Leitsatz (amtlich)
1. Soweit es im Rahmen des AVG § 79 (RVO § 1300) auf die Richtigkeit einer den früheren Bescheid tragenden Rechtsauffassung ankommt, kann der Versicherungsträger nur dann als von der Rechtswidrigkeit des Bescheides überzeugt gelten, wenn seine Rechtsauffassung offensichtlich nicht vertretbar ist (Anschluß an BSG 1968-07-31 11 RA 307/67 = SozR Nr 49 zu § 103 SGG); das ist insbesondere dann der Fall, wenn der Rechtsstandpunkt des Versicherungsträgers dem klaren, zu Zweifeln keinen Anlaß gebenden Gesetzeswortlaut widerspricht oder wenn er mit einer gesicherten höchstrichterlichen Rechtsprechung unvereinbar ist.
2. Ein Rentenbescheid, in dem Zeiten einer gemäß G 131 § 72 als durchgeführt geltenden Nachversicherung nicht berücksichtigt sind, ist auch dann von Anfang an unrichtig, wenn zZt seines Ergehens eine Bescheinigung der Regelungsbehörde über die dienstrechtlichen Voraussetzungen der Nachversicherung noch nicht erteilt war.
3. Es bleibt offen, ob eine nach Ergehen eines Rentenbescheides erteilte sogenannte Nachversicherungsbescheinigung (G 131 § 72) als Urkunde iS von RVO § 1744 Abs 1 Nr 6 in Betracht kommt.
4. Es bleibt offen, ob G 131 § 72 die Möglichkeit einer Neufeststellung voraussetzt oder begründet.
Normenkette
AVG § 79 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1300 Fassung: 1957-02-23, § 1744 Abs. 1 Nr. 6 Fassung: 1953-09-03; G131 § 72; AnVNG Art. 2 § 50a Abs. 7 S. 3 Fassung: 1969-07-28; ZPO § 580 Nr. 7 Buchst. b
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 4. Juli 1975 aufgehoben.
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 1. April 1974 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beklagte hat dem Kläger mit Bescheid vom 14. Februar 1966 ab November 1965 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) bewilligt. Zur Zeit der Bescheiderteilung war ein Verfahren zur Erteilung einer Bescheinigung über das Vorliegen der dienstrechtlichen Voraussetzungen einer Nachversicherung nach § 72 des Gesetzes zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Art. 131 des Grundgesetzes fallenden Personen (G 131) anhängig; die Beklagte erbat in ihrem Bescheid vom Kläger eine umgehende Mitteilung über den Ausgang dieses Verfahrens. Am 19. Oktober 1967 erteilte die Freie und Hansestadt H dem Kläger eine Bescheinigung dahin, daß er vom 26. August 1939 bis 8. Mai 1945 Berufssoldat gewesen sei. Daraufhin berechnete die Beklagte unter Ersetzung der bisher berücksichtigten Ersatzzeit durch die Zeit der fiktiven Nachversicherung mit Bescheid vom 3. Januar 1968 die Rente neu; dabei ergab sich ein niedrigerer Zahlbetrag, den die Beklagte unter Absehen von einer Rückforderung ab 1. Februar 1968 auszahlte.
Im Mai 1972 bat der Kläger um Überprüfung des Bescheides vom 3. Januar 1968 gemäß § 79 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG), wobei er geltend machte, seine Rente sei zu Unrecht herabgesetzt worden. Die Beklagte lehnte den Antrag ab; Widerspruch und Klage hatten keinen Erfolg; dagegen verurteilte das Landessozialgericht (LSG) die Beklagte, die Rente unter Berücksichtigung einer Ersatzzeit vom 26. August 1939 bis zum 8. Mai 1945 anstelle der Beitragszeit neu festzustellen und dem Kläger die sich hieraus ergebende höhere Rente zu zahlen. Nach Ansicht des Berufungsgerichts ist der Bescheid vom 3. Januar 1968 so offensichtlich unrichtig, daß die Beklagte als von der Unrichtigkeit überzeugt gelten müsse. Die Voraussetzungen des § 1744 der Reichsversicherungsordnung (RVO) seien nicht erfüllt. Die Nachversicherungsbescheinigung habe auch nicht unmittelbar zu einer Unrichtigkeit der ursprünglichen Rentenberechnung geführt. Zudem dürfe sich eine Nachversicherung nicht nachteilig für den Rentenbezieher auswirken; aus dem Zusammenhang der gesetzlichen Regelungen ergebe sich nämlich, daß bei Rentenbeziehern eine Nachversicherung nur unter den Voraussetzungen einer Neufeststellung durchgeführt werden dürfe; Neufeststellungen im Sinne des Rentenrechts seien aber nur für den Versicherten günstige Entscheidungen des Versicherungsträgers.
Mit der zugelassenen Revision beantragt die Beklagte,
das Berufungsurteil aufzuheben und die Berufung zurückzuweisen.
Sie ist der Meinung, daß die Nachversicherungsbescheinigung eine Aufhebung des Bescheides vom 14. Februar 1966 und eine Neufeststellung nach den §§ 204 AVG, 1744 Abs. 1 Nr. 6 RVO gerechtfertigt habe. Das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 2. Februar 1972 (BSG 34, 41) stehe dem nicht entgegen, da es nur Fälle einer faktischen, nicht aber einer fiktiven Nachversicherung betreffe. Die Nachversicherungsbescheinigung beweise nur eine in der Vergangenheit eingetretene Nachversicherung. Es sei daher unschädlich, daß diese Urkunde erst nach dem ursprünglichen Rentenbescheid errichtet worden sei.
Der Kläger beantragt die Zurückweisung der Revision.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet.
Nach § 79 AVG hat der Versicherungsträger eine Leistung neu festzustellen, wenn er sich überzeugt, daß sie zu Unrecht abgelehnt, entzogen, eingestellt oder zu niedrig festgestellt worden ist. Dabei gilt er als von der Rechtswidrigkeit des früheren Bescheides überzeugt, wenn diese so offensichtlich ist, daß er bei der erneuten Prüfung zu einer solchen Überzeugung hätte gelangen müssen (BSG 19, 43 f, 95; SozR Nr. 12 zu § 1300 RVO). Diese Voraussetzung ist, soweit es auf die Richtigkeit einer den früheren Bescheid tragenden Rechtsauffassung ankommt, nur erfüllt, wenn diese Rechtsauffassung offensichtlich nicht vertretbar ist (vgl. SozR Nr. 49 zu § 103 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Das ist insbesondere dann der Fall, wenn der Rechtsstandpunkt des Versicherungsträgers dem klaren, zu Zweifeln keinen Anlaß gebenden Gesetzeswortlaut widerspricht oder wenn er mit einer gesicherten höchstrichterlichen Rechtsprechung unvereinbar ist (vgl. SozR Nr. 6 zu § 1300 RVO). Diese Grundsätze hat das LSG nicht hinreichend beachtet.
Schon dem Ausgangspunkt des LSG ist nicht zu folgen. Seine Ansicht, der Rentenbescheid vom 14. Februar 1966 sei ursprünglich richtig gewesen und könne allenfalls in der Folge unrichtig geworden sein, trifft nicht zu. Eine Nachversicherung nach § 72 G 131 gilt stets als zum 1. April 1951 durchgeführt (SozR Nr. 3 zu § 72 G 131); daß sie erst nach Erteilung einer Bescheinigung der Regelungsbehörde vom Versicherungsträger berücksichtigt wird (BSG 11, 63, 66), ändert nichts daran, daß ein Rentenbescheid, in dem Zeiten einer solchen Nachversicherung unberücksichtigt geblieben sind, von Anfang an objektiv unrichtig ist. Ein solcher Fall ist hier gegeben. Daraus ergibt sich freilich noch nicht, daß der Bescheid durch einen neuen ersetzt werden durfte. Der Versicherungsträger ist auch an unrichtige Rentenbescheide gebunden, soweit nicht durch Gesetz etwas anderes bestimmt ist (vgl. § 77 SGG). Die Ansicht der Beklagten, das Gesetz habe ihr eine Berichtigung des Bescheides vom 16. Februar 1966 im Wege der Neufeststellung gestattet, hält jedoch einer Nachprüfung im Rahmen des § 79 AVG stand.
Die Beklagte hat sich bei der Neufeststellung auf § 1744 Abs. 1 Nr. 6 RVO i. V. m. § 204 AVG berufen; nach dieser Vorschrift kann u. a. gegenüber einem bindenden Verwaltungsakt eine neue Prüfung vorgenommen werden, wenn ein Beteiligter nachträglich eine Urkunde, die einen ihm günstigeren Verwaltungsakt herbeigeführt haben würde, zu benutzen instand gesetzt wird. Die Ansicht der Beklagten, daß die Bescheinigung über die dienstrechtlichen Voraussetzungen der Nachversicherung nach § 72 G 131 eine solche Urkunde darstellt und sie damit zu einer Neufeststellung zum Nachteil des Klägers berechtigt, ist vertretbar. Es ist zwar richtig, daß - was sich freilich aus dem Gesetzeswortlaut nicht unmittelbar ergibt - im Rahmen von § 1744 Abs. 1 Nr. 6 RVO grundsätzlich nur Urkunden in Betracht kommen, die bereits vor dem früheren Bescheid errichtet worden sind (vgl. BSG 34,43), während hier die Bescheinigung erst nach dem Bescheid vom 14. Februar 1966 erteilt worden ist. Hiervon sind jedoch nach dem Urteil des 3. Senats vom 20. Dezember 1962 (BSG 18, 186, 188) Ausnahmen zuzulassen für Urkunden, die ihrer Natur nach nicht im zeitlichen Zusammenhang mit den durch sie bezeugten Tatsachen errichtet werden und die deshalb zwangsläufig nur Tatsachen bezeugen können, die einer zurückliegenden Zeit angehören (daß die Urkunde ihrer Natur nach nicht vor dem früheren Verwaltungsakt errichtet werden konnte - vgl. BGHZ 34, 77, 79 -, wird dabei nicht gefordert). Es läßt sich nicht ohne weiteres von der Hand weisen, daß die sog. Nachversicherungsbescheinigung vom 19. Oktober 1967 diese Voraussetzungen einer verwendbar gewordenen Urkunde im Sinne von § 1744 Abs. 1 Nr. 6 RVO erfüllt; sie bezeugt nur vor dem 8. Mai 1945 liegende Tatsachen, die Nachversicherung selbst gilt als zum 1. April 1951 durchgeführt. Zweifelhaft kann nur sein, ob das bedeutet, daß die Nachversicherungsbescheinigung "ihrer Natur nach" nicht in zeitlichem Zusammenhang mit den bezeugten Tatsachen errichtet werden konnte; ein das bejahender Rechtsstandpunkt läßt sich indessen vertreten. Demgegenüber bezeugte in dem vom 12. Senat in BSG 34, 41, 43 entschiedenen Fall die Quittungskarte die nachträgliche Durchführung der Nachversicherung und damit eine nach dem ersten Rentenbescheid liegende Tatsache; mit der dort vertretenen Ansicht, daß für eine Anwendung von § 1744 Abs. 1 Nr. 6 RVO kein Raum sei, ist sonach die für den vorliegenden Fall vertretene Auffassung der Beklagten nicht unvereinbar.
Der Bescheid vom 3. Januar 1968 hätte aber möglicherweise auch ohne Heranziehung von § 1744 RVO schon in § 72 G 131 eine ausreichende Stütze finden können. Das hat das LSG wohl in erster Linie geprüft. Dem Sinnzusammenhang dieser Vorschrift könnte zu entnehmen sein, daß der Gesetzgeber, der naturgemäß vor allem den Fall einer günstigen Auswirkung der Nachversicherung auf den Rentenanspruch im Auge hat, in dieser Vorschrift den Versicherungsträger zugleich ermächtigen will, eine laufende Rente neu festzustellen, sobald eine sogenannte Nachversicherungsbescheinigung erteilt ist. Der 12. Senat des BSG hat freilich die Ansicht vertreten, die §§ 72 ff G 131 setzten eine anderweit bestehende Möglichkeit der Neufeststellung voraus (BSG 34, 42, 43). Es handelt sich hier jedoch um eine einzelne, zudem diese Frage nicht unmittelbar betreffende Entscheidung, die den Versicherungsträger noch nicht zur Annahme einer gesicherten gegenteiligen Rechtsprechung (vgl. SozR Nr. 6 zu § 1300 RVO) zwingt.
Gleichgültig, ob sich die Beklagte bei der Neufeststellung der Rente im Bescheid vom 3. Januar 1968 auf § 1744 Abs. 1 Nr. 6 RVO oder auf § 72 G 131 stützen konnte, in keinem Fall mußte sie davon ausgehen, daß eine "nachträgliche" Nachversicherung zu keiner Verschlechterung einer bereits bezogenen Rente führen dürfe. Dem Gesetzestext ist ein allgemeiner Grundsatz dieses Inhalts fremd; ob er aus Einzelregelungen abgeleitet werden könnte, mag dahingestellt bleiben, da sich aus einer solchen Überlegung keine offensichtliche Unrichtigkeit der Ansicht der Beklagten herleiten ließe. Der Senat kann nicht dem LSG folgen, daß Neufeststellung immer nur eine dem Versicherten günstige Entscheidung bedeute; für § 1744 RVO gilt das sicher nicht. Art. 2 § 50 a Abs. 7 Satz 3 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) betrifft in diesem Zusammenhang jedenfalls einen Sonderfall; im übrigen handelt es sich dort um eine Nachversicherung durch Nachentrichtung von Beiträgen (faktische Nachversicherung), nicht aber um eine als in der Vergangenheit bereits durchgeführt geltende Nachversicherung (fiktive Nachversicherung). Auch der 12. Senat hat einen Grundsatz dieser Art (BSG 34, 43 f) nicht allgemein, sondern nur für den Fall einer Nachversicherung durch Nachentrichtung (faktische Nachversicherung) und nur im Zusammenhang mit der Frage einer entsprechenden Anwendung von § 1744 Abs. 1 Nrn. 5 und 6 RVO ausgesprochen. Dem Fall einer Verschlechterung des Rentenzahlbetrages durch eine weitere Beitragsleistung ist aber der, daß nachträglich ein schon vorher gegebener Sachverhalt - eine schon gesetzlich festgelegte fiktive Nachversicherung - rentenmindernd zu berücksichtigen ist, nicht ohne weiteres gleichzuachten; auch steht eine entsprechende Anwendung von § 1744 Abs. 1 Nrn. 5 und 6 RVO hier nicht in Frage.
Da nach alledem die Rechtsauffassung der Beklagten vertretbar erscheint, erweist sich das Begehren des Klägers auf Neufeststellung nach § 79 AVG als unbegründet. Der Revision war daher unter Aufhebung des Berufungsurteils stattzugeben (§ 170 Abs. 2 Satz 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen