Leitsatz (amtlich)
Der nach RVO § 589 Abs 2 S 1 vermutete Ursachenzusammenhang zwischen einer entschädigungspflichtigen Silikose (mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um mindestens 50 %) und dem Tod des Versicherten liegt dann iS des RVO § 589 Abs 2 S 2 "offenkundig" nicht vor, wenn die Silikose mit einer jeden ernsthaften Zweifel ausschließenden Wahrscheinlichkeit nicht rechtlich wesentliche Ursache des Todes des Versicherten ist.
Normenkette
RVO § 589 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 14. Dezember 1965 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die Klägerin begehrt von der Beklagten anstelle der ihr zuerkannten einmaligen Witwenbeihilfe Hinterbliebenenrente mit der Behauptung, der Tod ihres 1899 geborenen und am 2. Oktober 1963 verstorbenen Ehemannes, des früheren Bergmannes A B, sei die Folge der als Berufskrankheit (BK) anerkannt gewesenen Silikose.
Die Beklagte gewährte dem Ehemann der Klägerin durch Bescheid vom 9. Mai 1951 Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung wegen einer schweren Silikose mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 % ab 15. November 1950. Diese Rente wurde mehrmals erhöht, zuletzt ab März 1962 nach einer MdE von 100 v.H.
Am 1. Oktober 1963 wurde der Ehemann der Klägerin wegen plötzlich auftretender heftiger Schmerzen im Bauchraum in das Kreiskrankenhaus D eingeliefert und noch am gleichen Tage operiert. Durch die Operation wurde ein stenosierendes Dickdarmkarzinom aufgedeckt, oberhalb dessen die Dickdarmwand geplatzt war. Durch dieses Krankheitsgeschehen hatte sich reichlich Darminhalt in die freie Bauchhöhle entleert und eine diffuse Peritonitis mit toxischer Kreislaufschädigung hervorgerufen. Nach dem Bericht der Krankenhausärzte hatte sich bereits bei der Krankenhausaufnahme eine so starke Bauchfellentzündung gezeigt, "daß diese mit ihren Folgen (toxische Kreislaufschädigung) die Todesursache darstellt". Die Silikose habe mit dem stenosierenden Dickdarmkrebs, der zur Perforation und Bauchfellentzündung führte, "nichts zu tun" gehabt.
Der Dozent Dr. H, der am 3. Oktober 1963 eine Obduktion durchführte, stellte unabhängig von dem Karzinom und dessen Folgen eine Silikose III. Grades fest und äußerte sich dahin, daß der pathologisch-anatomische und der zu Lebzeiten erhobene klinische Untersuchungsbefund übereinstimmten; die zu Lebzeiten wegen der BK anerkannte MdE sei gerechtfertigt gewesen. Auf Grund dieser Erkrankung habe man die Lebenserwartung des Ehemannes der Klägerin sicherlich nicht mehr sehr hoch (wahrscheinlich unter einem Jahr) einschätzen können. Es sei schwer zu entscheiden, ob jemand, der nicht eine solche Staublunge gehabt hätte, den operativen Eingriff überstanden haben würde. Ohne Zweifel habe sich die BK ungünstig auf den gesamten Krankheitsverlauf ausgewirkt. Zu berücksichtigen sei aber, daß zum Zeitpunkt der Operation offensichtlich bereits eine ausgedehnte Peritonitis bestanden habe. Er sei der Auffassung, daß der Versicherte auch ohne die BK an den Komplikationen des Dickdarmkrebses "jetzt" verstorben wäre. Das Krebsleiden als solches und seine mittelbare Folge, nämlich die Peritonitis, seien durch die Silikose nicht beeinflußt worden.
Der Vertragsarzt der Beklagten, Dr. W, und der staatliche Gewerbearzt Dr. T äußerten sich dahin, der Tod des Ehemannes der Klägerin könne nicht als Folge der anerkannten BK angesehen werden, weil nichts dafür spräche, daß der Ehemann ohne Silikose die schwere Bauchfellentzündung überlebt haben würde.
