Leitsatz (amtlich)
1. Ist ein Sachurteil des LSG wegen eines Verfahrensmangels, der nicht die Zulässigkeit der Berufung betrifft, aufgehoben und der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen worden, so ist das LSG nicht durch die in seinem ersten Urteil dargelegte Rechtsauffassung, die Berufung sei zulässig, daran gehindert, die Berufung als unzulässig zu verwerfen.
2. Hat ein Kassenarzt gegen einen Honorarkürzungsbescheid für ein bestimmtes Abrechnungsvierteljahr Anfechtungsklage mit der Begründung erhoben, der Honorarverteilungsmaßstab sei nichtig, und hat er daneben die Feststellung beantragt, daß die beklagte Kassenärztliche Vereinigung nicht berechtigt sei, den beanstandeten Honorarverteilungsmaßstab anzuwenden, so werden die nach Klageerhebung unter Anwendung des Honorarverteilungsmaßstabes erlassenen Honorarkürzungsbescheide Gegenstand des Verfahrens, auch wenn sie nicht in unmittelbarer Folge auf den ausdrücklich angefochtenen Honorarkürzungsbescheid ergangen sind (Fortführung BSG 1960-11-24 6 RKa 3/59 SozR Nr 14 zu § 96 SGG ).
Normenkette
SGG § 170 Abs. 4 Fassung: 1953-09-03, § 96 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 4. September 1963 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
Der Kläger gehört als Kassenarzt der beklagten Kassenärztlichen Vereinigung (KÄV) an. Diese hatte mit Wirkung vom 1. Oktober 1956 "Grundsätze der Honorarverteilung" beschlossen, die für bestimmte Leistungen und von bestimmten Honorarhöhen an eine Honorarbegrenzung durch Anwendung eines "Begrenzungsmaßstabs" vorsahen. Auf Grund dieser Honorarbegrenzung erhielt der Kläger für das zweite Vierteljahr 1957 (II/1957) statt der angeforderten 10.423,70 "Preugo-Mark" nur 9.576,- "Preugo-Mark".
Der Widerspruch des Klägers wurde vom Vorstand der beklagten KÄV mit der Begründung zurückgewiesen, die vom Kläger beanstandete Honorarbegrenzung beruhe auf autonomer Rechtssetzung der gewählten Abgeordneten (Bescheid vom 12. Februar 1958, dem Kläger mitgeteilt durch Schreiben des Vorstandsvorsitzenden vom 19. Februar 1958).
Mit der Klage vor dem Sozialgericht (SG) machte der Kläger geltend, daß die Honorarstaffelung und die in ihr liegende Honorarbegrenzung gegen § 368 f der Reichsversicherungsordnung (RVO) verstoße.
Er beantragte,
1. den Abrechnungsbescheid II/1957 der Beklagten insoweit aufzuheben, als durch ihn dem Kläger von den für II/1957 abgerechneten Leistungen 847,30 PrMark gestrichen worden sind,
2. die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger zusätzlich zu den für II/1957 geleisteten Zahlungen 847,30 PrMark zu der für II/1957 maßgebenden Quote zu zahlen,
hilfsweise,
die Beklagte zu verurteilen, zu unterlassen, für II/1957 und die folgenden Quartale die Grundsätze der Honorarverteilung der KV Hessen, gültig ab 1.10.1956 bzw. vom 7.9.1957 bzw. 31.5.1958 zur Anwendung zu bringen.
Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 14. November 1958). Es hat die Berufung als zulässig angesehen, wie sich aus der Rechtsmittelbelehrung ergibt.
Die Berufung des Klägers wurde vom Landessozialgericht (LSG) als zulässig, jedoch als unbegründet angesehen (Urteil vom 26. Mai 1959). Auf die Revision des Klägers hob das Bundessozialgericht (BSG) das Urteil des LSG auf und verwies den Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurück, weil ein Landessozialrichter an der angefochtenen Entscheidung mitgewirkt hatte, der von der Ausübung des Richteramts kraft Gesetzes ausgeschlossen gewesen war (Urteil vom 25. September 1962). In den Urteilsgründen hatte das BSG darauf hingewiesen, das LSG werde, wenn es zu einer Entscheidung in der Sache selbst komme, zu prüfen haben, ob die Revision - entgegen seiner Entscheidung im aufgehobenen Urteil - zuzulassen sei.
