Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 10.04.1990) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 10. April 1990 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Der Kläger begehrt von der beklagten Landesversicherungsanstalt Rente wegen Berufsunfähigkeit.
Der 1939 geborene Kläger hat keinen Beruf erlernt. Er war von 1954 an in verschiedenen Sparten beschäftigt (ua als Walzwerker, Bauarbeiter, Beifahrer). Von 1971 bis 1975 arbeitete er als Kraftfahrer und von 1975 bis 1985 als Busfahrer. Wegen einer Erkrankung mußte er diese Tätigkeit aufgeben. Er arbeitete kurzzeitig als Kontrollschaffner und verlor dann auch diesen Arbeitsplatz aus gesundheitlichen Gründen. Von 1980 bis 1983 bezog er Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf Zeit.
Im Dezember 1984 beantragte der Kläger erneut die Gewährung von Rente. Die Beklagte lehnte den Antrag ab (Bescheid vom 5. Februar 1985). Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 10. Juli 1987). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteil vom 10. April 1990). Es hat im wesentlichen ausgeführt: Der Hauptberuf des Klägers als Omnibusfahrer sei ein Anlernberuf. In diesem Beruf könne er zwar nicht mehr arbeiten. Als angelernter Arbeiter könne der Kläger aber zB verwiesen werden auf die Tätigkeit einer Hilfskraft in der Poststelle. Eine solche Tätigkeit könne er gesundheitlich noch ausüben.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts (§ 1246 Reichsversicherungsordnung ≪RVO≫). Der Omnibusfahrer sei als Facharbeiter anzusehen.
Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil und das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 10. Juli 1987 sowie den Bescheid der Beklagten vom 5. Februar 1985 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger Rente wegen Berufsunfähigkeit bzw Übergangsgeld ab dem 1. Januar 1985 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers ist im Sinne der Zurückverweisung (§ 170 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) begründet. Das LSG hat bei seiner Entscheidung § 1246 Abs 2 RVO nicht richtig angewandt.
Zutreffend hat das LSG als bisherigen Beruf des Klägers den des Busfahrers angesehen, den der Kläger nach den unangefochtenen und deshalb für das Revisionsgericht gemäß § 163 SGG bindenden Feststellungen des LSG nicht mehr ausüben kann.
Der erkennende Senat hat in ständiger Rechtsprechung auch Versicherte, die – wie der Kläger – in Tätigkeitsbereichen ohne anerkannte Ausbildung oder mit einer Ausbildung bis zu zwei Jahren gearbeitet haben, im Rahmen des für die Zumutbarkeit einer Verweisungstätigkeit im Sinne des § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO maßgebenden Berufsgruppenschemas der Gruppe mit dem Leitberuf des Facharbeiters zugeordnet, wenn diese Tätigkeiten den anerkannten Ausbildungsberufen mit einer mehr als zweijährigen Ausbildung – insbesondere wegen ihrer Bedeutung für den Betrieb – tarifvertraglich qualitativ gleichgestellt sind (vgl die Urteile in BSGE 43, 243 = SozR 2200 § 1246 Nr 16, BSGE 56, 72 = SozR aaO Nr 111, SozR aaO Nrn 116, 122, 123, BSGE 58, 239 = SozR aaO Nr 129 und SozR aaO Nr 164). Gerade bezüglich des bisherigen Berufs als Busfahrer hat der Senat diese Rechtsprechung durch das zur Veröffentlichung bestimmte Urteil vom heutigen Tage in der Sache 5 RJ 82/89 bestätigt. Auf die dortige eingehende Begründung wird für den vorliegenden Fall verwiesen (vgl auch das weitere Urteil vom heutigen Tage in der Sache 5 RJ 59/90).
Entgegen der Auffassung des LSG ist der Kläger als Busfahrer einem gelernten Facharbeiter mit einer mehr als zweijährigen Ausbildung tarifvertraglich gleichgestellt, so daß der bisherige Beruf des Klägers nach der aufgezeigten Rechtsprechung in die Gruppe mit dem Leitberuf des Facharbeiters einzubeziehen ist. Nach den vom LSG eingeholten Arbeitgeberauskünften ist der Kläger als Busfahrer anfangs nach Lohngruppe F III und später nach Lohngruppe F IV des Bezirkszusatztarifvertrages (BZT) Nordrhein-Westfalen zum Bundesmanteltarifvertrag für Arbeiter gemeindlicher Verwaltungen und Betriebe (BMT-G II) entlohnt worden. Nach den für das Revisionsgericht gemäß § 163 SGG bindenden Feststellungen des LSG ist bereits die Lohngruppe F III mit den Monatstabellenlöhnen der Facharbeiterlohngruppe VI des Monatslohntarifvertrages zum BMT-G II ausgestattet. Damit liegt die für die Zuordnung zum Leitberuf des Facharbeiters erforderliche tarifvertragliche qualitative Gleichstellung vor. Eine abweichende Bestimmung des qualitativen Wertes wäre nur ausnahmsweise zulässig, wenn die tarifliche Gleichstellung wegen mit der Tätigkeit verbundener Nachteile und Erschwernisse oder aus sozialen Gründen erfolgt wäre (vgl Urteil des erkennenden Senats vom heutigen Tage in der Sache 5 RJ 82/89). Den Feststellungen des LSG ist zu entnehmen, daß ein derartiger Ausnahmefall hier nicht vorliegt.
Das LSG stützt seine abweichende Entscheidung vielmehr auf die „Schaffung unterschiedlicher Lohngruppenverzeichnisse” und folgert daraus, daß bei einer gewollten Gleichstellung des Busfahrers mit einem gelernten Facharbeiter mit einer Ausbildung von mindestens 2 1/2 Jahren „es sich angeboten hätte”, die Tätigkeit unter den Abschnitten a bis e zur Lohngruppe V oder VI konkret aufzuführen. Darauf kann es indes nicht entscheidend ankommen. Die Bezeichnung von Tätigkeiten in verschiedenen Lohngruppen schließt deren inhaltliche tarifliche Gleichstellung nicht a priori aus. Diese kann vielmehr sowohl vertikal durch direkte Einbeziehung in die Facharbeiterlohngruppe oder horizontal durch Verweisung auf die Lohnhöhe dieser Gruppe erfolgen. Dies ergibt sich schon daraus, daß ebenfalls unter den Geltungsbereich des BMT-G II fallende Busfahrer in anderen Bezirkslohntarifverträgen entweder in den Facharbeiterlohngruppen V und VI zusätzlich aufgeführt sind (so zB im BZT Rheinland-Pfalz, im BZT Baden-Württemberg und im BZT Saar jeweils zum BMT-G II) oder direkt in die Lohngruppe V und VI eingruppiert sind (so zB in § 2 Anlage 1 zum Bezirklichen Monatslohntarifvertrag Niedersachsen für im Fahrdienst beschäftigte Arbeiter). Da dieselbe berufliche Tätigkeit von Arbeitnehmern, die unter den gleichen Bundesmanteltarifvertrag fallen, tarifvertraglich nur einheitlich bewertet werden kann, entspricht die in dem für den Kläger geltenden Lohntarifvertrag zum BMT-G II gewählte tarifliche Gleichstellung mit den Facharbeiterlohngruppen in Form der effektiven Entlohnung im Ergebnis den in anderen Tarifverträgen zum BMT-G II gewählten Gleichstellungsformen. Ein abweichender Wille der Tarifvertragsparteien in dem für den Kläger geltenden Lohntarifvertrag ist insoweit nicht zu erkennen. Ein solcher wäre auch – wie dargelegt – mit dem Grundsatz der einheitlichen Bewertung der Tätigkeiten durch die Einzeltarifvertragsparteien im Rahmen eines für sie alle geltenden Bundesmanteltarifvertrages nicht zu vereinbaren (vgl § 20 BMT-G II iVm § 2 Abs 1 des Rahmentarifvertrages zu § 20 Abs 1 BMT-G II).
Da der bisherige Beruf des Klägers somit im Rahmen des vom Bundessozialgericht entwickelten Berufsgruppenschemas der Gruppe mit dem Leitbild des Facharbeiters zuzuordnen ist, wird das LSG neu zu prüfen haben, ob für den Kläger noch ein zumutbarer Verweisungsberuf vorhanden ist, der die Gewährung der begehrten Rente wegen Berufsunfähigkeit ausschließt.
Die Kostenentscheidung bleibt dem Berufungsgericht vorbehalten.
Fundstellen