Daraufhin lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 6. März 1964 den Antrag der Klägerin auf Hinterbliebenenrente ab, gewährte jedoch eine einmalige Witwenbeihilfe. Zur Begründung führte sie aus, ein ursächlicher, unmittelbarer oder mittelbarer Zusammenhang zwischen den Folgen des Unfalls vom 21. Dezember 1915 und der Silikose einerseits und dem Tode andererseits habe nicht vorgelegen. Dem Unfall oder der BK könne auch keine richtungweisende Verschlimmerung oder lebensverkürzende Beeinflussung des zum Tode führenden Leidens eingeräumt werden. Auch ohne die Folgen des Unfalls vom 21. Dezember 1915 und der BK wäre der Tod zum gleichen Zeitpunkt oder aber nur unwesentlich später eingetreten.
Hiergegen hat die Klägerin Klage erhoben. Im Verhandlungstermin vor dem Sozialgericht (SG) hat der Dozent Dr. Hagemann sein Obduktionsgutachten dahin ergänzt, daß die BK die Aussicht des Versicherten, die durch den Dickdarmkrebs hervorgerufene Peritonitis zu überstehen, herabgemindert habe. Das Krebsleiden als solches und seine mittelbare Folge (die Peritonitis) seien durch die Silikose nicht beeinflußt worden. Das SG hat daraufhin der Klage stattgegeben.
Gegen dieses Urteil hat die Beklagte Berufung eingelegt. Das Landessozialgericht (LSG) hat von dem Facharzt für innere Medizin Prof. Dr. P in Essen ein Gutachten eingeholt. Dieser ist zu dem Ergebnis gekommen, es müsse eine entfernte Möglichkeit, daß die Silikose mit ihren Auswirkungen beim konkreten Todesereignis im medizinischen Sinne mindestens erheblich beteiligt gewesen sei, eingeräumt werden. Eine solche entfernte Möglichkeit sei auch dafür einzuräumen, daß der Ehemann der Klägerin den Darmkrebs mit seinen Komplikationen länger als ein Jahr hätte überleben können, wenn keine schwere Silikose vorhanden gewesen wäre. Diese entfernte Möglichkeit stehe aber in Anbetracht der Schwere des unversicherten Leidens als ganz überragender Todesursache in einem Verhältnis von 5:95. Eine solch geringe Überlebenschance könne nicht als medizinisch ernstlich ins Gewicht fallend angesehen werden. Das LSG hat darauf hin das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Es hat dazu ausgeführt: Nach den tatsächlichen Gegebenheiten, wie sie sich nach den vorliegenden Befunden und Stellungnahmen von Dr. B, Dr. K, Dr. H, Dr. W und Prof. Dr. P ergäben, sei entgegen der vom SG vertretenen Ansicht "offenkundig" i.S. des § 589 Abs. 2 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO), daß der Tod des Ehemannes der Klägerin mit der anerkannten BK nicht in ursächlichem Zusammenhang stehe. Ein solcher Ursachenzusammenhang liege dann nicht vor, wenn offenkundig sei, daß die BK weder den Tod des Versicherten im medizinischen Sinn mindestens in einem erheblichen Maße mitverursacht habe noch daß das Leben des Versicherten infolge der BK um mindestens ein Jahr verkürzt worden sei. Nach den ärztlichen Gutachten könne die BK gegenüber dem ganz überragend silikoseunabhängig erfolgten Tod nicht als medizinisch und rechtlich ins Gewicht fallender Umstand angesehen werden. Das Nichtbestehen des Kausalzusammenhangs sei damit offenkundig.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Mit der am 24. Oktober 1966 eingelegten Revision beantragt die Klägerin,
das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 14. Dezember 1965 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Detmold vom 30. Juli 1964 zurückzuweisen.
Sie rügt, das LSG habe § 589 Abs. 2 RVO verletzt; es habe den Begriff der "Offenkundigkeit" verkannt. Übereinstimmend sei von den im ersten und zweiten Rechtszug gehörten Ärzten festgestellt worden, daß u.a. für den Tod ihres Ehemannes eine durch Dickdarmkrebs hervorgerufene Peritonitis ursächlich gewesen sei. Von keinem Gutachter habe jedoch ausgeschlossen werden können, daß der Tod und die BK nicht in ursächlichem Zusammenhang ständen, insbesondere sei der Sachverständige Dr. H der Ansicht, daß ihr Ehemann die Operation vom 1. Oktober 1963 möglicherweise glücklich überstanden haben würde, wenn nicht schon die schwere Beeinträchtigung der Herz-, Kreislauf- und Atemfunktion durch die Staublungenerkrankung vorgelegen hätte. Über den Grad der Kausalität der BK für den Tod des Ehemanns der Klägerin seien sich die Sachverständigen nicht einig; zum Teil werde eine Überlebenschance und damit die Kausalität der BK mit 5 % angenommen. Für die Anwendung des § 589 Abs. 2 Satz 2 RVO genüge jeder geringe Zweifel um auszuschließen, daß der Tod ihres Ehemannes nicht mit seiner BK in ursächlichem Zusammenhang gestanden habe. Da nach den ärztlichen Gutachten nicht absolut feststehe, daß der Tod ihres Ehemannes offenkundig nicht auch durch die Silikose verursacht sei, habe sie Anspruch auf Witwenrente.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
II
Da der Klägerin nach § 67 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren war, ist die formgerecht eingelegte Revision auch als fristgerecht eingelegt und somit als zulässig anzusehen; sie ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG statthaft, da das LSG sie zugelassen hat. Sie ist auch begründet.
