Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 26.02.1993) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 26. Februar 1993 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Die Klägerin begehrt Pflegegeld wegen Schwerpflegebedürftigkeit.
Die 1938 geborene Klägerin erlitt 1986 eine Hirnblutung, die eine Sprachstörung, Lähmungserscheinungen sowie Beeinträchtigungen des Seh- und Hörvermögens hinterlassen hat. Auf ihren Antrag hin, ihr Leistungen wegen Schwerpflegebedürftigkeit zu gewähren, holte die beklagte Krankenkase (KK) ein Gutachten des medizinischen Dienstes der Krankenversicherung ein. Dieser gelangte zu dem Ergebnis, bei der Klägerin habe eine relativ gute Restmobilität erhalten werden können. Sie sei in der Lage, mit Hilfe von Vier-Punkt-Gehstöcken noch kurze Wegstrecken zu ebener Erde allein zurückzulegen und auch die Toilette allein aufzusuchen. Fremde Hilfe sei beim Baden und bei der Zubereitung der Nahrung erforderlich. Zeitlich, örtlich und zur Person sei die Klägerin voll orientiert; es bestünden auch keine inhaltlichen oder formalen Denkstörungen. Die Kommunikation sei durch eine Störung der Aussprache erschwert. Das im ersten Obergeschoß liegende Schlafzimmer könne die Klägerin mit Hilfe einer für sie angebrachten Haltestange erreichen und den Gang zum Bett noch allein vornehmen. Sie könne sich, wenn auch verlangsamt, selbst an- und auskleiden. Die Beklagte lehnte danach den Antrag der Klägerin ab (Bescheid vom 26. August 1991; Widerspruchsbescheid vom 27. April 1992).
Im nachfolgenden Klageverfahren hat das Sozialgericht (SG) die Klage durch Urteil vom 17. September 1992 abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung durch Urteil vom 26. Februar 1993 zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Klägerin sei in schwerwiegender Weise behindert und pflegebedürftig, der Status der Schwerpflegebedürftigkeit könne ihr jedoch nicht zugebilligt werden. Sie sei noch in der Lage, eine Vielzahl von Verrichtungen des täglichen Lebens selbständig vorzunehmen. Die vom Gesetz geforderte Pflegebedürftigkeit in „sehr hohem Maße” bestehe bei der Klägerin nicht.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung der §§ 53 ff Sozialgesetzbuch Fünftes Buch – Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V). Das LSG habe den Begriff der Hilfsbedürftigkeit „in sehr hohem Maße” unter Verkennung der gesetzgeberischen Intention ausgelegt. Die Auslegung müsse sich an der Zielsetzung des Gesetzgebers orientieren, mit Hilfe der Leistungen wegen Schwerpflegebedürftigkeit eine stationäre Unterbringung des Hilfsbedürftigen zu vermeiden. Dies sei in ihrem Fall nur durch den umfassenden Einsatz der Familienmitglieder möglich.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 26. Februar 1993 und das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 17. September 1992 sowie den Bescheid der Beklagten vom 26. August 1991 in der Form des Widerspruchsbescheides vom 27. April 1992 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr ab 1. Januar 1991 häusliche Pflegehilfe und hauswirtschaftliche Versorgung bzw stattdessen eine monatliche Geldleistung von 400,– DM wegen Schwerpflegebedürftigkeit zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (gemäß § 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Klägerin ist iS der Zurückverweisung des Rechtsstreits begründet.
Die Klage ist nicht deshalb unzulässig, weil die Klägerin nach dem Klageantrag ihren Anspruch nicht ausdrücklich auf eine bestimmte Leistungsart konkretisiert hat. Die §§ 55 bis 57 SGB V sehen als Leistungen der häuslichen Pflegehilfe (§ 53 Abs 1 SGB V) vor: Die Gewährung einer Pflegekraft als Sachleistung (§ 55 Abs 1), die Bereitstellung von Urlaubs- bzw Verhinderungspflege (§ 56 SGB V) und die Zahlung von Pflegegeld, wenn die Pflege durch eine Pflegeperson in geeigneter Weise und in ausreichendem Umfang sichergestellt werden kann (§ 57 Abs 1 SGB V). Die Klägerin hat mit ihrem Antrag zwar die in Betracht kommenden Leistungsarten alternativ geltend gemacht, ihrem Vorbringen ist jedoch zu entnehmen, daß sie Pflegeleistungen nur von ihren Familienangehörigen in Anspruch nehmen will und die Gestellung einer Pflegekraft oder die Bereitstellung von Urlaubs- bzw Verhinderungspflege nicht in Betracht kommt. Ihr Begehren beschränkt sich demnach allein auf die Gewährung von Pflegegeld.
Der Anspruch auf Pflegegeld nach § 57 SGB V setzt das Vorliegen von Schwerpflegebedürftigkeit iS von § 53 Abs 1 SGB V voraus. Die vom LSG getroffenen Feststellungen lassen eine Beurteilung der Frage, ob die Klägerin als schwerpflegebedürftig anzusehen ist, nicht zu. Das LSG hat zu den weiteren Anspruchsvoraussetzungen, zu denen die Sicherstellung der Pflege durch selbst beschaffte Pflegepersonen (§ 57 Abs 1 SGB V) und nach § 54 SGB V auch die Erfüllung der notwendigen Anwartschaft gehört, keine Feststellungen getroffen. Deshalb kann sich das angefochtene Urteil auch nicht aus anderen Gründen als richtig erweisen.
Schwerpflegebedürftig sind nach § 53 Abs 1 SGB V solche Versicherten, die nach ärztlicher Feststellung wegen einer Krankheit oder Behinderung so hilflos sind, daß sie für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer in sehr hohem Maße der Hilfe bedürfen. „Schwerpflegebedürftigkeit” ist, wie der Senat im Anschluß an die Rechtsprechung des 1. und 4. Senats des BSG (SozR 3-2500 § 53 Nr 2 und 4) bereits wiederholt (SozR 3-2500 § 53 Nr 5 und 6; Urteile vom 9. März 1994, 3/1 RK 7 und 44/93) dargelegt hat, ein gerichtlich voll überprüfbarer Rechtsbegriff. Die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit sind an den Inhalt der von den Spitzenverbänden der KKn erlassenen Richtlinien zur Abgrenzung des Personenkreises der Schwerpflegebedürftigen sowie an Empfehlungen der Krankenkassenverbände rechtlich nicht gebunden (vgl hierzu im einzelnen SozR 3-2500 § 53 Nr 6 und die Urteile vom 9. März 1994, aaO). Die Richtlinien sind als Gesetzeskonkretisierung zur Vermeidung von Ungleichbehandlungen für die Gerichte beachtlich, soweit sie mit dem Gesetz vereinbar und sachlich vertretbar sind (vgl BSG SozR 3-2500 § 53 Nr 2 und 4).
Das BSG hat, ausgehend von den Richtlinien der Spitzenverbände der KKn, zur Ermittlung der nach § 53 SGB V maßgebenden Intensität des Hilfebedarfs und des Betreuungsaufwandes einen Katalog von insgesamt 18 Verrichtungen entwickelt, die im Ablauf des täglichen Lebens regelmäßig wiederkehren (vgl hierzu die Urteile des erkennenden Senats SozR 3-2500 § 53 Nr 5 und 6; Urteile vom 9. März 1994 ≪3/1 RK 7 und 44/93≫). Dieser Katalog setzt sich im einzelnen wie folgt zusammen:
I Verrichtungen des Grundbedarfs:
1. Aufstehen/Zubettgehen, 2. Gehen, 3. Stehen, 4. Treppensteigen, 5. Waschen oder Duschen oder Baden, 6. Mundpflege, 7. Haarpflege, 8. An- und Auskleiden, 9. Nahrungsaufnahme, 10. Nahrungszubereitung, 11. Benutzung der Toilette, 12. Sprechen, 13. Sehen, 14. Hören.
II Verrichtungen des hauswirtschaftlichen Versorgungsbedarfs:
15. Einkauf von Nahrungs- und Gebrauchsgegenständen des täglichen Lebens, 16. Wohnungsreinigung, 17. Reinigung und Pflege der Wäsche, 18. sonstige hauswirtschaftliche Arbeiten (zB Reinigung von Haushaltsgegenständen; Einräumen von Wäsche, Geschirr etc, Versorgung der Heizung).
Ein Hilfebedarf „in sehr hohem Maße”, wie ihn § 53 SGB V als Voraussetzung für die Gewährung von häuslicher Pflegehilfe fordert, liegt immer dann vor, wenn der Hilflose bei mehr als 14 Verrichtungen auf Hilfe angewiesen ist. Besteht bei mehr als 9 (dh mehr als 50 vH aller aufgeführten), aber weniger als 14 Verrichtungen Hilfebedarf, so liegt Schwerpflegebedürftigkeit nur dann vor, wenn besondere Gleichstellungssachverhalte erfüllt sind, die den im konkreten Fall notwendigen Hilfebedarf als vergleichbar umfassend erscheinen lassen wie denjenigen eines eindeutig Schwerpflegebedürftigen, der – wie im Gesetzgebungsverfahren vorausgesetzt (BT-Drucks 11/2237, S 183) – sich „nahezu in allen Bereichen” nicht selbst versorgen kann (vgl die Urteile des erkennenden Senats ≪aaO≫). Dies ist etwa der Fall, wenn
- die Hilfe bei Verrichtungen des Grundbedarfs, unabhängig von der Anzahl der erforderlichen Einsätze, einen Zeitaufwand von mehr als 3 Stunden erforderlich macht oder
- besondere körperliche oder seelische Erschwernisse mit den Hilfeleistungen verbunden sind, die sich aus der Eigenart des Hilfebedarfs für die Pflegeperson ergeben.
Das LSG hat in bezug auf die Verrichtungen, bei denen die Klägerin fremder Hilfe bedarf, folgende Feststellungen getroffen: Die Klägerin sei noch in der Lage, eine Vielzahl von Verrichtungen des täglichen Lebens selbständig vorzunehmen. Hierbei handele es sich um Teilbereiche, die nicht gering zu werten seien. Im Bereich der Mobilität sei sie nur teilweise, etwa bei längerem Stehen oder beim Treppensteigen und auch beim Zubettgehen auf Hilfe angewiesen. Sie könne sich aber beispielsweise selbst an- und auskleiden und auch etliche der Körperreinigung dienende Handlungen vornehmen sowie ihre Notdurft verrichten. Im Bereich der Ernährung sei sie fähig, entsprechend vorbereitete Nahrung zu sich zu nehmen; diese könne sie jedoch nicht selbst zubereiten. Ihren Haushalt könne sie auch nicht annähernd selbst versorgen. Im Bereich der Kommunikation bedürfe sie wegen eines Augenleidens und einer Hörstörung fremder Hilfe. Die Feststellungen des LSG lassen den Schluß zu, daß bei der Klägerin ein Hilfebedarf bei den unter Nr 4, 5, 10, 13, 14 sowie 15 bis 18 aufgeführten Verrichtungen besteht. Die Notwendigkeit eines Hilfebedarfs bei den unter Nr 6 und 7 (Mund- und Haarpflege) aufgeführten Verrichtungen ist vom LSG nicht festgestellt worden. Angesichts der insoweit abweichenden Feststellungen des SG wird nicht deutlich, ob das LSG von einem Hilfebedarf beim Zubettgehen ausgeht oder ob hiermit lediglich gemeint ist, daß die Klägerin wegen ihrer konkreten Wohnsituation (Schlafzimmer im Obergeschoß) vor dem Zubettgehen für das Treppensteigen fremder Hilfe bedarf. Danach ist die Klage jedenfalls nicht schon deshalb unbegründet, weil nur bei weniger als 9 Verrichtungen ein Hilfebedarf besteht. Andererseits lassen die Feststellungen des LSG nicht den Schluß zu, daß die Klägerin bei 14 oder mehr Verrichtungen auf Hilfe angewiesen ist, so daß sie nicht als eindeutig schwerpflegebedürftig anzusehen ist. Das LSG hat, ausgehend von seiner abweichenden Rechtsauffassung, nicht festgestellt, ob der Pflegebedarf der Klägerin durch erschwerende Umstände (sog Gleichstellungssachverhalte) geprägt wird. Der Senat konnte deshalb nicht entscheiden, ob bei der Klägerin Schwerpflegebedürftigkeit iS des § 53 Abs 1 SGB V vorliegt.
Der Anspruch auf häusliche Pflegehilfe ist nicht – wie die Revision annimmt -schon deshalb begründet, weil die Klägerin ohne die Betreuung durch ihre Familienangehörigen gezwungen wäre, sich in stationäre Pflege zu begeben. Zwar sollen die mit dem Gesundheitsreformgesetz (vom 20. Dezember 1988, BGBl I 2477) eingeführten Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung bei Schwerpflegebedürftigkeit auch dem Zweck dienen, die Bereitschaft zur Pflege von Hilflosen im häuslichen Umfeld zu fördern und hierdurch vor allem Fehlbelegungen in Krankenhäusern zu vermeiden (BT-Drucks 11/2237, S 182 ff). Der Gesetzgeber hat die Leistungen der Krankenversicherung jedoch lediglich als eine begrenzte Ergänzung und Unterstützung der im Haushalt bzw der Familie erbrachten Pflegeleistungen konzipiert. Ein voller Ausgleich für den in diesem Bereich anfallenden Betreuungsaufwand war dagegen nicht beabsichtigt (BT-Drucks aaO S 184). Erst recht sind die Leistungen der häuslichen Pflegehilfe nach den §§ 53 ff SGB V nicht als Alternative zur stationären Pflege gedacht, die bis zum Inkrafttreten des § 43 Sozialgesetzbuch – Elftes Buch, Soziale Pflegeversicherung (SGB XI) nicht in den Verantwortungsbereich der Sozialversicherung fällt, sondern vom Betroffenen selbst bzw bei fehlender Leistungsfähigkeit von der Sozialhilfe unter Heranziehung unterhaltspflichtiger Angehöriger finanziert werden muß (zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit vgl BVerfG SozR 3-2500 § 53 Nr 3).
Kommt das LSG aufgrund der nachzuholenden Tatsachenfeststellungen zu dem Ergebnis, daß die Anspruchsvoraussetzungen für das Pflegegeld erfüllt sind, wird es die Beklagte nur dann zur Leistung verurteilen können, wenn eine andere Entscheidung der Beklagten nicht in Betracht kommt. § 57 Abs 1 SGB V räumt der Krankenkasse insoweit ein Ermessen ein, als sie anstelle der vorrangig vorgesehenen häuslichen Pflegehilfe als Sachleistung (§ 55 SGB V) das Pflegegeld gewähren kann. Ob bei Erfüllung der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 57 SGB V faktisch eine Ermessensschrumpfung „auf Null” eintritt (so Zipperer in: Maaßen ua, SGB V, § 57 RdNr 2 und 3) bleibt der Entscheidung des LSG vorbehalten.
Wegen der fehlenden Feststellungen ist der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Hierbei hat das LSG auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.
Fundstellen