Entscheidungsstichwort (Thema)
Beweiswürdigung. Sachaufklärung
Orientierungssatz
1. Es läßt sich nicht uneingeschränkt sagen, daß eine erst sieben Jahre nach einem bestimmten Ereignis hierüber abgegebene Erklärung einen geringeren Beweiswert habe, als eine nur wenige Wochen und Monate nach dem Ereignis gemachte Aussage.
2. Widersprechen die Erklärungen eines Zeugen einer eidesstattlichen Versicherung eines anderen Zeugen, so hat das Gericht zur Aufklärung des Sachverhalts beide Zeugen vorzuladen und zu vernehmen.
Normenkette
SGG §§ 103, 128
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 13.04.1956) |
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Celle vom 13. April 1956 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Der Kläger, der als Maurer bei der Norddeutschen Woll- und Kammgarn-Industrie Akt.Ges. in Delmenhorst beschäftigt war, wurde am 5. Juli 1948 bei Stemmarbeiten von einem abspringenden Stückchen Mörtel am rechten Auge getroffen. Nach kurzer Unterbrechung setzte er seine Arbeit fort und arbeitete auch in den nächsten zwei Wochen weiter. Am 20. Juli 1948 stellte der Facharzt für Augenkrankheiten Dr. S... eine frische Wetzhautablösung am rechten Auge des Klägers fest. Nach einer in der Universitäts-Augenklinik Göttingen am 10. August 1948 vorgenommenen Operation lag die Netzhaut zunächst an; dann löste sie sich wieder. Infolge dieser Gesundheitsstörung ist der Kläger auf dem rechten Auge praktisch blind. Er führt die Schädigung auf das Unfallereignis vom 5. Juli 1948 zurück.
Im Feststellungsverfahren ließ die Beklagte den Maurer H... durch die Stadtverwaltung Delmenhorst als Zeugen vernehmen und holte Gutachten von der Universitäts-Augenklinik Göttingen und von Prof. Dr... N... ein. Nach der Aussage des Zeugen Heuermann waren unmittelbar nach dem Unfallereignis keine Veränderungen am Auge des Klägers festzustellen. In dem Gutachten der Universitäts-Augenklinik wurde ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Netzhautablösung und dem Unfall als möglich bezeichnet. Prof. Dr... N... verneinte dagegen die Frage des ursächlichen Zusammenhangs mit folgender Begründung: Eine Prellung des Augapfels könne zu einer Netzhautablösung nur führen, wenn die Kontusion erheblich gewesen sei. Dies treffe jedoch - wie sich aus dem Verhalten des Klägers nach dem Unfall und aus den Wahrnehmungen des Zeugen H... ergebe - nicht zu.
Gestützt auch die beiden angeführten Gutachten, lehnte die Beklagte den Entschädigungsanspruch des Klägers durch Bescheid vom 9. August 1949 ab.
Die vom Kläger hiergegen eingelegte Berufung hat das Oberversicherungsamt (OVA.) Oldenburg durch Urteil vom 22. November 1949 zurückgewichen, nachdem sich der von ihr gehörte Gerichtsarzt Dr. T... dem Gutachten des Prof. Dr.... N... angeschlossen hatte.
Dieses Urteil hat der Kläger form- und fristgerecht mit der weiteren Berufung zum Überverwaltungsgericht Lüneburg angegriffen. Nach dem Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ist das Verfahren auf das Landessozialgericht (LSG.) Celle übergegangen (§ 215 Abs. 8 SGG). Dieses Gericht hat ein Gutachten von der Augenklinik des Universitätskrankenhauses Hamburg-Eppendorf eingeholt. Darin wird unter Hinweis vor allem auf die Aussage des Zeugen H... und auf das Fehlen von Brückensymptomen in den ersten zwei Wochen nach dem Unfall ausgeführt: Es sei nicht hinreichend wahrscheinlich, daß die Netzhautablösung mit dem Unfallereignis ursächlich zusammenhänge. Vielmehr sei wahrscheinlich, daß - ebenso wie dies jetzt am linken Auge des Klägers festzustellen sei - auch am rechten Auge eine erhebliche Disposition zur Netzhautablösung bestanden habe; diese Disposition habe ein absolutes Übergewicht gegenüber dem relativ geringen äußeren Ereignis.
Nachdem der Kläger von diesem Gutachten Kenntnis erlangt hatte, hat er dem LSG. eine "eidesstattliche Erklärung" des Maurers H... vom 4. Februar 1955 vorgelegt. Danach war etwa zehn Minuten nach dem Unfall des Klägers "an der Rötung des Auges und dem Tränenfluß festzustellen, daß das Auge von einem Fremdkörper heftig getroffen war".
Das LSG. hat die Berufung des Klägers durch Urteil vom 13. April 1956 zurückgewiesen. Es hat seine Entscheidung im wesentlichen wie folgt begründet: Die Netzhautablösung wäre nur dann auf das Ereignis vom 5. Juli 1948 zurückzuführen, wenn das Auge erheblich getroffen worden wäre. Dies sei jedoch nicht wahrscheinlich, weil der Kläger weitergearbeitet und sein Auge nach der Bekundung des Zeugen H... keine Veränderungen habe erkennen lassen. Die Erklärung des Maurers H... beweise nicht das Gegenteil; denn der kurze Zeit nach dem Unfall gemachten Aussage des Zeugen H... komme gegenüber der erst sieben Jahre später abgegebenen Erklärung H. größere Glaubwürdigkeit zu. Außerdem fehle es für die ersten 13 Tage nach dem Unfall an Brückensymptomen für eine schwere Prellung oder Quetschung des Auges.
Das LSG. hat die Revision nicht zugelassen.
Das Urteil ist dem Kläger am 27. April 1956 zugestellt worden. Er hat hiergegen am 16. Mai 1956 Revision eingelegt und sie gleichzeitig wie folgt begründet: Für die medizinische Beurteilung des Falles seien die Wahrnehmungen der beiden Arbeitskameraden des Klägers, H... und H... von entscheidender Bedeutung. Deshalb hätte das LSG. sie als Zeugen gerichtlich vernehmen müssen. Keinesfalls hätte es die Erklärung H... im Hinblick auf die bis zu ihrer Niederschrift vergangenen sieben Jahre als nicht beweiskräftig bezeichnen dürfen. Schließlich habe das LSG. auch den Bericht des Dr. S... vom 27. April 1951 unzulänglich gewürdigt. Aus ihm ergebe sich, daß der Kläger bereits am 16. Juli 1948, nicht erst - wovon das angefochtene Urteil ausgehe - am 20. Juli 1948, den Arzt aufgesucht habe und daß damals noch eine geringe Schwellung des Oberlides bestanden habe. Das LSG. hätte auch ermitteln müssen, wie groß der Fremdkörper gewesen sei, der das Auge des Klägers getroffen habe. In der von ihr beanstandeten Verfahrensweise des LSG. sieht die Revision eine Verletzung der Pflicht zur Sachaufklärung (§ 103 SGG) und eine Überschreitung der Grenzen des Rechts der freien Beweiswürdigung (§ 128 Abs. 1 SGG).
Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt in erster Linie,
die Revision als unzulässig zu verwerfen.
Hilfsweise schließt sie sich dem Antrag des Klägers an.
Sie bezieht sich auf die Begründung des angefochtenen Urteils und vertritt die Auffassung, daß die Verfahrensweise des Vorderrichters nicht zu beanstanden sei.
II
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Sie ist auch statthaft, da das Verfahren vor dem LSG. wesentliche Mängel aufweist und der Kläger diese gerügt hat (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG).
