Leitsatz (amtlich)
Gegen einen Bescheid, der die begehrte Rentenerhöhung mangels einer Änderung der Verhältnisse ablehnt, kann der Beschädigte die Klage wahlweise unmittelbar oder erst nach Durchführung eines Vorverfahrens erheben (Fortführung von BSG 1976-03-10 10 RV 185/75).
Normenkette
SGG § 78 Abs. 2 Fassung: 1974-07-30; BVG § 62 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1964-02-21
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 16. Mai 1975 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I.
Der 1915 geborene Kläger bezieht seit 1950 Grundrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 v.H. wegen Verletzungsfolgen am rechten Knie. Im Oktober 1974 beantragte er die Neufeststellung seiner Versorgungsbezüge wegen einer inzwischen aufgetretenen Gallen- und Leberkrankheit, die er auf eine 1945 durchgemachte Gelbsucht zurückführte. Das Versorgungsamt (VersorgA) lehnte den Antrag mit dem im Januar 1975 zur Post gegebenen Bescheid vom 5. Dezember 1974 ab. In der beigefügten Rechtsbehelfsbelehrung führte es u.a. aus, gegen den Bescheid könne innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe entweder Widerspruch oder unmittelbar Klage erhoben werden. Das Sozialgericht (SG) hat die vom Kläger sogleich erhobene Klage als unzulässig abgewiesen, weil das gesetzlich vorgeschriebene Vorverfahren nicht durchgeführt worden sei, es also an einer Prozeßvoraussetzung fehle; es hat Berufung und Sprungrevision zugelassen (Urteil vom 16. Mai 1975) Es handele sich um eine Verpflichtungsklage, bei der entgegen der Weigerung des Beklagten vor Klageerhebung die Rechtmäßigkeit des ablehnenden Bescheides in einem Vorverfahren nachzuprüfen sei (§ 78 Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz -SGG- nF). Das Begehren des Klägers sei auf die Verurteilung zum Erlaß eines abgelehnten Verwaltungsakts gerichtet. Der Kläger fordere mittels Neufeststellungsbescheid die Einräumung des Sozialleistungsanspruchs und die Beseitigung der bindenden Wirkung des Umanerkennungsbescheides von 1952, weil dieser nachträglich unrichtig geworden sei. Daß mit der Klage denknotwendig auch die Aufhebung des eine Neufeststellung verweigernden Bescheides begehrt werde, ändere nichts an dem Gesamtcharakter der Verpflichtungsklage, für die das Widerspruchsverfahren nicht entfalle. Der angefochtene Bescheid betreffe keine Leistung, auf die ein Rechtsanspruch bestehe, sondern vorrangig die Frage nach der Bestandskraft des Umanerkennungsbescheides.
Zwar stehe ein Bescheid nach § 62 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) nicht im Ermessen der Verwaltung, jedoch sei seine Erteilung auch keine Leistung im Sinne von §§ 54 Abs. 4, 78 Abs. 2 SGG nF, auf die ein Rechtsanspruch bestehe. Mit einem Verwaltungsakt, der eine Leistung betreffe, auf die ein Rechtsanspruch bestehe, seien nur solche Bescheide gemeint, die dem Anspruch auf die Leistung nur nachfolgten und des Rechtsscheins, der Bindung nach § 77 SGG, und der Rechtsfolgen wegen erforderlich seien. § 78 Abs. 2 SGG nF meine mithin nur solche Bescheide, deren regelnde Bedeutung sich darin erschöpfe, daß der Anspruch zwischen den Beteiligten auf der Verwaltungsebene nicht mehr Streitgegenstand sein solle. Von dieser Auffassung sei auch das Bundessozialgericht (BSG) in seiner Rechtsprechung zu § 1300 der Reichsversicherungsordnung -RVO- (SozR § 79 SGG Nr. 11 = BSG 20, 199) ausgegangen. Dem Wortlaut und Sinn des § 1300 RVO und des § 62 BVG seien Gemeinsamkeiten eigen, nämlich die Frage, ob die Regelung eines bestandskräftigen Bescheides deshalb hinfällig werden solle, weil sie materiell-rechtlich unrichtig sei, entweder von vornherein oder durch nachträglich veränderte Umstände. Der Anwendung des § 78 Abs. 3 SGG auf die Anfechtung von Neufeststellungsbescheiden nach § 62 BVG stehe ein etwa anders lautender Wille des Gesetzgebers (BT-Drucks. VI/2006 - 7/861 - VII/2024), wonach in der Kriegsopferversorgung der Berechtigte bei Ansprüchen auf Versorgungsleistungen die Wahl zwischen Widerspruch und Klage haben sollte, nicht entgegen, weil die unmittelbare Klagemöglichkeit in allen Erstfeststellungsfällen erhalten bleibe.
Gegen dieses Urteil hat der Kläger mit schriftlicher Zustimmung des Beklagten Revision eingelegt und die Verletzung formellen Rechts (§ 78 Abs. 2 erster Halbsatz SGG nF) gerügt. Die Revision macht im einzelnen geltend, inwiefern nach ihrer Ansicht die Darlegungen des SG zu § 78 SGG nF auf einer völligen Verkennung des Gesetzes beruhen.
Der Kläger beantragt,
die Sache unter Aufhebung des Urteils erster Instanz an das SG zurückzuverweisen.
Der Beklagte schließt sich diesem Antrag an. Er meint, bei der vorliegenden Klage handele es sich um eine Kombination von Anfechtungs- und Leistungsklage, die nach § 78 Abs. 2 SGG nF "wahlweise" ohne Vorverfahren zulässig sei. Das Begehren des Klägers sei nicht nur auf die Erteilung eines Verwaltungsakts gerichtet, der die Bestandskraft des Umanerkennungsbescheides von 1952 durchbrechen solle, sondern auf die Anerkennung zusätzlicher Schädigungsfolgen und die Gewährung höherer Rente. Träfe die Ansicht des SG zu, wäre die "Vergünstigung" des § 78 Abs. 2 SGG nF zur Bedeutungslosigkeit verurteilt. Zwischen § 1300 RVO und § 62 BVG bestehe ein fundamentaler Unterschied. Eine anfängliche Unrichtigkeit werde in der Kriegsopferversorgung nach § 40 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VerwVG) beseitigt, der der Verwaltung einen Ermessensspielraum einräume, während eine nachträgliche Unrichtigkeit von § 62 BVG erfaßt werde, der keinen Ermessensspielraum vorsehe. Das SG hätte somit über die zulässige Klage durch Sachurteil entscheiden müssen.
Die Beteiligten haben sich mit einem Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 SGG).
II.
Die vom SG zugelassene Sprungrevision ist statthaft, weil der Beklagte ihrer Einlegung schriftlich zugestimmt hat (§ 161 Abs. 1 SGG). Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das SG (§ 170 Abs. 2 SGG).
Streitig ist, ob das SG in der Sache selbst hätte entscheiden müssen oder ob es im Hinblick auf die Weigerung des Beklagten, ein Vorverfahren durchzuführen, ein Prozeßurteil hat fällen dürfen. Für die Beantwortung dieser Frage kommt es vor allem darauf an, wie § 78 Abs. 2 SGG in der hier anzuwendenden Fassung des Gesetzes zur Änderung des SGG vom 30. Juli 1974 (BGBl I, 1625, vgl. Art. III und VI) auszulegen ist. Vor Inkrafttreten des ÄndG am 1. Januar 1975 waren alle Verwaltungsakte in Angelegenheiten der Kriegsopferversorgung(KOV) nach § 80 Nr. 1 SGG aF vor Erhebung der Klage in einem Vorverfahren nachzuprüfen. Diese Sonderstellung der KOV-Angelegenheiten hat das ÄndG beseitigt. Verwaltungsakte aus diesem Gebiet unterliegen jetzt der allgemeinen Regelung des § 78 SGG nF. Nach dessen Abs. 2 Satz 1 ist die Anfechtungsklage auch ohne Vorverfahren zulässig, wenn die Aufhebung oder Änderung eines Verwaltungsakts begehrt wird, der eine Leistung betrifft, auf die ein Rechtsanspruch besteht; bei Verpflichtungsklagen jedoch gilt nach § 78 Abs. 3 SGG nF der Abs. 1 entsprechend, der eine Wahlmöglichkeit zwischen Klage und Widerspruch - von hier nicht zu erörternden Sonderfällen abgesehen - grundsätzlich ausschließt. Durch § 78 Abs. 2 SGG nF. wird dem durch einen Verwaltungsakt Betroffenen gegen früher einerseits (Unfallversicherung und Rentenversicherung) in vermehrtem Umfang die Möglichkeit eingeräumt, ein Vorverfahren durchführen zu lassen, andererseits aber (KOV) von einem solchen wahlweise abzusehen und unmittelbar Anfechtungsklage zu erheben. Die für diese Gesetzesänderung maßgebenden Motive sind den BT-Drucksachen VI/2006 - VII/861, 2024 zu entnehmen. Aus ihnen ist nichts für die vom SG vertretene Ansicht herzuleiten.
Die Erwägungen, auf Grund deren das SG zur Anwendbarkeit des § 78 Abs. 1 und 3 SGG nF gelangt ist, gehen davon aus, daß das Begehren des Klägers als Forderung nach einer Verurteilung zum Erlaß eines abgelehnten Verwaltungsakts (§ 54 Abs. 1 Satz 1 SGG) zu werten sei. Hierbei hat das SG - freilich ohne ausdrückliche Bezugnahme - offenbar an eine frühere Rechtsprechung angeknüpft, in der es kontrovers war, ob die "typische" Klagart zur Geltendmachung von Rentenansprüchen die Verpflichtungsklage nach § 54 Abs. 1 SGG (BSG 5, 61 ff) oder aber - so BSG 8, 3 ff - die Leistungsklage nach § 54 Abs. 4 SGG sei (zu dieser Kontroverse vgl. Menger, Verw.Arch. Bd. 51/1960, 149, 159 ff; Peters/Sautter/Wolff, Komm. zur SGb, Anm. 6 b zu § 54, S. 185/13 -2-, jeweils mit w.Nachw.). Die Entscheidung vom 27. März 1957 (BSG 5, 61) ist indessen später selbst vom 1. Senat nicht mit gleicher dogmatischer Strenge fortgeführt worden (vgl. BSG 36, 181, 183, 188, 190); außerdem hat sich eine der für sie maßgebenden Erwägungen - nämlich zur Bedeutung eines Grundurteils nach § 130 SGG (BSG 5, 64 f) - nachträglich als unzutreffend erwiesen (vgl. BSG 271 81 ff. SozR 1500 § 154 SGG Nr. 3).
Mit der Einordnung der hier anhängigen Klage unter § 54 Abs. 1 SGG hat das SG das Ziel des Klagbegehrens verkannt. Der Kläger hat beantragt, den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 5. Dezember 1974 zu verurteilen, ihm durch Neufeststellungsbescheid ab 1. Oktober 1974 Grundrente nach einer MdE von mehr als 30 v.H. unter Anerkennung eines Gallen- und Leberleidens als weitere Schädigungsfolgen zu gewähren. Dieses Begehren ist vorrangig auf eine Leistung gerichtet, auf die ein Rechtsanspruch besteht, wenn ihre Voraussetzungen nach § 62 BVG vorliegen; es darf nicht wegen des Verlangens nach einem Neufeststellungsbescheid in eine Verpflichtungsklage umgedeutet werden, mit der das erstrebte Ziel nicht unmittelbar zu erreichen ist. Denn die Verwaltung hat hauptsächlich nicht den Erlaß eines beantragten Verwaltungsaktes abgelehnt, sondern die begehrte Leistung verweigert. Der Verpflichtung zum Erlaß eines Bescheides kommt daneben nur unselbständige und untergeordnete Bedeutung zu (Peters/Sautter/Wolff aaO S. 185/13 -2/1-).
Wie der 10. Senat in dem zur Veröffentlichung bestimmten Urteil vom 10. März 1976 - 10 RV 185/75 - in einem ähnlich gelagerten Fall (höhere Stufe der Pflegezulage wegen Änderung der Verhältnisse) ausgeführt hat, gibt die Prozeßordnung dem Rechtsuchenden das Recht, den begehrten Rechtsschutz auf dem dafür vorgesehenen kürzesten Weg in Anspruch zu nehmen, soweit ihm nicht aus Erwägungen rationeller Verfahrensweise ausdrücklich Wahlmöglichkeiten eingeräumt sind (§ 78 Abs. 2 Satz 1, § 161 Abs. 1 Satz 1 SGG); deshalb komme in Fällen dieser Art eine Verpflichtungsklage nicht in Betracht. Führt dieses Argument bereits beim Streit über eine höhere Pflegezulage, wo der Verwaltung dem ersten Anschein nach immerhin ein gewisser Beurteilungsspielraum eingeräumt sein könnte, zur Anwendung des § 78 Abs. 2 SGG nF, dann muß dies um so mehr gelten, wenn es um die Berücksichtigung einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse geht, die für die Feststellung des Anspruches auf Beschädigtenrente (§§ 30 Abs. 1 u. 2, 31 Abs. 1 BVG) maßgebend gewesen sind (§ 62 Abs. 1 BVG). Zutreffend hat das SG zwar ausgeführt, ein Bescheid gemäß § 62 BVG stehe nicht im Ermessen der Verwaltung, wenn die Voraussetzungen für die Anwendung dieser Vorschrift gegeben seien. Vollkommen abwegig ist jedoch -wie der Beklagte in der Revisionserwiderung mit Recht betont hat (s. auch Urt. 10 RV 185/75 vom 10.3.1976) - die vom SG gezogene Parallele zwischen solchen Verwaltungsakten und den Zugunstenbescheiden, bei denen übrigens statt des § 1300 RVO der für die KOV maßgebende § 40 Abs. 1 VerwVG hier in Frage käme. Zwischen Neufeststellungen nach § 62 BVG (entspr. §§ 622, 1286 RVO) einerseits und Zugunstenregelungen (§ 40 I VerwVG, §§ 627, 1300 RVO) andererseits bestehen bei der hier anzustellenden Betrachtung keine Gemeinsamkeiten, sondern die grundlegenden Unterschiede, daß in den erstgenannten Fällen das Gericht seine eigene Überzeugung an die Stelle der Verwaltungsüberzeugung setzen und unmittelbar zur Leistung verurteilen darf, wogegen es bei Zugunstenentscheidungen auf die vom Ermessen getragene Überzeugung des Leistungsträgers ankommt, deren gerichtliche Überprüfung grundsätzlich nur eine Verurteilung zum Erlaß eines ermessensfehlerfreien Verwaltungsakts ermöglicht. Zwar geht der Wortlaut "hat" in §§ 627, 1300 RVO weiter als in § 40 Abs. 1 VerwVG "kann", gemeinsam ist diesen Vorschriften aber, daß eine frühere Entscheidung rückwirkend beseitigt werden soll, weil sie von Anfang an unrichtig gewesen ist, während es sich bei Neufeststellungen gemäß § 62 BVG und §§ 622, 1286 RVO übereinstimmend um die Berücksichtigung gegenwärtiger Änderungen für die Zukunft handelt. Schon wegen dieser Wesensverschiedenheit der Vorschriften ist der Hinweis des SG auf BSG 20, 199 unbehelflich, kommt es doch bei § 62 BVG gerade nicht vorrangig darauf an, ob an einem bindenden Erstbescheid festzuhalten ist, weil sich dessen Voraussetzungen nicht als unzutreffend erwiesen haben, sondern ob eine Änderung der Verhältnisse, die diesem Bescheid zugrunde lagen, eingetreten ist. Dies hat zur Folge, daß bei einer Entscheidung gemäß § 62 BVG nicht über die in der Vergangenheit liegenden Verhältnisse zu befinden ist, sondern über die gegenwärtigen mit Wirkung für die Zukunft. Es kommt nicht zur Rücknahme oder Beseitigung eines früheren Bescheides, dieser dient vielmehr nur zu Vergleichszwecken. Er verliert nur ab dem Zeitpunkt der Änderung seine tatsächliche oder rechtliche Grundlage (BSG 7, 8; 19. 77). Dies hat das SG verkannt, wenn es die Unrichtigkeit "von vornherein" und diejenige durch nachträglich veränderte Umstände gleichbehandelt und deshalb die Durchführung eines Vorverfahrens als zwingende Prozeßvoraussetzung angesehen hat. Damit fehlt es aber an den Voraussetzungen für die Anwendung des § 78 Abs. 3 SGG für den vorliegenden Fall. Die obligatorische Durchführung eines Vorverfahrens ist in den Fällen des § 62 BVG gesetzwidrig und auch nicht sinnvoll.
Da es sich - entgegen der Ansicht des SG - bei der hier vorliegenden Anfechtung eines ablehnenden Neufeststellungsbescheides, um eine kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage handelt, ist § 78 Abs. 2 SGG nF uneingeschränkt anzuwenden, wonach dem Kläger eine Wahlmöglichkeit zwischen Widerspruch und Klage offensteht. Damit fehlt es der ohne Vorverfahren erhobenen Klage nicht an einer Sachentscheidungsvoraussetzung, das SG hat sie zu Unrecht durch Prozeßurteil abgewiesen. Es hat im Hinblick auf seine unrichtige Auffassung keine tatsächlichen Feststellungen getroffen, weshalb der Senat in der Sache selbst nicht zu entscheiden vermag.
Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens bleibt dem Endurteil der Tatsacheninstanz vorbehalten.
Fundstellen