Der Anspruch der Klägerin auf Gewährung der Witwenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung hängt davon ab, ob die entschädigungspflichtige Silikose des Versicherten mit einer MdE von 100 % rechtlich wesentliche Ursache des Todes des Versicherten ist. Nach § 589 Abs. 2 Satz 1 RVO wird das Vorliegen dieses Kausalzusammenhangs vermutet. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift liegen vor, weil die Erwerbsfähigkeit des Versicherten durch die Folgen seiner entschädigungspflichtigen Silikose mit einer M.d.E. von mindestens 50 % gemindert war. Diese Vermutung ist allerdings nach Satz 2 des § 589 Abs. 2 aaO als widerlegt anzusehen, wenn "offenkundig" ist, daß die Silikose nicht rechtlich wesentliche Ursache des Todes des Versicherten ist.
§ 589 Abs. 2 aaO ist nach Art. 4 § 2 Abs. 1 des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung vom 30. April 1963 (BGBl I, 241) - UVNG - auch auf Fälle anzuwenden, in denen, wie hier, der Versicherte bereits vor dem 1. Juli 1963, dem Tag des Inkrafttretens dieses Gesetzes, an einer entschädigungspflichtigen Silikose mit einer MdE von mindestens 50 % gelitten hat, wenn der Tod des Versicherten nach dem 30. Juni 1963 eingetreten ist (BSG 24, 88 = SozR RVO § 589 Nr. 1). Das ist der Fall; denn der Versicherte ist am 2. Oktober 1963 gestorben.
In § 589 Abs. 2 Satz 1 RVO sind die Berufskrankheiten der Nr. 30, 31, 34 und 35 der Anlage zur Dritten Verordnung über Ausdehnung der Unfallversicherung auf Berufskrankheiten (BKVO) vom 16. Dezember 1936 (RGBl I, 1117) in der Fassung der Anlage zur Sechsten BKVO vom 28. April 1961 (BGBl I, 505) begünstigt. Im vorliegenden Fall richtet sich die Entschädigung der Silikose des Versicherten zwar nicht nach dieser Vorschrift, sondern nach Nr. 17a der Anlage zur Dritten BKVO idF der Anlage zur Vierten BKVO vom 29. Januar 1943 (RGBl I, 85), doch muß auf diesen Fall § 589 Abs. 2 RVO angewandt werden, weil es für die entscheidende Frage der Kausalität zwischen Silikose und Tod des Versicherten gleichgültig ist, ob sich die Entschädigungspflicht der Silikose mit einer MdE von mindestens 50 % nach der einen oder der anderen Vorschrift richtet.
Entscheidend kommt es also darauf an, ob die Silikose den Tod des Versicherten "offenkundig" nicht rechtlich wesentlich verursacht hat. Das bedeutet nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zur Frage der Kausalität bei der gemeinsamen Verursachung des Todes durch eine Berufskrankheit und ein anderes Leiden, daß die Silikose den Tod "offenkundig" nicht in medizinisch erheblichem Maße mitverursacht oder zumindest diesen "offenkundig" nicht um mehr als ein Jahr beschleunigt hat.
Der Begriff "offenkundig" hat in § 589 Abs. 2 Satz 2 RVO nicht die Bedeutung wie etwa in § 291 der Zivilprozeßordnung. Denn die Frage des Bestehens oder Nichtbestehens des Kausalzusammenhangs zwischen einer Silikose und dem Tod kann kaum je ohne Hinzuziehung medizinischer Sachverständiger entschieden werden, so daß es sich nicht um eine allgemeinkundige oder gerichtskundige Tatsache handeln kann. Zudem ergibt sich aus § 589 Abs. 2 Satz 3 RVO, daß der Gesetzgeber Beweiserhebungen über diese Frage für durchaus möglich hält; denn andernfalls hätte er nicht geglaubt, Leichenausgrabungen zu Beweiszwecken in diesen Fällen ausdrücklich ausschließen zu müssen. Es kann sich in § 589 Abs. 2 Satz 2 RVO also nur darum handeln, die Anforderungen an die für die Bildung der Überzeugung des Richters von dem Bestehen oder Nichtbestehen der Kausalität normalerweise genügende Wahrscheinlichkeit zu verstärken. Da bei der Bildung der Überzeugung von dem Bestehen oder Nichtbestehen des Kausalzusammenhangs eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit nicht erreichbar ist, ist der Senat zu der Auffassung gekommen, daß die Voraussetzungen des Begriffs "offenkundig" i.S. dieser Vorschrift dann vorliegen, wenn die Silikose mit einer jeden ernsthaften Zweifel ausschließenden Wahrscheinlichkeit den Tod des Versicherten in medizinischem Sinne nicht erheblich mitverursacht und ihn mit einer jeden ernsthaften Zweifel ausschließenden Wahrscheinlichkeit nicht um wenigstens ein Jahr beschleunigt hat. Es bestehen auch keine Bedenken, wenn das Gericht aus dem Umstand, daß nur eine ganz entfernte, d.h. eine lediglich theoretische Möglichkeit besteht, daß die Silikose den Tod des Versicherten in dem o.a. Sinne verursacht hat, annimmt, daß der Tod des Versicherten ohne jeden ernsthaften Zweifel nicht durch die Silikose in dem o.a. Sinne verursacht ist. Die Vorschrift des § 589 Abs. 2 RVO hat den Zweck, daß in den Fällen, in welchen die Silikose mit einer MdE von mindestens 50 % und ein anderes Leiden vorgelegen haben und die Silikose den Tod des Versicherten mittelbar oder unmittelbar rechtlich wesentlich verursacht haben könnte, die Hinterbliebenenrente grundsätzlich gewährt werden soll. Daher kann nur in besonders gelagerten Ausnahmefällen insoweit von der Gewährung der Hinterbliebenenrente abgesehen werden. Im vorliegenden Fall wird es sich also darum handeln unter Anwendung der o.a. Grundsätze zu klären, ob ein solcher Ausnahmefall gegeben ist.
Wenn auch das Landessozialgericht im wesentlichen die maßgebenden Grundsätze richtig erkannt hat, so läßt sich doch nicht mit genügender Sicherheit erkennen, ob es diese Grundsätze auf den vorliegenden Fall auch zutreffend angewandt hat. Der Umstand, daß das Karzinom mit seinen Folgen die überragende Bedeutung für den Tod des Versicherten hat, kann jedenfalls nicht als ausschlaggebend angesehen werden. Denn dies allein würde ja lediglich dazu führen, den rechtlich wesentlichen Kausalzusammenhang zwischen Silikose und Tod des Versicherten zu verneinen. Für die Frage, ob dies "offenkundig" ist, bedarf es aber eines weitergehenden Grundes, wie sich aus dem oben Ausgeführten ergibt. Davon abgesehen ist es auch zweifelhaft, ob man aus dem Umstand, daß, statistisch gesehen, Kranke im Alter des Versicherten, die mit einem solchen Karzinom und seinen Folgen auch ohne Silikose nur in etwa 5 % der Fälle überleben, schließen kann, daß für den konkreten Versicherten diese Möglichkeit des Überlebens nur theoretischer Natur gewesen sei. Entscheidend kommt es vielmehr auf die Verhältnisse bei dem konkreten Versicherten an. Wenn auch statistische Angaben dieser Art ein wertvolles Hilfsmittel für die zu treffende Entscheidung sein mögen, so sind sie doch nicht geeignet, die ausschlaggebende Grundlage dieser Entscheidung zu bilden. Die Ansichten der Ärzte, die den Versicherten behandelt oder die die Leiche obduziert haben, werden vielmehr die größere Bedeutung für die zu treffende Entscheidung haben.
Da die Feststellungen des Berufungsgerichts nicht ausreichen, um die Entscheidung in der Sache selbst durch den Senat selbst treffen zu können, wird der Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen
Haufe-Index 2374836 |
BSGE, 38 |