Die Begründung, mit der das LSG. der Aussage des Maurers H... den Vorzug gegeben hat vor der schriftlichen Erklärung des Maurers H... wird von der Revision mit Recht beanstandet. Es läßt sich nicht uneingeschränkt sagen, daß eine erst sieben Jahre nach einem bestimmten Ereignis hierüber abgegebene Erklärung einen geringeren Beweiswert habe, als eine nur wenige Wochen und Monate nach dem Ereignis gemachte Aussage. Gewiß beeinträchtigt der Ablauf einer längeren Zeit im allgemeinen das Erinnerungsvermögen. Andererseits ist es keine Seltenheit, daß Zeugen sich noch nach vielen Jahren an Einzelheiten von Vorgängen erinnern können, die für sie von besonderer Bedeutung waren oder für die gewisse Gedächtnisstützen vorhanden sind. Deshalb ist es schon bedenklich, den objektiven Beweiswert von Zeugenaussagen allein nach dem zeitlichen Abstand von dem Ereignis, auf das sie sich beziehen, zu bemessen. Erst recht läßt sich nicht die subjektive Glaubwürdigkeit einer Aussage nach diesem Gesichtspunkt beurteilen. Das LSG. hätte die Glaubwürdigkeit der Erklärung H... nicht negativ bewerten dürfen, ohne den Urheber der Erklärung selbst gehört zu haben. Dies gilt um so mehr, als diese Erklärung weitgehend gestützt wird durch den Bericht des Dr. S... vom 27. April 1951, nach dem noch am 16. Juli 1948, also elf Tage nach dem Unfall, eine geringe Schwellung des Oberlides bestand. Wenn im Widerspruch zu diesem Bericht die vom LSG. gehörten Gutachter des Universitätskrankenhauses Eppendorf davon ausgegangen sind, daß sichtbare Verletzungsfolgen nicht festzustellen gewesen seien, so hätte jener Bericht dem LSG. Veranlassung geben müssen, den Widerspruch aufzuklären. Dadurch, daß das LSG. den Bericht des Dr. S... in dem angeführten Punkt nicht gewürdigt hat und bei der Würdigung der Erklärung des Maurers Hü... von einer mit den Erfahrungssätzen nicht zu vereinbarenden Verallgemeinerung ausgegangen ist, hat es § 128 Abs. 1 SGG verletzt.
Ferner ist der erkennende Senat mit der Revision der Auffassung, daß es unter den gegebenen Umständen für den Vorderrichter geboten gewesen wäre, H... und Hü... als Zeugen gerichtlich zu vernehmen. Die medizinische Beurteilung des vorliegenden Falles hängt nach der übereinstimmenden Ansicht der Sachverständigen - und auch des Vorderrichters - entscheidend davon ab, ob die Gewalteinwirkung auf das rechte Auge des Klägers erheblich war. Dies läßt sich vor allem nach den Spuren beurteilen, welche die Einwirkung des Mörtelstückchens hinterlassen hatte. Da insoweit die Aussage des vor der Stadtverwaltung vernommenen Zeugen Heuermann und die eidesstattliche Erklärung Hü... sich weitgehend widersprechen, wäre zur Erforschung des Sachverhalts (§ 103 SGG) eine Vernehmung der beiden Zeugen vor dem Berufungsgericht unumgänglich gewesen.
Die hiernach zulässige Revision ist auch begründet, weil sich nicht ausschließen läßt, daß die erforderliche weitere Sachaufklärung zu einer für den Kläger günstigeren Entscheidung führt.
Somit war das angefochtene Urteil mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache, da noch weitere Ermittlungen anzustellen sind, zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen. Dieses wird auch zu erwägen haben, ob es sich empfiehlt, zur Vernehmung der Zeugen H... und Hü... einen augenärztlichen Sachverständigen hinzuzuziehen und ihm Gelegenheit zu geben, zweckentsprechende Fragen an die Zeugen zu stellen. Sollte die Vernehmung der erwähnten Zeugen, gegebenenfalls auch eine erneute Anhörung des Dr. S... zu keinem eindeutigen Beweisergebnis führen und eine nochmalige Anhörung eines Sachverständigen sich als notwendig erweisen, so wird das LSG. den von ihm als festgestellt angesehenen Sachverhalt genau zu bezeichnen und damit die Grundlagen der künftigen Begutachtung festzulegen haben.
Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens bleibt dem abschließenden Urteil des LSG. vorbehalten.
Fundstellen