Leitsatz (amtlich)
1. Für Zeiten vor 1957-01-01 trifft eine Arbeitsunfähigkeit iS von AVG § 36 Abs 1 S 1 Nr 1 (= RVO § 1259 Abs 1 S 1 Nr 1) nicht mit Berufsunfähigkeit/Erwerbsunfähigkeit neuen Rechts (AVG § 23 Abs 2 nF, § 24 Abs 2 nF = RVO § 1246 Abs 2 nF, § 1247 Abs 2 nF), sondern ggf mit Berufsunfähigkeit/Invalidität alten Rechts (AVG § 27 aF; RVO § 1254 aF) zusammen.
2. Zur Anrechnung von Ausfallzeiten nach AVG § 36 Abs 1 S 1 Nr 1 (= RVO § 1259 Abs 1 S 1 Nr 1) bei Versicherten, die schon vor 1957-01-01 arbeitsunfähig waren.
Normenkette
AVG § 23 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23, § 24 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23, § 36 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23, § 1247 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23, § 1259 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23; AVG § 13 Fassung: 1938-09-01, § 26 Nr. 2 Fassung: 1934-05-17, § 27 Fassung: 1934-05-17; RVO § 1236 Fassung: 1938-09-01, § 1253 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1934-05-17, § 1254 Fassung: 1949-06-17; AnVNG Art. 2 § 7 Fassung: 1957-02-23, § 14 Fassung: 1957-02-23; ArVNG Art. 2 § 6 Fassung: 1957-02-23, § 14 Fassung: 1957-02-23; SVVereinfV 1 Art. 7 Fassung: 1945-03-17, Art. 14 Fassung: 1945-03-17
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 28. Januar 1976 geändert. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 4. Oktober 1974 wird in vollem Umfang zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Unter den Beteiligten ist in Streit, ob der Klägerin eine beitragslose Zeit als Ausfallzeit (§ 36 Abs 1 Satz 1 Nr 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG) rentensteigernd anzurechnen ist.
Die 1911 geborene Klägerin hat keinen Beruf erlernt. Sie war von 1935 an als Stationshilfe, Hilfsschwester und Krankenpflegerin beschäftigt und - zuletzt bis 15. November 1950 in der Angestelltenversicherung - rentenversichert. Im Oktober 1950 steckte sie sich am Arbeitsplatz mit Tuberkulose an und erkrankte arbeitsunfähig. Die zuständige Berufsgenossenschaft gewährte ihr Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) zwischen 60 und zuletzt 40 vH. Nach einem Heilverfahren 1951 wurde die Klägerin ärztlicherseits als "invalide bzw berufsunfähig" beurteilt. Ab 15. November 1951 arbeitete sie gegen freie Station wieder täglich mehrere Stunden im Krankenhaus. Beiträge zur Rentenversicherung wurden nicht entrichtet. Erst ab Oktober 1958 war die Klägerin wieder vollschichtig als Krankenpflegerin tätig und bei der Beklagten versichert.
Die beklagte Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) bewilligte der Klägerin ab 1. Januar 1974 antragsgemäß das vorzeitige Altersruhegeld und anerkannte für die Zeit vor dem 1. Januar 1957 die pauschale Ausfallzeit nach Art 2 § 14 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG); als Ausfallzeit komme nämlich nur die Zeit vom 16. November 1950 bis 14. November 1951 in Betracht. Die übrige beitragslose Zeit habe keine versicherungspflichtige Beschäftigung unterbrochen.
