Entscheidungsstichwort (Thema)
Wohnsitz oder gewöhnlicher Aufenthalt iS des BKGG
Orientierungssatz
1. Es ist für die Begründung oder Beibehaltung eines Wohnsitzes ohne Bedeutung wo jemand polizeilich gemeldet ist (vgl BSG 1979-07-26 8b RKG 12/78 = SozR 5870 § 1 Nr 4) und welchen Willen der Sorgeberechtigte hat.
2. Abweichend von den §§ 8, 11 BGB können auch Minderjährige ohne den Willen ihres gesetzlichen Vertreters selbständig einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt begründen. Dabei kommt es weder auf das Alter der Kinder noch darauf an, ob Sie Wohnung oder Unterkunft in ihrem Heimatland finden können. Ohne Bedeutung ist auch, ob eine Rückkehr Aussicht auf Erfolg hat und ob die Entfernung aus dem Heimatland freiwillig oder unfreiwillig geschehen ist oder ob sie demnächst vollzogen werden kann (vgl BSG 1981-12-17 10 RKg 12/81 = SozR 5870 § 2 Nr 25).
3. Art 6 Abs 2 GG ist nicht verletzt, wenn im Ausland lebende Kinder für den Kindergeldanspruch nicht berücksichtigt werden (vgl BVerfG 1968-05-07 1 BVR 133/67 = BVerfGE 23, 258).
Normenkette
BKGG § 1 Nr 1, § 2 Abs 5 S 1; SGB 1 § 30 Abs 3 S 1 Fassung: 1975-12-11; SGB 1 § 30 Abs 3 S 2 Fassung: 1975-12-11; BGB §§ 8, 11; GG Art 6 Abs 2 Fassung: 1949-05-23
Verfahrensgang
LSG für das Saarland (Entscheidung vom 06.07.1982; Aktenzeichen L 2 Kg 1/81) |
SG für das Saarland (Entscheidung vom 29.06.1981; Aktenzeichen S 11 Kg 4/81) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin für ihre beiden älteren Kinder einen Anspruch auf Kindergeld und für ihr drittes Kind einen Anspruch auf ein höheres Kindergeld hat.
Die Klägerin ist die Mutter von drei, 1977, 1979 und 1980 geborenen Kindern, für die ihr das Sorgerecht übertragen ist und die bei ihr polizeilich gemeldet sind. Sie lebt seit 1979 von ihrem Ehemann A. , einem algerischen Staatsangehörigen, getrennt. Die Ehe wurde im Juni 1981 rechtskräftig geschieden. Anläßlich eines Besuches des A. im September 1979 nahm dieser die beiden älteren Kinder N. und R. ohne Wissen und Willen der Klägerin nach Algerien mit, wo sie bei den Großeltern leben. A. weigert sich, die Kinder an die Klägerin herauszugeben.
Die Beklagte lehnte den Antrag der Klägerin, ihr für die beiden Kinder erneut das im März 1980 entzogene Kindergeld zu zahlen, ab; sie bewilligte lediglich DM 50,-- Kindergeld für das jüngste Kind M. , denn die älteren Kinder N. und R. hätten weder ihren Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet oder in Berlin (Bescheid vom 26. November 1980; Widerspruchsbescheid vom 16. Januar 1981).
Das Sozialgericht (SG) hat die angefochtenen Bescheide mit gegenteiliger Begründung aufgehoben (Urteil vom 29. Juni 1981). Das Landessozialgericht (LSG) hat das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 6. Juli 1982); denn nach § 2 Abs 5 Satz 1 Bundeskindergeldgesetz (BKGG) seien Kinder, die weder ihren Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich des BKGG haben, bei der Gewährung von Kindergeld nicht zu berücksichtigen. Die Begriffe Wohnsitz und gewöhnlicher Aufenthalt in § 30 Abs 3 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - (SGB I) seien auch für das Kindergeld maßgebend. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) sei bei der Feststellung des Wohnsitzes oder des gewöhnlichen Aufenthaltes von den tatsächlichen und wirtschaftlichen Gegebenheiten auszugehen, nicht aber von den zivilrechtlichen Vorschriften über den Wohnsitz Minderjähriger. An diesen Grundsätzen müsse trotz Verstoßes des Kindsvaters gegen deutsches Recht der Anspruch gemessen werden. Algerien sei der Wohnsitz der Kinder und werde es wohl auch bleiben.
Mit der zugelassenen Revision macht die Klägerin geltend, ihre Kinder seien entführt und ihrer Sorgeberechtigung gegen ihren Willen entzogen worden. Die verlangte Bewilligung von Prozeßkostenhilfe wurde mit Beschluß vom 7. März 1983 abgelehnt. Einen ausdrücklichen Sachantrag hat die Klägerin nicht gestellt.
Die Beklagte beantragt die Zurückweisung der Revision.
Die Beteiligten sind damit einverstanden, daß der Senat ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheidet (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist nicht begründet. Sie ist zurückzuweisen. Der Klägerin steht für ihre beiden älteren Kinder kein und für ihr drittes Kind kein höheres Kindergeld zu.
Nach § 1 Nr 1 BKGG hat Anspruch auf Kindergeld für seine Kinder, wer im Geltungsbereich dieses Gesetzes seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hat. Die Ausnahmen von diesem Grundsatz (§ 1 Nr 2 Buchst a - d) kommen hier nicht in Betracht. Nach § 2 Abs 5 Satz 1 BKGG werden Kinder, die weder einen Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes haben, weder für die Gewährung noch für die Höhe des Kindergeldes berücksichtigt. Die beiden älteren Kinder der Klägerin haben im Geltungsbereich des BKGG weder ihren Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt. Es bedarf keiner näheren Begründung, daß diese Kinder sich nicht nur vorübergehend außerhalb des Geltungsbereichs des BKGG tatsächlich aufhalten, so daß sie im Geltungsbereich dieses Gesetzes nicht ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben.
Es mag dahingestellt bleiben, ob sie iS des bürgerlichen Rechts deshalb ihren Wohnsitz bei ihrer sorgeberechtigten Mutter haben, weil es deren Willen entspricht. Für den Begriff des Wohnsitzes iS des BKGG kommt es darauf nicht an, weil insoweit die tatsächlichen Verhältnisse entscheidend sind (vgl BSGE 49, 254, 255 f). Der Begriff des Wohnsitzes war bis zum 31. Dezember 1976 durch die Verweisung auf § 13 Steueranpassungsgesetz geregelt. Durch Art 90 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung 1977 vom 14. Dezember 1976 (BGBl I, 3341) ist mit Wirkung vom 1. Januar 1977 diese Bezugnahme gestrichen worden. Von diesem Zeitpunkt an galt § 30 Abs 3 SGB I als allgemein für das Sozialrecht maßgebende Regelung. Danach hat jemand dort einen Wohnsitz, wo er eine Wohnung unter Umständen innehat, die darauf schließen lassen, daß er die Wohnung beibehalten und benutzen wird. Dabei mag die subjektive Seite nicht unbeachtlich sein, jedoch muß der Wille, an einem bestimmten Ort zu wohnen, realisierbar sein. Der nicht realisierbare Wille kann nicht zur Begründung oder Beibehaltung eines Wohnsitzes führen. Deshalb ist es ohne Bedeutung, wo jemand polizeilich gemeldet ist(BSG SozR 5870 § 1 Nr 4) und welchen Willen der Sorgeberechtigte hat.
Abweichend von den §§ 8, 11 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) können auch Minderjährige ohne den Willen ihres gesetzlichen Vertreters selbständig einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt begründen. Dabei kommt es weder auf das Alter der Kinder noch darauf an, ob sie Wohnung oder Unterkunft in ihrem Heimatland finden können. Ohne Bedeutung ist auch, ob eine Rückkehr Aussicht auf Erfolg hat und ob die Entfernung aus dem Heimatland freiwillig oder unfreiwillig geschehen ist oder ob sie demnächst vollzogen werden kann (vgl BSG SozR 5870 § 2 Nr 25 mwN). Die Verletzung rechtlicher Pflichten durch den Vater ändert daran nichts, weil allein auf die tatsächlichen und wirtschaftlichen Gegebenheiten abzustellen ist. Sinn und Zweck des mit dem Kindergeld beabsichtigten Familienlastenausgleichs im Geltungsbereich des Gesetzes rechtfertigen es, im Inland lebende Kinder anders zu behandeln als im Ausland lebende. In der Begrenzung auf den Geltungsbereich des BKGG (vgl § 1 Nr 1 BKGG) kommt der das Kindergeld beherrschende Gedanke zum Ausdruck, wonach derjenige, der im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ein Kind aufzieht und dadurch einen Beitrag zur künftigen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Existenz der Gesellschaft in diesem Staat leistet, dafür einen gewissen Ausgleich von der Gesellschaft erhalten soll. Der Gesetzgeber konnte grundsätzlich nur von den im Bundesgebiet erzogenen und aufgewachsenen Kindern das Hineinwachsen in die politische, wirtschaftliche und soziale Verbundenheit der Gesellschaft dieses Staatsgebietes erwarten, nicht aber von Kindern, die im Ausland leben und deshalb mit Wahrscheinlichkeit in die dort existierende staatliche Gesellschaft und somit gerade nicht in die der Bundesrepublik Deutschland hineinwachsen werden (BSG SozR 5870 § 2 Nr 24).
Diese Regelung ist nicht verfassungswidrig. Sinn des Kindergeldes ist nicht die Entlastung des Unterhaltspflichtigen, sondern die Begünstigung der Familie, in der das Kind dauernd lebt. Diejenigen, die dem Kind eine Heimstatt bieten und sich um sein persönliches Wohl sowie um seine Erziehung kümmern, sollen für die damit verbundenen finanziellen, mindestens aber persönlichen Opfer einen Ausgleich von der Gesellschaft erhalten. Art 6 Abs 2 Grundgesetz (GG) ist nicht verletzt, wenn im Ausland lebende Kinder für den Kindergeldanspruch nicht berücksichtigt werden (BVerfGE 22, 163, 169, 173; 23, 258, 263, 264). Die Regelung ist nicht willkürlich und sachwidrig, trägt sie doch dazu bei, den Eingliederungsgedanken zu verwirklichen. Demgegenüber versagt der Gesichtspunkt, deutsche Kinder hätten das Grundrecht auf Freizügigkeit (Art 11 Abs 1 GG). Das Recht auf Freizügigkeit verbietet es dem Gesetzgeber nicht, an den ausländischen Aufenthalt und Wohnsitz für die Gewährung von Sozialleistungen bestimmte Folgen zu knüpfen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen