gegenstand nicht nötig sei, verstößt diese Auslegung ebenfalls gegen den Zweck des § 109 SGG, dem Kläger neben den amtlichen Ermittlungen das Recht zu geben, die Anhörung eines Arztes seines Vertrauens zu verlangen. Das Landessozialgericht hätte daher die Anhörung des benannten Arztes - die Erheblichkeit der medizinischen Feststellungen vorausgesetzt - nur aus den in Abs. 2 des § 109 SGG aufgeführten Gründen ablehnen können. Seine etwaige Auffassung, der benannte Arzt könne zu keiner anderen Beurteilung des Gesundheitszustandes des Klägers gelangen als das versorgungsärztliche Gutachten und das Gutachten der Versicherungsanstalt ..., enthält eine vorweggenommene Würdigung des noch nicht erstatteten Gutachtens. Dies ist mit dem Zweck des § 109 SGG unvereinbar.
Der Kläger hat seinen ursprünglichen Antrag auf Anhörung des ... vom 18. Dezember 1953 im Verlaufe des gerichtlichen Verfahrens am 4. Juni 1954 zwar zurückgenommen. Seiner gleichzeitigen Anregung, den benannten Arzt nach § 106 SGG zu hören, brauchte das Landessozialgericht nicht stattzugeben. Dafür, daß der Kläger durch Zurücknahme seines ersten Antrags das Recht, einen neuen Antrag nach § 109 SGG zu stellen, verloren habe, gibt das Gesetz keinen Anhalt. Der Antrag auf Anhörung eines bestimmten Arztes kann vielmehr bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung wiederholt gestellt werden (vgl. auch Teutsch: "Die gutachtliche Anhörung eines bestimmten Arztes auf Antrag des Klägers - § 109 SGG" in "Die Sozialgerichtsbarkeit" 1954 S. 101). Das Landessozialgericht mußte sich daher mit dem in der mündlichen Verhandlung erneut gestellten Antrag befassen. Eine solche wiederholte Antragstellung braucht nicht eine Verschleppung des Prozesses zu bedeuten. Im übrigen ermöglicht es die Vorschrift des Abs. 2 des § 109 SGG, Wiederholungen zurückgenommener Anträge zu begegnen. Das Landessozialgericht hat aber im vorliegenden Falle weder Tatsachen festgestellt, die eine Ablehnung des in der mündlichen Verhandlung wiederholten Antrags nach § 109 Abs. 2 SGG stützen könnten, noch hat es den Antrag aus den Gründen des Abs. 2 a.a.O. abgelehnt.
Daß das Landessozialgericht den Antrag des Klägers in der mündlichen Verhandlung nicht den Vorschriften des § 109 SGG entsprechend behandelt hat, stellt einen wesentlichen Mangel seines Verfahrens dar. Die Revision ist deshalb nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG zulässig.
Sie ist auch begründet, da die Verletzung des § 109 SGG die Entscheidung des Landessozialgerichts maßgeblich beeinflußt hat (§ 162 Abs. 2 SGG), und eine Beachtung dieser Vorschrift möglicherweise zu einer anderen Entscheidung geführt hätte.
Das angefochtene Urteil war daher gemäß § 170 Abs. 2 SGG aufzuheben. Das Bundessozialgericht konnte in der Sache nicht selbst entscheiden, weil die notwendige Erholung eines Gutachtens nach § 109 SGG eine neue Tatsachenfeststellung enthält, die dem Revisionsgericht verwehrt ist. Die Sache mußte deshalb zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückverwiesen werden.
Da der Kläger bei der Verhandlung vor dem Landessozialgericht ohnehin neue Tatsachen vorbringen kann, war auf seine weitere Rüge der Verletzung der Aufklärungspflicht durch das Berufungsgericht (§§ 106, 112 SGG) nicht einzugehen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem Endurteil vorbehalten.
Fundstellen