Leitsatz (amtlich)

Ein Fachschulbesuch stellt eine Berufsbildung dar und begründet einen Anspruch auf Waisenrente auch dann, wenn er als Fortbildungsmaßnahme vom Arbeitsamt gefördert und Unterhaltsgeld gezahlt wird.

 

Normenkette

RVO § 1267 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1957-02-23; AVG § 44 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1957-02-23; AFG § 44 Fassung: 1969-06-25

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 13. Februar 1974 aufgehoben.

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 8. Oktober 1973 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß die Waisenrente vom 1. September 1972 an zu zahlen ist.

Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

Der am 21. März 1951 geborene Kläger hatte bis zum Ende des Monats der Vollendung seines 18. Lebensjahres Halbwaisenrente aus der Versicherung seines im November 1961 verstorbenen Vaters bezogen. Danach war er als kaufmännischer Angestellter tätig. Seit dem 14. August 1972 besuchte er die staatlich anerkannte Wirtschaftsfachschule in D (W-Akademie), um staatlich geprüfter Betriebswirt zu werden. Für diese 4-semestrige Ausbildung zahlte ihm das Arbeitsamt nach § 44 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) Unterhaltsgeld. Es wurde nach seinem letzten Arbeitseinkommen berechnet und betrug aufgrund des danach maßgebenden Einheitslohnes zunächst 148,80 DM wöchentlich und steigerte sich nach und nach auf 174,60 DM wöchentlich. Ferner zahlte die Arbeitsverwaltung einmalig für Lehrgangsgebühren, Lernmittel und Prüfungsgebühren einen Betrag von 3160,- DM und als Pauschalabgeltung für Fahrtkosten einen Betrag von 1020,- DM.

Mit Rücksicht auf diese Ausbildung hatte die Mutter des Klägers im Juni 1972 die Wiedergewährung von Halbwaisenrente beantragt. Durch Bescheid vom 13. Oktober 1972 lehnte die Beklagte diesen Antrag ab, weil der Kläger während des Besuchs der Wirtschaftsfachschule Unterhaltsgeld vom Arbeitsamt D erhalte; das Unterhaltsgeld werde in Höhe von mindestens 130 % des Arbeitslosengeldes gewährt und stehe damit vollem Arbeitsentgelt gleich, womit die Voraussetzungen für eine Fachschulausbildung i.S. des § 44 Satz 1 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) nicht erfüllt seien.

Das Sozialgericht (SG) Münster hat die Beklagte durch Urteil vom 8. Oktober 1973 verurteilt, Waisenrente aus der Versicherung des am 15. November 1961 verstorbenen Vaters des Klägers zu zahlen und darüber einen Bescheid zu erteilen. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen durch Urteil vom 13. Februar 1974 das angefochtene Urteil abgeändert und die Klage abgewiesen. Der allgemeine sozialpolitische Sinn und Zweck der Waisenrente als Unterhaltsersatz sowie der Vergleich mit den anderen Alternativen in § 44 Satz 2 AVG (freiwilliges soziales Jahr und Erwerbsunfähigkeit wegen Gebrechen) machten deutlich, daß die Regelungen über einen verlängerten Anspruch auf Waisenrente diejenigen Fälle erfassen solle, in denen ein Kind nach Vollendung des 18. Lebensjahres noch auf elterliche Unterhaltsleistungen angewiesen sei, weil es sich nicht selbst unterhalten könne. Eine Schul- oder Berufsausbildung vermöge deshalb nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) einen Anspruch auf verlängerte Waisenrente nur zu begründen, wenn das Kind infolge dieser Ausbildung daran gehindert sei, die Mittel für den vollen Lebensunterhalt selbst zu erwerben. Dem Kläger stehe aber während seiner Ausbildung der volle Lebensunterhalt in Form des ihm gewährten Unterhaltsgeldes zur Verfügung.

Gegen das ihm am 8. März 1974 zugestellte Urteil hat der Kläger nach Bewilligung des Armenrechts durch Beschluß vom 4. November 1974 am 10. Dezember 1974 unter gleichzeitiger Beantragung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand die vom LSG zugelassene Revision eingelegt und diese anschließend am 10. Januar 1975 begründet. Er beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Münster vom 8. Oktober 1973 mit der Maßgabe zurückzuweisen, daß die Waisenrente vom 1. August 1972 an zu zahlen ist.

Gerügt wird unrichtige Anwendung des § 44 AVG.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen,

da das angefochtene Urteil richtig sei.

 

Entscheidungsgründe

Zunächst war dem Kläger nach § 67 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) die begehrte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu bewilligen. Er war ohne Verschulden verhindert gewesen, die Revisionseinlegungsfrist des § 164 Abs. 1 SGG aF einzuhalten, weil ihm das innerhalb dieser Frist beantragte Armenrecht erst nach deren Ablauf bewilligt worden ist. Die Revision ist alsdann rechtzeitig begründet worden.

Die Revision ist auch begründet. Der Auffassung des LSG kann nicht zugestimmt werden.

Hätte der Kläger die staatlich anerkannte Wirtschaftsfachschule in D auf eigene Kosten oder auf Kosten seiner Mutter besucht, wäre nicht zweifelhaft, daß eine Berufsausbildung i.S. des § 44 AVG vorläge. Die Beklagte hätte alsdann die Waisenrente unstreitig längstens bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres des Klägers für die Dauer der Berufsausbildung zu zahlen, da die übrigen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die begehrte Leistung erfüllt sind.

Nicht anders wäre die Rechtslage gewesen, wenn der Kläger für die Dauer des Studiums eine Ausbildungsförderung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) vom 26. August 1971 (BGBl I 1409) erhalten hätte. Allerdings wäre alsdann die etwaige Waisenrente bei der Errechnung des ihm zu gewährenden Förderungsbetrages berücksichtigt worden (vgl. § 21 Abs. 3 BAföG).

Entgegen den Auffassungen des LSG und der Beklagten kann sich an der Rechtsnatur des Studiums an der Wirtschaftsfachschule nichts dadurch ändern, daß der Kläger von der Bundesanstalt für Arbeit (BA) nach Maßgabe der §§ 41 ff AFG gefördert worden ist und insbesondere nach § 44 AFG Unterhaltsgeld erhalten hat.

Das BSG hat bereits in BSG 9, 169 entschieden, daß bei einem unverheirateten Inspektorenanwärter eine Berufsausbildung nicht deshalb entfällt, weil ihm ein Unterhaltszuschuß gewährt wurde. In ähnlicher Form ist in BSG 18, 115 für "Jungdienstgrade der Seeschiffahrt" ausgeführt, daß es beim Vorliegen eines "Ausbildungsverhältnisses" auf die Höhe der Entlohnung nicht ankommt und daß selbst ihre Bezeichnung als "Heuer" unschädlich ist, wenn schon aus anderen Gründen das Vorliegen eines Ausbildungsverhältnisses nicht zu bezweifeln ist. Lediglich dann, wenn die Höhe des Entgelts der üblichen Entlohnung entspricht, kann dies ein Anzeichen dafür sein, daß kein Ausbildungs-, sondern ein Beschäftigungsverhältnis vorliegt (s. in diesem Zusammenhang auch BSG, SozR Nr. 12 zu § 1267 RVO; aber auch Nr. 18 aaO). Weiter ist in BSG 36, 83 ausgesprochen, daß es der Gewährung von Waisenrente über die Vollendung des 18. Lebensjahres hinaus an einen Studienreferendar nach geltendem Recht nicht entgegensteht, wenn dieser als Beamter im Vorbereitungsdienst einen monatlichen Unterhaltszuschuß in Höhe von 858,- DM brutto erhält. In Fortentwicklung dieser Rechtsprechung hat der Senat mit seinem Urteil 1 RA 63/74 vom 6. Februar 1975 auch für einen Inspektor-Anwärter, der in das dienstordnungsmäßige Angestelltenverhältnis auf Widerruf übernommen war und für die Dauer seines Vorbereitungsdienstes für den gehobenen Verwaltungsdienst bei Ortskrankenkassen seine zuletzt bezogene Vergütung nach der Gruppe VII des Bundesangestelltentarifvertrages/Ortskrankenkassen in Höhe von 1071,- DM als Unterhaltszuschuß weiter erhielt, noch das Vorliegen einer Berufsausbildung angenommen.

Unter Berücksichtigung dieser Rechtsprechung muß auch das Studium des Klägers an der Wirtschaftsfachschule trotz der Zahlung des Unterhaltsgeldes als Berufsausbildung i.S. des § 44 AVG anerkannt werden. Von einer Gegenleistung für eine vom Kläger ausgeübte Tätigkeit kann nicht gesprochen werden, auch wenn das Unterhaltsgeld sich grundsätzlich nach dem letzten Arbeitsverdienst richtet. Insbesondere kann entgegen der Auffassung der Beklagten nicht gesagt werden, der Sachverhalt ähnele "durchaus" dem Fall, in dem ein Einkommen unmittelbar durch eine Erwerbstätigkeit erzielt werde. Es besteht kein Grund, den von der Arbeitsverwaltung geförderten Studierenden schlechter zu behandeln als andere Studierende und insbesondere den zuvor erwähnten Studienreferendar und ihm eine Waisenrente vorzuenthalten. Der Senat schließt sich somit dem Urteil des 12. Senats vom 13. März 1975 (12 RJ 204/74) an. Liegt eine Berufsausbildung vor, kommt es für den Waisenrentenanspruch nach der derzeitigen Rechtslage nicht darauf an, ob und welches Einkommen die Waise bezieht. Somit schließt auch das Unterhaltsgeld nach § 44 AFG weder das Vorliegen einer Berufsausbildung noch den Anspruch auf Waisenrente nach § 44 AVG aus.

Nach alledem mußte die Revision des Klägers den aus der Urteilsformel ersichtlichen Erfolg haben. Die Waisenrente steht ihm allerdings nach § 67 Abs. 1 AVG erst vom 1. September 1972 an für die Dauer seines Studiums an der Westfalen-Akademie zu (vgl. das genannte Urteil 12 RJ 204/74 vom 13. März 1975).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1650177

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