Leitsatz (amtlich)
Zeiten vor der Vollendung des 14. Lebensjahres des Versicherten können nicht als Ersatzzeiten angerechnet werden.
Normenkette
RVO § 1251 Abs 1 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 04.02.1980; Aktenzeichen L 3 J 253/78) |
SG Lübeck (Entscheidung vom 06.07.1978; Aktenzeichen S 4 J 513/77) |
Tatbestand
Der am 18. August 1932 im Kreis Köslin/Ostpommern geborene Kläger mußte, wie er angibt, vom 1. September 1945 bis zum 1. Mai 1947 in einer Kolchose landwirtschaftliche Arbeiten verrichten, wobei er kein Entgelt, sondern nur die Kost erhielt; ab 2. Mai 1947 war er Landarbeiter auf einem polnisch verwalteten Staatsgut.
Im Juni 1975 stellte der Kläger einen "Antrag auf Klärung des Versicherungsverlaufs". Mit Bescheid vom 6. Dezember 1976 und mit einer Ergänzung vom 5. April 1977 anerkannte die Beklagte die Zeit vom 18. August 1946 (Vollendung des 14. Lebensjahres) bis zum 1. (2.) Mai 1947 als Ersatzzeit der Vertreibung sowie der verhinderten Rückkehr (§ 1251 Abs 1 Nr 3 und 6 Reichsversicherungsordnung -RVO-) und die Zeit ab 2. Mai 1947 als Pflichtbeitragszeit an. Der erste Bescheid enthält eine Rechtsbehelfsbelehrung und als Anlage einen "Versicherungsverlauf".
Mit der Klage hat der Kläger beantragt, die Zeit vom 1. September 1945 bis zum 17. August 1946 zusätzlich als Ersatzzeit anzuerkennen. Die Klage ist vor dem Sozialgericht (SG) Lübeck (Urteil vom 6.7.1978) und vor dem Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht -LSG- (Urteil vom 4.2.1980) erfolglos geblieben. Das LSG hat dazu ausgeführt, Zeiten vor der Vollendung des 14. Lebensjahres könnten nicht als Ersatzzeiten anerkannt werden; es hat die Revision zugelassen.
Mit der Revision trägt der Kläger vor: Nach Wortlaut, Sinn und Zweck des § 1251 Abs 1 RVO sei die Auffassung des LSG unrichtig. Der Gesichtspunkt, daß Zeiten, in denen dem Versicherten Beitragsleistungen aus rechtlichen Gründen unmöglich seien, keine Ersatzzeiten sein könnten, "weil das dem Wesen der Ersatzzeiten und dem Sinn und Zweck ihrer gesetzlichen Regelung widerspricht", habe sich als untaugliches Beurteilungskriterium herausgestellt. Auch Kinder unter 14 Jahren könnten ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis begründen. Der Kläger beantragt,
die Urteile der Vorinstanzen sowie den Bescheid der Beklagten vom
6.12.1976 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Zeit vom
1.9.1945 bis 17.8.1946 zusätzlich als Ersatzzeit anzuerkennen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist zulässig, aber nicht begründet. Der Kläger hat, wie die Vorinstanzen zutreffend entschieden haben, keinen Anspruch auf die Anerkennung der Zeit vom 1. September 1945 bis zum 17. August 1946 als Ersatzzeit.
Die Klage ist zulässig. Sie richtet sich gegen die im Bescheid vom 6. Dezember 1976 ausgesprochene Weigerung, die streitige Zeit als Ersatzzeit anzuerkennen, also gegen einen Verwaltungsakt nach § 11 Versicherungsunterlagen-Verordnung (VuVO).
Zeiten vor Vollendung des 14. Lebensjahres können nicht als Ersatzzeiten angerechnet werden. Das ergibt sich aus folgenden Erwägungen. Nach § 1251 Abs 1 RVO werden für die Erfüllung der Wartezeit als Ersatzzeiten ua angerechnet
- Zeiten, in denen der Versicherte nach Beendigung eines Krieges,
ohne Kriegsteilnehmer zu sein, durch feindliche Maßnahmen an der
Rückkehr aus den unter fremder Verwaltung stehenden deutschen
Ostgebieten verhindert gewesen oder dort festgehalten worden ist
(Nr 3) und
- die Zeit vom 1. Januar 1945 bis 31. Dezember 1946 bei Personen iS
der §§ 1 bis 4 des Bundesvertriebenengesetzes -BVFG- (Nr 6).
Die Frage, von welchem Lebensalter ab Ersatzzeiten angerechnet werden können, ist in den Entscheidungen des Bundessozialgerichts (BSG) und in der Literatur schon häufig behandelt worden.
Der 1. Senat hat im Urteil vom 14. Februar 1968 - 1 RA 261/67 - (SozR Nr 33 zu § 1251 RVO) den militärähnlichen Dienst eines Schiffsjungen der Kaiserlichen Marine im Ersten Weltkrieg nur insoweit als Ersatzzeit angesehen, als dieser Dienst nach der Vollendung des 16. Lebensjahres zurückgelegt worden war, weil vorher die Begründung eines Versicherungsverhältnisses in der gesetzlichen Rentenversicherung regelmäßig nicht möglich gewesen sei. Er hat am 17. Februar 1970 - 1 RA 185/69 - (BSGE 31, 14 = SozR aaO Nr 43) diese Rechtsprechung aufrechterhalten und darauf hingewiesen, daß nicht ersetzt werde, was überhaupt nicht als Beitragszeit entgangen sein könne; in der Zeit vom 1. Januar 1891 bis 31. Oktober 1922 hätten Versicherungszeiten erst vom vollendeten 16. Lebensjahr an erworben werden können. Der erkennende Senat hat im Urteil vom 13. Mai 1970 - 4 RJ 301/68 - (SozR aaO Nr 44) entschieden, daß einem Versicherten, der in den Jahren 1945 und 1946 volksschulpflichtig war, das 14.Lebensjahr nicht vollendet hatte und noch nicht versichert war, die Ersatzzeit des § 1251 Abs 1 Nr 6 RVO nicht angerechnet werden könne, weil jedenfalls nach dem Jugendschutzgesetz (JSchG) vom 30. April 1938 (RGBl I 437) Kinderarbeit grundsätzlich verboten gewesen sei (ähnlich später im Urteil vom 24.11.1971 - 4/5 RJ 238/70 - SozEntsch 5 § 1251 Nr 36). Die gleiche Rechtsauffassung hat der 5. Senat im Urteil vom 27. August 1970 - 5 RKn 52/67 - (SozR aaO Nr 49, dort nur Leitsatz) für eine Person iS der §§ 1 bis 4 BVFG, die in den Jahren 1945 und 1946 vier bis sechs Jahre alt war und für die vorher keine freiwilligen Beiträge entrichtet worden waren, vertreten. Schließlich hat der erkennende Senat im Urteil vom 20. Dezember 1979 - 4 RJ 50/78 - (BSGE 49, 236 = SozR 2200 § 1251 Nr 74) eine Ausnahme von dem Grundsatz gemacht, daß die Anrechnung von Ersatzzeiten nicht in Betracht kommt für Zeiträume, in denen dem Versicherten Beitragsleistungen aus rechtlichen Gründen unmöglich gewesen sind. Diesen Ausnahmefall hat der Senat aber nur als gegeben angesehen, wenn die rechtliche Unmöglichkeit der Beitragsentrichtung gerade durch den Ersatzzeittatbestand (militärischer Dienst oder Kriegsgefangenschaft) verursacht worden ist. Jedoch hat der Senat bereits bei dieser Gelegenheit bemerkt (S 239), daß etwas anderes für die Personen gelte, bei denen kein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem rechtlichen Hinderungsgrund und dem Ersatzzeittatbestand vorhanden sei.
Weiterhin hat der 1. Senat im Urteil vom 12. Januar 1966 - 1 RA 271/63 - (BSGE 24, 194, 197 = SozR Nr 9 zu Art 2 § 52 ArVNG) ausgeführt, für die Zeit vor der Vollendung des 16. Lebensjahres des Berechtigten dürften keine Beiträge nach Art 2 § 52 Abs 1 Satz 2 ArVNG nachentrichtet werden, weil bis dahin der Berechtigte "regelmäßig noch nicht in das Erwerbs- und Versicherungsleben eintreten konnte".
Die Kommentare sind einhellig der Ansicht, daß Ersatzzeiten erst vom vollendeten 14. Lebensjahr an anerkannt werden können: Verbandskommentar, Anm 3 zu § 1251, S 24, Stand: 1. Januar 1975; Zweng/Scheerer, Handbuch der Rentenversicherung, 2. Aufl, Anm A II, S 7/8, zu Ä 1251 RVO, Stand: Juli 1979; Gesamtkommentar, Anm 1 zu § 1251 RVO, Stand: Dezember 1970; Eicher/Haase/Rauschenbach, Die Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten, 6. Aufl, Anm 2 zu § 1251 RVO; Koch/Hartmann/v Altrock/Fürst, Das Angestelltenversicherungsgesetz (AVG), 2. und 3. Aufl, Anm A IV zu § 28 AVG, S V 237, Stand: Oktober 1976; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, S 672 k; Maier in einer Anmerkung zum Urteil des BSG vom 13. Mai 1970, SGB 1972, 453.
Der Senat hält an der Rechtsprechung der mit Rentenversicherungssachen befaßten Senate des BSG fest, daß Zeiten vor der Vollendung des 14. Lebensjahres nicht als Ersatzzeiten anerkannt werden können. Die Rechtsauffassung, die der Senat in dem Urteil vom 26. Mai 1965 - 4 RJ 527/63 - (BSGE 23, 89 = SozR Nr 12 zu § 1251 RVO) und der Folgeentscheidung vom 27. April 1967 - 4 RJ 193/66 - (SozR Nr 26 zu § 1251 RVO) nur für den Sonderfall der verfolgungsbedingten Ersatzzeit und das Schicksal verfolgter Kinder vertreten hat, wird aufgegeben.
Die Verweigerung der Ersatzzeit für Zeiträume vor dem vollendeten 14. Lebensjahr kann allerdings nicht immer mit dem Grundsatz gerechtfertigt werden, daß Zeiten, in denen dem Versicherten Beitragsleistungen aus rechtlichen Gründen unmöglich gewesen sind, keine Ersatzzeiten sein können. Dieser Grundsatz ist zwar durch die Entscheidung des Senats vom 20. Dezember 1979 wesentlich eingeschränkt worden, könnte aber noch für die Fälle Bedeutung haben, in denen zwischen dem rechtlichen Hinderungsgrund und dem Ersatzzeittatbestand kein ursächlicher Zusammenhang bestanden hat. Denn in der Geschichte der deutschen Invaliden- bzw Rentenversicherung waren Personen unter 14 Jahren nicht immer gehindert, der Versicherung beizutreten und Beiträge zu entrichten (vgl dazu im einzelnen Maier - aaO mwN). Der im Jahr 1932 geborene Kläger war nach § 1243 RVO idF des Gesetzes über den Ausbau der Rentenversicherung vom 21. Dezember 1937 (RGBl I 1393), die in den Jahren 1945 bis 1947 noch galt, zum freiwilligen Eintritt in die Versicherung (Selbstversicherung) berechtigt; tatsächlich sind damals, wenn auch nicht in großem Umfang, auch für Kinder zur Invaliden- oder Angestelltenversicherung freiwillige Beiträge entrichtet worden (Koch/Hartmann &; v Altrock/Fürst, Das Angestelltenversicherungsgesetz, 2. und 3. Aufl, Band I, Anm 2 d) zu § 21 AVG aF, S 263). Das JSchG verbot zwar die Kinderarbeit, schloß sie aber damit noch nicht in allen Fällen aus, die Entrichtung von Beiträgen war sonach für ein Kind unter 14 Jahren zwar nahezu, aber nicht vollständig ausgeschlossen. Es sprechen aber noch andere Gründe dafür, die Ersatzzeit im Regelfall auf die Zeiten nach der Vollendung des 14. Lebensjahres zu beschränken.
Typischerweise erfüllten Kinder in der hier in Rede stehenden Zeit etwa bis zum 14. oder 15. Lebensjahr ihre Schulpflicht und nahmen erst danach eine Beschäftigung, insbesondere eine mit Versicherungspflicht verbundene, auf. In der Zeit vorher war eine Tätigkeit ("Kinderarbeit") rechtswidrig und verboten, mindestens aber unüblich und praktisch ausgeschlossen, und selbst die Kinderarbeit erreichte nicht den Umfang einer Beschäftigung, die zur Versicherungspflicht in der Rentenversicherung führte. Daraus folgt, daß im Geltungsbereich der RVO - von verschwindend geringen Ausnahmen abgesehen - Personen frühestens mit 14 Jahren Mitglied der Rentenversicherung wurden. Ein Schaden in der Rentenversicherung, eine Lücke im Versicherungsverlauf konnte deshalb im aller Regel und typischerweise erst nach der Vollendung des 14. Lebensjahres eintreten. Auf solche typischen Lebensverläufe darf und muß aber die gesetzliche Rentenversicherung abstellen. So wird zB auch in § 8 Abs 2 VuVO vermutet, daß bei Versicherten der Geburtsjahrgänge 1908 und später die Versicherung (erst) mit der Vollendung des 14. Lebensjahres begonnen wurde. Zum Teil geht die Rentenversicherung auch von der Vollendung des 16. Lebensjahres als frühest möglichem Versicherungsbeginn aus (§ 1259 Abs 1 Nr 4 RVO, § 16 Satz 1 Fremdrentengesetz, Art 2 § 52a Abs 1 ArVNG, § 8 Abs 1 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung, Art 2 § 14 Satz 3 ArVNG).
Da es nicht der Sinn der Ersatzzeitregelung ist, einen Ausgleich dort zu gewähren, wo ein Schaden allenfalls denkmöglich, aber äußerst unwahrscheinlich ist (Urteil des erkennenden Senats vom 13. Mai 1970, aaO, S Aa 42), muß die Gewährung von Ersatzzeiten jedenfalls vor der Vollendung des 14. Lebensjahres ausgeschlossen bleiben. Das gilt dann auch für den Fall des Klägers, zumal dieser einen konkreten versicherungsrechtlichen Schaden - etwa durch die Unmöglichkeit der Entrichtung von Beiträgen für eine schon früher begonnene Selbstversicherung - nicht behauptet. Die Frage der freiwilligen Beitragsentrichtung bedarf deshalb hier keiner weiteren Erörterung.
Die Revision des Klägers war als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Fundstellen
BSGE, 272 |
Breith. 1981, 971 |