Mit der hiergegen erhobenen Klage ist die Klägerin in zweiter Instanz im wesentlichen durchgedrungen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Beklagte unter Abänderung des klageabweisenden Urteils des Sozialgerichts (SG) verurteilt, der Klägerin den Zeitraum vom 15. November 1951 bis 31. Oktober 1957 zusätzlich als Ausfallzeit zu berücksichtigen; im übrigen hat es die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. In der Begründung ist ausgeführt, die stundenweise Tätigkeit der Klägerin im Krankenhaus habe eine nicht versicherungspflichtige Aushilfsbeschäftigung dargestellt. Während dieser Zeit habe zudem Arbeitsunfähigkeit fortbestanden, weil die Klägerin die keineswegs leichte Tätigkeit einer Krankenpflegerin nicht mehr habe verrichten können. Da sie zugleich allenfalls zeitweise - nicht auf Dauer - erwerbsunfähig gewesen sei, bleibe die strittige Zeit als Ausfallzeit anrechenbar. Ab 1. November 1957 habe die Klägerin aber wieder vollschichtig arbeiten können (Urteil vom 28. Januar 1976).
Gegen dieses Urteil hat nur die Beklagte die zugelassene Revision eingelegt. Sie ist der Auffassung, es sei entscheidend, wie der Begriff der Arbeitsunfähigkeit im Sinne des § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 1 AVG inhaltlich zu bestimmen sei. Lege man die vom 5. und 12. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) vertretene Auffassung zugrunde, dann sei die Klägerin in der Zeit nach dem 15. November 1951 nicht arbeitsunfähig gewesen. Sie habe nämlich zumindest halbtägig leichte Tätigkeiten verrichten können. Zu berücksichtigen sei auch, daß die Klägerin ab November 1951 invalide bzw berufsunfähig gewesen sei.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben, soweit sie verurteilt worden sei, bei der Berechnung des vorgezogenen Altersruhegeldes der Klägerin zusätzlich die Zeit vom 15. November 1951 bis 31. Oktober 1957 als Ausfallzeit zu berücksichtigen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie ist der Auffassung, ihre Tätigkeit als Krankenpflegerin, zufolge derer sie von der Invalidenversicherung in die Angestelltenversicherung übergewechselt sei, sei qualitativ höherwertiger Art gewesen. Sie habe nach der Erkrankung 1951 nicht mehr halbtags arbeiten können; der Arbeitgeber habe ihr allein eine nicht entlohnte Beschäftigungstherapie angedeihen lassen.
Beide Beteiligten haben erklärt, daß sie mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden sind (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet.
Nach § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 1 AVG (= § 1259 Abs 1 Satz 1 Nr 1 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) sind rentensteigernde Ausfallzeiten ua Zeiten, in denen eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit durch eine infolge Krankheit oder Unfall bedingte Arbeitsunfähigkeit mindestens einen Kalendermonat unterbrochen worden ist, wenn sie in den Versicherungskarten oder sonstigen Nachweisen bescheinigt sind. Diese Vorschrift gilt grundsätzlich auch für Zeiten der Arbeitsunfähigkeit, die - wie hier - vor dem Inkrafttreten der Rentenversicherungs-Neuregelungsgesetze (RVNG) am 1. Januar 1957 zurückgelegt worden sind: Der Versicherte hat nach Art 2 § 14 AnVNG (= Art 2 § 14 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes - ArVNG) Anspruch auf Berücksichtigung einer Ausfallzeit auch "für die Zeit vor dem 1. Januar 1957", wobei ihm in bezug auf diese regelmäßig länger zurückliegenden Zeiten Beweiserleichterung durch Zubilligung zumindest einer Ausfallzeitenpauschale gewährt wird. Indessen beschränkt sich die Rückwirkung des § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 1 AVG auf die vor dem 1. Januar 1957 liegenden Ausfalltatbestände. Nicht geregelt hat das Gesetz, welcher Rechtszustand für die Beantwortung der Frage gilt, ob der Ausfalltatbestand eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit "unterbrochen" hat. So läßt sich nach der gesicherten Rechtsprechung des BSG keine Unterbrechung dann annehmen, wenn und soweit der Versicherte nicht nur arbeitsunfähig, sondern auch erwerbsunfähig im Sinne des § 24 Abs 2 AVG (= § 1247 Abs 2 RVO) ist (vgl BSGE 28, 68 = SozR Nr 20 zu § 1259 RVO; BSGE 32, 232, 234 = SozR Nr 34 aaO; SozR Nr 36 und 55 zu § 1259 aaO). Diese Rechtsprechung wird übereinstimmend damit begründet, daß der erwerbsunfähige Versicherte nach der generalisierenden Betrachtungsweise des Gesetzes aus dem Erwerbs- und Versicherungsleben schlechtweg ausgeschieden ist, dieses also nicht nur unterbrochen hat.
Weder das Gesetz noch die Rechtsprechung haben sich bisher im einzelnen mit der Frage befaßt, ob bei der Anwendung des § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 1 AVG eine vor dem 1. Januar 1957 liegende Arbeitsunfähigkeit bereits mit der Berufsunfähigkeit bzw. Erwerbsunfähigkeit neuen Rechts (§§ 23 Abs 2, 24 Abs 2 AVG nF = §§ 1246 Abs 2, 1247 Abs 2 RVO nF) oder aber nur mit der Berufsunfähigkeit/Invalidität des bis 31. Dezember 1956 geltenden alten Rechts (§ 27 AVG aF; § 1254 RVO aF) zusammentrifft (vgl dazu Art 2 § 7 AnVNG = Art 2 § 6 ArVNG). Das LSG hat im angefochtenen Urteil ohne Begründung das erstere angenommen und ausgeführt, daß eine Erwerbsunfähigkeit der Klägerin neuen Rechts zwar schon für die Zeit vor dem 1. Januar 1957 anzunehmen, aber, da vorübergehender Art, unbeachtlich sei. Es weicht mit dieser Auffassung indessen von den Entscheidungen des BSG in SozR 2200 § 1259 Nr 10 und in BSGE 42, 86 = SozR 2200 § 1259 Nr 18 ab. Diese Entscheidungen nehmen, freilich ebenfalls ohne Begründung, an, daß vor dem 1. Januar 1957 eine Arbeitsunfähigkeit mit einer Invalidität (Berufsunfähigkeit) alten Rechts zusammentrifft. Dem ist beizupflichten: Für die Beantwortung der Frage, ob der Versicherte ungeachtet des Ausfalltatbestandes der Arbeitsunfähigkeit auf Dauer aus dem Erwerbs- und Versicherungsleben ausgeschieden war, kann es nur auf die Rechtsnormen ankommen, die zu der Zeit gegolten haben, als der Ausfalltatbestand zurückgelegt worden war. Nach dem vor dem 1. Januar 1957 geltenden Recht aber bewirkte Berufsunfähigkeit/Invalidität alten Rechts Versicherungsfreiheit schlechthin in der Angestellten- bzw Invalidenversicherung (§ 13 Abs 1 AVG aF; § 1236 Abs 1 RVO aF). Damals konnte mithin keine Versicherungszeiten zurücklegen, wer berufsunfähig/invalide war; er galt - wie ab 1957 bei Erwerbsunfähigkeit - als aus dem Versicherungsleben ausgeschieden.
Im vorliegenden Fall hat die Arbeitsunfähigkeit bereits im Jahre 1950 begonnen. Die der Ausfallzeit zugrundeliegende Krankheit - Lungentuberkulose - hat zugleich Berufsunfähigkeit/Invalidität der Klägerin nach altem Recht bewirkt: Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG in Zusammenhang mit den von ihm wiedergegebenen ärztlichen Äußerungen konnte die Klägerin bis 1957 nur für einige Stunden am Tage leichte schriftliche Arbeiten verrichten; die Ärzte der Beklagten haben die Klägerin mithin im Jahre 1951 auch als "invalide bzw berufsunfähig", das LSG hat sie sogar als erwerbsunfähig beurteilt. Der Vortrag der Klägerin stimmt damit überein; sie hat in der Revisionserwiderung darauf hingewiesen, daß sie bis 1957 nicht einmal halbtags habe arbeiten können.
Die hiernach anzunehmende Berufsunfähigkeit/Invalidität alten Rechts war offenkundig auch nicht nur vorübergehender Natur: Die Erwerbsminderung der Klägerin hat nach den Ausführungen des Berufungsgerichts von 1950 bis 1957 angedauert. Nach altem Recht besteht eine nur vorübergehende Berufsunfähigkeit bzw vorübergehende Invalidität (§ 26 Nr 2 AVG aF; § 1253 Abs 1 Nr 2 RVO aF) nur dann, wenn begründete Aussicht zur Behebung der Invalidität bzw der Berufsunfähigkeit in absehbarer Zeit besteht (vgl dazu BSG in SozR 2200 § 1259 Nr 10). Für eine solchermaßen nur vorübergehende Berufsunfähigkeit/Invalidität der Klägerin alten Rechts besteht aber weder bei vorausschauender noch bei rückschauender Betrachtung ein Anhaltspunkt; die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil lassen allein annehmen, daß die seit 1950 durchgängig bestehende Berufsunfähigkeit/Invalidität der Klägerin frühestens erst 1957 wieder weggefallen ist. Aus alledem folgt, daß die Klägerin 1950 schon auf Dauer aus dem Versicherungsleben ausgeschieden war, sohin eine versicherungspflichtige Beschäftigung iS des § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 1 AVG nicht nur unterbrochen hatte.
Im Ergebnis nichts anderes wäre aber dann anzunehmen, wenn § 13 AVG aF/§ 1236 RVO aF durch Art 7 und 4 der Ersten Verordnung zur Vereinfachung des Leistungs- und Beitragsrechts in der Sozialversicherung (VereinfVO) vom 15. März 1945 (RGBl I S. 41) im Verein mit anderen die Rentenversicherungspflicht beschränkenden Vorschriften aufgehoben gewesen sein sollte (vgl dazu BSGE 10, 156, 158 iVm BSGE 3, 161 = SozR Nr 1 zu Art 19 VereinfVO). Dann nämlich hätte eine Tätigkeit der Klägerin von mehreren Stunden täglich gegen freie Station (vgl Art 7 aaO iVm § 9 AVG aF, Art 3 aaO iVm § 1227 RVO aF) gemäß § 1 AVG aF/§ 1226 RVO aF bereits Versicherungspflicht in der Angestelltenversicherung/Invalidenversicherung mit der Folge begründet, daß schon deshalb keine Ausfalltatbestände vorliegen können.
Auch für die Zeit ab 1. Januar 1957 kann im Ergebnis nichts anderes gelten. Nimmt man für die Zeit vor dem 1. Januar 1957 Versicherungsfreiheit der Klägerin in der Rentenversicherung wegen Berufsunfähigkeit/Invalidität an, so fehlt es für die Zeit nach dem 31. Dezember 1956 bereits an der Unterbrechung einer versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit. Geht man davon aus, daß auf Grund der Ersten VereinfVO vor dem 1. Januar 1957 Versicherungspflicht bestanden hat, dann ist diese - und damit die Möglichkeit, Beiträge zur Rentenversicherung zu entrichten - für die Klägerin von diesem Zeitpunkt an allein deswegen entfallen, weil die Rentenversicherungs-Neuregelungsgesetze Beschäftigungen von der Art, wie sie die Klägerin zuletzt rentenversicherungspflichtig ausgeübt hat, versicherungsfrei gestellt haben (§ 4 Abs 1 Nr 2 und 4 AVG nF = § 1228 Abs 1 Nr 2 und 4 RVO nF). Der Beitragsausfall ab 1. Januar 1957 beruhte dann nicht auf einer Arbeitsunfähigkeit, sondern auf einer Gesetzesänderung; in der Tätigkeit, mit der die Klägerin bis 31. Dezember 1956 pflichtversichert war, bestünde nach wie vor keine Arbeitsunfähigkeit.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen