Entscheidungsstichwort (Thema)

Beweiswert einer tatsächlich verrichteten Beschäftigung

 

Leitsatz (redaktionell)

Erbringt der Versicherte die "Leistungs- und Lohnhälfte des RVO § 1246 Abs 2" (hier: als Nachtportier von 20 Uhr abends bis 6 Uhr morgens), so hat die Schlußfolgerung, daß er in der Regel noch nicht berufsunfähig ist, im allgemeinen größeren Beweiswert als die "scheinbar dies ausschließenden medizinischen Befunde". Ausnahmen von dieser Regel bestehen nur, wenn der Versicherte auf Kosten der Gesundheit arbeitet oder eine abweichende, besonders günstige Arbeitsgelegenheit innehat (Anschluß an Urteil vom 1975-09-26 12 RJ 208/74 = SozR 2200 § 1247 Nr 12).

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23, § 1247 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

LSG Berlin (Entscheidung vom 28.01.1976; Aktenzeichen L 6 J 48/74)

SG Berlin (Entscheidung vom 15.03.1974; Aktenzeichen S 21 J 1489/71)

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 28. Januar 1976 wird aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird an das Landessozialgericht Berlin zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Der 1927 geborene Kläger war als Postjungbote, Hilfspostschaffner, Transportarbeiter und Kraftfahrer tätig. Zuletzt arbeitete er nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) vom 27. Januar bis zum 30. Dezember 1972 als Nachtportier bei einer Arbeitszeit von abends 20.00 Uhr bis morgens 6.00 Uhr. Den im Februar 1971 gestellten Rentenantrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 7. Mai 1971 ab, weil der Kläger weder erwerbs- noch berufsunfähig sei.

Das Sozialgericht (SG) hat mehrere ärztliche Gutachten eingeholt. Im Gegensatz zu dem Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. W, der insbesondere eine Manie der gereizten Form mit aggressiv-unkritischen Verhaltensweisen diagnostiziert und den Kläger nicht mehr für fähig gehalten hatte, gewinnbringende Tätigkeiten auszuüben, gelangte der Psychiater und Neurologe Prof. Dr. S bei der Diagnose "hypomanische Persönlichkeit" zu dem Ergebnis, der Kläger könne leichte Arbeiten 7 Stunden täglich verrichten. Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 15. März 1974).

Das LSG hat das Urteil und den Bescheid aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, Rente wegen Erwerbsunfähigkeit vom 1. März 1971 an zu gewähren (Urteil vom 28. Januar 1976). Es hat Erwerbsunfähigkeit ab Februar 1971 deshalb angenommen, weil im Gutachten des von ihm gehörten Nervenfacharztes Dr. B ausgeführt worden war, der psychopathologische Zustand des Klägers bestehe mindestens seit Februar 1971, der Kläger sei nur noch in der Lage, leichte Arbeit 4 Stunden täglich zu verrichten. Dem in der mündlichen Verhandlung gestellten Antrag, Beweis zu erheben, ob es sich bei den Arbeitsplätzen des Klägers in den Jahren 1971/72 um besonders günstige, vom Regelfall abweichende Arbeitsgelegenheiten gehandelt habe, sowie ein Ergänzungsgutachten von Dr. med. B einzuholen, ob dem Kläger ähnliche Tätigkeiten zumutbar seien, habe nicht entsprochen werden müssen. Dem Gutachter sei die Tätigkeit des Klägers als Nachtportier bekannt gewesen. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - (SozR Nr. 25 zu § 1247 Reichsversicherungsordnung - RVO -) sei ein Versicherter, der täglich nur noch 2 Stunden bis unterhalbschichtig arbeiten könne, grundsätzlich erwerbsunfähig, es sei denn, daß er einen Arbeitsplatz nicht nur vergönnungsweise innehabe oder ihm ein solcher Platz angeboten werde; das treffe auf den Kläger nicht zu.

Die Beklagte hat die vom Senat zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt insbesondere eine Verletzung des § 103 Sozialgerichtsgesetz (SGG), weil bei der Festsetzung des Versicherungsfalles nicht entsprechend dem Beweisantrag die tatsächliche Arbeitsleistung des Klägers genügend in die Beweiswürdigung einbezogen worden sei. Außerdem macht sie im wesentlichen geltend, das von Dr. B angenommene Leistungsvermögen des Klägers könne zeitlich nicht als unterhalbschichtig eingeordnet werden. Das LSG habe zu Unrecht angenommen, dem Kläger sei der Arbeitsmarkt verschlossen.

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Berlin zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs. 2 SGG).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit zurückverwiesen werden muß.

Die Beklagte rügt mit Recht, daß aufgrund der Ausführungen des Nervenfacharztes Dr. B das LSG nicht habe schließen dürfen, der Kläger sei seit Februar 1971 erwerbsunfähig. Das folgt allerdings nicht - wie die Beklagte anscheinend meint - schon daraus, daß sich das Berufungsgericht der von Dr. B dargelegten Beurteilung der Leistungsfähigkeit des Klägers angeschlossen, diesem Gutachten also den Vorzug vor anderen gegeben hat; insoweit handelt es sich um die Ausübung freier Beweiswürdigung. Das LSG überschätzt aber die Bedeutung des medizinischen Sachverständigen für die Frage, ob und wann Erwerbsunfähigkeit im Sinne des § 1247 Abs. 2 RVO eingetreten ist. Es hätte den Ausführungen des Gutachters, daß der psychopathologische Zustand des Klägers mindestens seit Februar 1971 bestehe und der Kläger nur noch in der Lage sei, leichte Arbeiten 4 Stunden täglich zu verrichten, zumindest nicht ohne weiteres entnehmen dürfen, das Leistungsvermögen des Klägers sei in diesem zeitlichen Umfang bereits seit der Rentenantragstellung eingeschränkt gewesen. Die Besonderheit liegt hier darin, daß den Feststellungen des Berufungsgerichts zufolge der Kläger zuletzt vom 27. Januar bis zum 30. Dezember 1972 als Nachtportier jeweils von 20.00 Uhr abends bis 6.00 Uhr morgens arbeitete. Nach ständiger Rechtsprechung des BSG kommt der tatsächlichen Arbeitsleistung ein stärkerer Beweiswert zu als medizinischen Befunden (SozR 2200 § 1247 Nr. 12 und SozR Nr. 24 zu § 1246 RVO; ferner BSGE 1, 82, 89 und SozR Nr. 10 zu § 1254 RVO a. F.). Die Schlußfolgerung, daß ein Versicherter, der die "Leistungs- und Lohnhälfte" des § 1246 Abs. 2 RVO erbringt, in der Regel noch nicht berufsunfähig ist, hat im allgemeinen größeren Beweiswert als die scheinbar dies ausschließenden medizinischen Befunde; das gilt auch für eine psychische Erkrankung (SozR 2200 § 1247 Nr. 12). Ausnahmen von dieser Regel sind dann anzunehmen, wenn es sich bei dem einzelnen Arbeitsplatz um eine abweichende, besonders günstige Arbeitsgelegenheit handelt, wenn die betreffende Tätigkeit unter unzumutbaren Schmerzen oder Beschwerden ausgeübt wird sowie in den Fällen, da die Tätigkeit zu einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes führt. Alle diese Fragen lassen sich nur aus der genauen Kenntnis der Umstände des einzelnen Falles heraus beantworten. Hierzu fehlen Feststellungen des LSG. Die Ermittlungen kann der Senat nicht selbst, sondern muß das Berufungsgericht durchführen. Es ist nicht auszuschließen, daß sich danach - möglicherweise auch nur für einen abgelaufenen Zeitraum - eine andere Beurteilungsgrundlage ergibt. Das LSG wird zweckmäßigerweise zunächst durch eine Arbeitgeberanfrage insbesondere feststellen, wie das Beschäftigungsverhältnis 1972 gestaltet war, welches Entgelt der Kläger erhielt und ob er etwa die entsprechende Leistung erbrachte. Erst danach kann eine nochmalige ärztliche Stellungnahme geboten sein. Das LSG wird dabei auch zu beachten haben, daß der Tatbestand, wonach der Kläger "vom 27. Januar bis 30. Dezember 1972 arbeitete", nicht eindeutig ist. Mag auch während dieser Zeit das Beschäftigungsverhältnis arbeitsrechtlich bestanden haben, so ist hier - wie überhaupt im Rahmen der §§ 1246, 1247 RVO - die (tatsächlich) geleistete Tätigkeit maßgebend. Der Akteninhalt läßt erkennen, daß der Kläger 1972 Zeiten der Arbeitsunfähigkeit zurückgelegt hat.

Während des Revisionsverfahrens hat der Große Senat des BSG mit Beschluß vom 10. Dezember 1976 (GS 2/75) eine neue Entscheidung zur Auslegung der §§ 1246, 1247 RVO getroffen. Danach darf der Versicherte auf Tätigkeiten für Teilzeitarbeit nicht verwiesen werden, wenn ihm für diese Tätigkeiten der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen ist. Das ist der Fall, wenn weder der Rentenversicherungsträger noch das zuständige Arbeitsamt ihm innerhalb eines Jahres seit Stellung des Rentenantrags einen für ihn in Betracht kommenden Arbeitsplatz anbieten kann. Wurde - wie hier - die Rente vor dem Beschluß vom 10. Dezember 1976 beantragt, so muß festgestellt werden, ob der Rentenversicherungsträger und das Arbeitsamt dem Versicherten einen von diesem ausfüllbaren Arbeitsplatz anbieten können. Aus dem Ergebnis solcher Bemühungen sind dann Rückschlüsse darauf zu ziehen, ob der Teilzeitarbeitsmarkt bereits während einer Zeit seit der Rentenantragstellung verschlossen war (vgl. Abschnitt B II 4 des Beschlusses). Das LSG wird auch die hiernach erforderlichen Ermittlungen anzustellen und - falls es darauf ankommt - zu prüfen haben, ob der Kläger, der nach den bisherigen Feststellungen 4 Stunden täglich leichte Arbeiten verrichten kann, damit - wie im angefochtenen Urteil anscheinend angenommen - nur zu einer Tätigkeit "unterhalbschichtig" in der Lage ist. Das BSG hat eine vierstündige Arbeitszeit als "praktisch halbschichtig" bezeichnet (SozR Nr. 99 zu § 1246, Nr. 23 zu § 1247 RVO).

Die Kostenentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1650926

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