In der erneuten Verhandlung vor dem LSG hat der Kläger beantragt,
1. das Urteil des SG Frankfurt (M) vom 14. November 1958, den Widerspruchsbescheid vom 12. Februar 1958 aufzuheben und den Honorarkürzungsbescheid für II/1957 dahin abzuändern, daß an den Kläger 847,30 Preugo-Mark nachgezahlt werden,
2. festzustellen, daß die Beklagte nicht berechtigt ist, bei der Honorarabrechnung ab 1. Juli 1957 die Grundsätze der Honorarverteilung der KV Hessen in der ab 1. Oktober 1956 geltenden Fassung anzuwenden.
Das LSG hat nunmehr die Berufung als unzulässig verworfen; die Revision wurde nicht zugelassen (Urteil vom 4. September 1963). Das LSG ist davon ausgegangen, der Berufungsantrag zu 1) betreffe den Honoraranspruch für II/1957, somit einen Anspruch auf wiederkehrende Leistungen für einen Zeitraum bis zu drei Monaten. Wegen eines solchen Anspruchs sei die Berufung nicht zulässig (§ 144 Abs. 1 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Dies festzustellen, sei das Berufungsgericht auch nicht durch den Hinweis des BSG in den Gründen seines Urteils gehindert, das LSG werde die Zulassung der Revision zu prüfen haben, wenn es zu einer Entscheidung in der Sache selbst komme. - Der Berufungsantrag zu 2) - auf Feststellung der Nichtigkeit der vom 1. Oktober 1956 an geltenden Grundsätze der Honorarverteilung gerichtet - habe gegenüber dem Berufungsantrag zu 1) keine selbständige Bedeutung. Außerdem bezwecke er eine abstrakte Normenkontrolle, die im Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit unzulässig sei.
Gegen dieses Urteil hat der Kläger Revision eingelegt mit dem Antrag,
unter Abänderung des angefochtenen Urteils
1. den Honorarkürzungsbescheid für das 2. Quartal 1957 dahin abzuändern, daß an den Kläger 847,30 Preugo-Mark nachgezahlt werden;
2. festzustellen, daß die Beklagte nicht berechtigt ist, bei der Honorarabrechnung ab 1. Juli 1957 die Grundsätze der Honorarverteilung der KV Hessen in der ab 1. Oktober 1956 geltenden Fassung anzuwenden.
Er hat gerügt, das LSG habe zu Unrecht die Berufung als unzulässig verworfen, anstatt eine Entscheidung in der Sache selbst zu treffen: Das LSG habe in seiner ersten Entscheidung (Urteil vom 26. Mai 1959) die Berufung als zulässig angesehen.
An diese Beurteilung sei das Berufungsgericht bei seiner neuen Verhandlung und Entscheidung gebunden, wenn nicht besondere Umstände - die hier nicht ersichtlich seien - eine andere Beurteilung rechtfertigten. - Auch durch das den Rechtsstreit zurückverweisende Urteil des BSG sei das LSG zu einer Entscheidung in der Sache selbst verpflichtet worden. - Zu Unrecht habe das LSG schließlich angenommen, es handele sich einerseits um einen Honoraranspruch für II/1957, andererseits um eine abstrakte Normenkontrollklage. Wie das Klagevorbringen erkennen lasse, sei das Ziel der Klage darauf gerichtet, ein unverkürztes Honorar nicht nur für den Abrechnungszeitraum II/1957, sondern auch für die späteren Abrechnungsperioden zu erstreiten, soweit sie einer "Honorarbegrenzung" nach den vom 1. Oktober 1956 an gültigen "Grundsätzen der Honorarverteilung" unterzogen worden seien. Demnach greife der Berufungsausschließungsgrund des § 144 Abs. 1 Nr. 2 SGG nicht durch.
Die beklagte KÄV hat beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen.
Sie hält es zum mindesten für zweifelhaft, ob das LSG an die in seiner ersten Entscheidung getroffene Beurteilung der Zulässigkeit der Berufung gebunden gewesen sei. - Durch das zurückverweisende Urteil des BSG sei das LSG sicher nicht daran gehindert worden, die Zulässigkeit der Berufung anders als bei seiner ersten Entscheidung zu beurteilen. Der Hinweis in den Urteilsgründen: "Kommt es zu einer Entscheidung in der Sache selbst ...", könnte sogar als Ausdruck des Zweifels verstanden werden, ob das LSG überhaupt zu einer Sachentscheidung befugt sei. - Zutreffend habe das LSG angenommen, daß ein Zahlungsanspruch nur wegen des Abrechnungszeitraums II/1957 geltend gemacht sei und im übrigen eine aus prinzipiellen Gründen im Interesse seiner Kollegen erhobene Klage auf Feststellung der Nichtigkeit von Normen vorliege. - Die beklagte KÄV hat aber eingeräumt, daß die Honoraranforderungen des Klägers für IV/1957, II/1958, III/1958 und I/1959 einer "Honorarbegrenzung" nach den "Grundsätzen der Honorarverteilung" unterzogen worden seien.
Die Revision ist begründet. Zu Unrecht hat das LSG durch Prozeßurteil die Berufung als unzulässig verworfen, anstatt in der Sache selbst zu entscheiden.
Allerdings war das LSG nicht, wie die Revision meint, schon deshalb zu einer Entscheidung in der Sache selbst verpflichtet, weil es in seiner ersten - später vom BSG aufgehobenen - Entscheidung davon ausgegangen ist, daß die Berufung zulässig ist. Mit der Aufhebung seines Urteils und der Zurückverweisung des Rechtsstreits zur neuen Verhandlung und Entscheidung hatte das LSG - bis auf die sich aus § 170 Abs. 4 SGG ergebende Bindung - seine volle Freiheit wiedergewonnen (RG vom 29. September 1940 in Warneyer, Rechtspr. d. RG 1941 Nr. 2 S. 5, 8; Rosenberg, Lehrb. d. Dtsch. Zivilprozeßrechts, 9. Aufl., § 143 III 1 b, S. 716).
Wohl aber hatte das LSG die rechtliche Beurteilung, die der Aufhebung seines Urteils zugrunde gelegt ist, auch seiner Entscheidung zugrunde zu legen (§ 170 Abs. 4 SGG). Zwar bringt dies § 170 Abs. 4 SGG nicht so klar zum Ausdruck, wie § 565 Abs. 2 der Zivilprozeßordnung (ZPO). Wie der erkennende Senat in seiner Entscheidung vom 28. September 1961 (BSG 15, 127, 129 f) näher dargelegt hat, kann jedoch dieser Unterschied in der Wortfassung nicht zu einer anderen Beurteilung der Bindung des Untergerichts an die Entscheidung des Revisionsgerichts führen. Demnach besteht eine Bindung des Berufungsgerichts an die im zurückverweisenden Urteil enthaltene "rechtliche Beurteilung des Revisionsgerichts" (§ 170 Abs. 4 SGG) nur insoweit, als diese zur Aufhebung des Urteils geführt hat. Das Berufungsgericht darf die vom Revisionsgericht gerügten Fehler, die zur Aufhebung geführt haben, nicht wiederholen, ist aber im übrigen in seiner Entscheidung frei.
Das Urteil des LSG vom 26. Mai 1959 wurde allein deswegen aufgehoben, weil ein Landessozialrichter an der Entscheidung mitgewirkt hatte, der von der Ausübung des Richteramts kraft Gesetzes ausgeschlossen gewesen war. Nur insoweit war deshalb das LSG bei seiner neuen Verhandlung und Entscheidung gebunden. Über die Frage der Zulässigkeit der Berufung hatte das BSG überhaupt nicht entschieden. Der beklagten KÄV ist zuzustimmen, wenn sie den Hinweis des BSG auf Prüfung der Zulassungsnotwendigkeit, eingeleitet mit den Worten: "Kommt es zu einer Entscheidung in der Sache selbst ...", dahin versteht, daß damit dem LSG nahegelegt werden sollte, seine bisher nicht begründete und nicht zweifelsfreie Annahme, die Berufung sei zulässig, einer genaueren Prüfung zu unterziehen. Das LSG war somit berechtigt und verpflichtet, die Frage der Zulässigkeit der Berufung ungehindert durch sein eigenes früheres Urteil und das des BSG selbständig zu prüfen und hiernach seine Entscheidung zu treffen.
Bei dieser Entscheidung hat das LSG aber das im Berufungsverfahren aufrecht erhaltene Klageziel unrichtig gewürdigt. Der Kläger will, wie sein Vorbringen in allen Instanzen zeigt, nicht nur in einem Vierteljahr - II/1957 -, sondern auch in den späteren Abrechnungszeiträumen, bei denen seine Honoraranforderung einer "Honorarbegrenzung" nach den vom 1. Oktober 1956 an gültigen Grundsätzen der Honorarverteilung unterzogen ist, von dieser Honorarbegrenzung freigestellt sein und ein ungekürztes Honorar erhalten. Das ist bei verständiger Würdigung des "vom Kläger erhobenen Anspruchs" (§ 123 SGG) der Sinn des Klagebegehrens. Daß der Kläger das Abrechnungsvierteljahr II/1957 besonders genannt und im übrigen einen Feststellungsantrag gestellt hat, erklärt sich daraus, daß bei Klageerhebung erst ein Kürzungsbescheid - nämlich der für II/1957 - vorlag. Beide Berufungsanträge - die auf II/1957 bezogene Aufhebungs- und Verpflichtungsklage und die allgemein gehaltene Feststellungsklage - müssen demnach im Zusammenhang gewürdigt und dahin verstanden werden, daß der Kläger seine eigene Beschwer, soweit sie auf der Honorarbegrenzung beruht, geltend machen will. Dem steht nicht entgegen, daß der Kläger während des Rechtsstreits betont hat, er habe in erster Linie aus prinzipiellen Gründen und im Interesse seiner Kollegen Klage erhoben. Damit hat der Kläger nur seine Motive für die Klageerhebung dargelegt, die im übrigen nicht ausschließen, daß er auch seine eigenen Interessen verfolgt. Der "vom Kläger erhobene Anspruch" ist von den Motiven der Klageerhebung unabhängig und wird durch das Klagevorbringen bestimmt, mit dem der Kläger im vorliegenden Fall genügend deutlich zu erkennen gegeben hat, daß er Abhilfe für seine eigene Beschwer begehrt.
Bei dieser Sachlage sind auch die in den Berufungsanträgen nicht ausdrücklich genannten Honorarabrechnungen nach II/1957, soweit sie einer "Honorarbegrenzung" unterzogen sind, Gegenstand des Verfahrens. Der Senat hat bereits in entsprechender Anwendung des "dem Vertrauensschutz und der Prozeßökonomie dienenden" § 96 SGG ausgesprochen, daß auch die nach Klageerhebung im Anschluß an den angefochtenen Bescheid in gleicher Weise berechneten weiteren Honorarbescheide Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens sind, wenn sie auf Grund desselben Rechtsverhältnisses ergangen sind und unter Aufrechterhaltung des vom Kläger beanstandeten Rechtsstandpunkts den von ihm ursprünglich angefochtenen Bescheid insofern ergänzen, als sie seine Honoraransprüche im Anschluß an den Erstbescheid für die spätere Zeit regeln (Urteil vom 24. November 1960 - 6 RKa 3/59 - in SozR § 96 Bl. Da 5 Nr. 14). Diese Voraussetzungen sind auch im vorliegenden Fall gegeben. Es wäre angesichts des Prozeßverhaltens beider Beteiligten, die klar zu erkennen gegeben haben, daß sie an ihren zunächst bei der Honorarabrechnung für II/1957 dargelegten, einander widerstreitenden Rechtsauffassungen auch für die Folgezeit festhalten, ein - mit unnötiger Belastung der Beteiligten und der Gerichte verbundener - leerer Formalismus, wenn die Beteiligten bei den späteren Honorarabrechnungen, soweit sie einer Honorarbegrenzung unterzogen sind, genötigt gewesen wären, ihren Rechtsstandpunkt in sich ständig wiederholenden Widerspruchsverfahren und Prozessen zu bekräftigen. Dies gilt auch dann, wenn sich - wie im vorliegenden Fall - der umstrittene Rechtsstandpunkt nur bei einem Teil der Abrechnungsbescheide auswirkt; denn die Abrechnungsbescheide, die Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens geworden sind, liegen zweifelsfrei fest, auch wenn sie nicht ausdrücklich genannt sind.
Demnach betrifft der vorliegende Rechtsstreit nicht nur II/1957, sondern auch die späteren Honorarabrechnungen des Klägers, soweit sie einer Honorarbegrenzung unterzogen sind. Deshalb greift hier nicht § 144 Abs. 1 Nr. 2 SGG, sondern die Regel des § 143 SGG Platz. Die Berufung ist zulässig.
Demnach muß das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden. Dabei wird das LSG darauf hinzuwirken haben (vgl. § 106 SGG), daß der Klageantrag nach dem Prozeßstand im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung klargestellt und auch ausdrücklich auf die umstrittenen Abrechnungsvierteljahre bezogen wird. Die Kostenentscheidung bleibt dem Urteil des LSG vorbehalten.
Fundstellen