Leitsatz (amtlich)
1. Die einem Versicherungsträger erteilte Rechtsmittelbelehrung eines Landessozialgerichts, in welcher auf den Vertretungszwang nach SGG § 166 Abs 1, nicht aber auf die hiervon für Behörden sowie Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts geltende Ausnahme hingewiesen wird, ist unrichtig. Die Anwendung des SGG § 66 Abs 2 hängt nicht davon ab, ob der Rechtsbehelf gerade wegen dieser Unrichtigkeit fehlerhaft eingelegt oder begründet worden ist.
2. Die Revision ist nach SGG § 162 Abs 1 Nr 3 nur statthaft, wenn die gerügte Gesetzesverletzung bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs vorliegt. Die bloße Behauptung einer solchen Gesetzesverletzung genügt hierfür nicht, selbst wenn sie substantiiert aufgestellt ist.
3. Ein nicht unter Versicherungsschutz stehender Unfall ist als mittelbare Folge eines früheren Arbeitsunfalles anzuerkennen, wenn die durch den Arbeitsunfall verursachte Beeinträchtigung des Gesundheitszustandes bei der Entstehung des späteren Unfalls oder dem Ausmaß seiner Folgen in rechtlich erheblicher Weise mitgewirkt hat.
Normenkette
SGG § 66 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03, § 166 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, § 162 Abs. 1 Nr. 3 Fassung: 1953-09-03; RVO § 555 Fassung: 1939-02-17, § 930 Fassung: 1942-11-13
Tenor
Die Revision der Beklagten wird als unzulässig verworfen.
Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Die Gebühr für die Berufstätigkeit des ... in Bamberg wird auf 180,- DM festgesetzt.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der am Verfahren als Beigeladener beteiligte Landwirt ... verletzte sich am 6. Dezember 1948 den rechten Mittelfinger bei der Arbeit. Der Mittelfinger mußte im Januar 1949 amputiert werden. Für diesen Unfall erkannte die Beklagte ihre Entschädigungspflicht an. Am 14. Februar 1949 stürzte K beim Absteigen vom Fahrrad, fiel auf die rechte Seite und brach sich hierbei den Oberschenkelhals. Die Klägerin beanspruchte für diesen zweiten Unfall von der Beklagten die Erstattung der Krankenbehandlungskosten und machte geltend, die Folgen des ersten Unfalls seien für das Zustandekommen des zweiten Unfalls mit ursächlich gewesen. Gegen den Ablehnungsbescheid der Beklagten rief die Klägerin das Oberversicherungsamt Nürnberg an. Dieses stellte in seinem Urteil vom 4. November 1952 fest, die Radfahrt des K am 14. Februar 1949 habe eigenwirtschaftlichen Zwecken gedient und deshalb nicht dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung unterstanden. Einen ursächlichen Zusammenhang zwischen den Folgen des Arbeitsunfalls vom 6. Dezember 1948 und dem Unfallereignis vom 14. Februar 1949 hielt das Oberversicherungsamt nicht für gegeben, weil die Beschädigung der rechten Hand bei dem Sturz mit dem Fahrrad nicht in rechtlich erheblicher Weise mitgewirkt habe; das Oberversicherungsamt folgte hierbei den Gutachten der Ärzte Dr. S und Dr. D, welche die Zusammenhangsfrage verneinten, sowie dem technischen Gutachten des Verkehrssachverständigen, Ing. L, welcher sich dahin geäußert hatte, der Sturz sei keine Folge der Handverletzung, "mit einer unverletzten rechten Hand hätte allerdings K beim Fallen den harten Aufschlag abdämpfen können, wodurch die Schwere des Unfalls möglicherweise gemildert worden wäre".
Auf den hiergegen eingelegten Rekurs der Klägerin, der gemäß § 215 Abs. 3 SGG als Berufung auf das Bayerische Landessozialgericht überging, hob dieses am 1. April 1954 das Urteil des Oberversicherungsamts Nürnberg sowie den Bescheid der Beklagten auf und erklärte den Anspruch des K auf Entschädigung wegen der Folgen des am 14. Februar 1949 erlittenen Unfalls dem Grunde nach für gerechtfertigt. Es schloß sich den Gutachten der Ärzte Dr. O und Dr. H sowie des Verkehrssachverständigen, Gewerbeoberbaurat M, an. Deren medizinische und technische Darlegungen hielt es für überzeugender als diejenigen der drei Sachverständigen, die für die Auffassung des Oberversicherungsamts maßgebend gewesen waren. Das Landessozialgericht erachtete es hiernach als hinreichend wahrscheinlich, daß der Zustand der rechten Hand wesentlich zu dem Sturz mit dem Fahrrad sowie zu der Schwere der Auswirkungen dieses Sturzes beigetragen habe. Das Landessozialgericht ließ die Revision nicht zu. In der Rechtsmittelbelehrung verwies es auf den gemäß § 166 SGG bestehenden Vertretungszwang; die für Behörden sowie Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts geltende Ausnahme wurde nicht erwähnt.
Die Beklagte hat gegen das ihr am 29. April 1954 zugestellte Urteil am 4. Mai 1954 Revision eingelegt mit dem Antrag, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen. Ihre Revisionsbegründung ist am 13. Juli 1954 beim Bundessozialgericht eingegangen. Sie stützt sich auf § 162 Abs. 1 Nr. 3 in Verbindung mit Abs. 2 SGG und rügt, das Landessozialgericht habe in der Beweiswürdigung gegen die allgemeinen Denkgesetze verstoßen und die seinem Standpunkt entgegenstehenden Gutachten sowie die eingehenden Darlegungen der Beklagten im Schriftsatz vom 26. März 1954 unzutreffend hintangesetzt. Die Feststellung des Landessozialgerichts, zum gefahrlosen Absteigen vom Fahrrad sei die volle Gebrauchsfähigkeit beider Hände erforderlich, widerspreche der allgemeinen Lebenserfahrung; nach ihr komme es für diesen Vorgang nur darauf an, daß die Beine und eine Hand völlig funktionsfähig seien und die andere Hand als Widerlager verwendet werden könne.
Die Klägerin und der Beigeladene haben die Zurückweisung der Revision beantragt. Sie halten die gegen die Beweiswürdigung des Landessozialgerichts erhobenen Vorwürfe für unbegründet.
Die Revision ist rechtzeitig eingelegt, dagegen nicht innerhalb der Frist des § 164 Abs. 1 SGG begründet worden. Sie ist jedoch nicht schon aus diesem Grunde unzulässig. Denn die in dem angefochtenen Urteil erteilte Rechtsmittelbelehrung ist unrichtig. Der Vorderrichter hat es unterlassen, in ihr darauf hinzuweisen, daß der Vertretungszwang nach § 166 SGG nicht für Behörden sowie Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts gilt. Aus dem Ausdruck "belehren" (§ 66 Abs. 1 SGG) ist zu entnehmen, daß die bloße Bezeichnung des Rechtsmittels nicht genügt, sondern daß eine Belehrung auch über die Form des Rechtsmittels, d. h. in diesem Fall über den Vertretungszwang, erfolgen muß (so auch Urteil des 4. Senats vom 25.8.1955 - 4 RJ 21/54 -). Die einem Versicherungsträger erteilte Belehrung muß dann aber den Hinweis auf die für Behörden usw. geltende Ausnahme vom Vertretungszwang enthalten. Die Beklagte hat zwar trotz dieser Unrichtigkeit die Revision fristgerecht eingelegt und nur die Begründung verspätet eingereicht. Nach Auffassung des erkennenden Senats, der sich insoweit dem 1. Senat anschließt (vgl. Sgb. 1955 S. 269), kommt es aber nach dem Wortlaut des § 66 Abs. 2 SGG nur darauf an, daß die Belehrung unrichtig ist. Der Mangel der Belehrung muß hiernach nicht ursächlich für die verspätete Einlegung oder Begründung des Rechtsmittels sein. Für diese Auslegung sprechen auch Gründe der Rechtssicherheit (so auch Haueisen in WzS. 1954 S. 378; Ule, Komm. zum BVerwGG, Anm. II 2 zu § 21; Schunk-de Clerck, Komm. zum BVerwGG Anm. 1 b zu § 21; Eyermann-Fröhler, Komm. zum VGG. Anm. II 1 zu § 32; a. M. Verwaltungsgericht Bremen in DÖV 1953 S. 643). Demnach ist § 66 Abs. 2 SGG anwendbar. Die Revisionsbegründung ist innerhalb der Jahresfrist, also rechtzeitig, eingegangen.
Die Revision ist dagegen unzulässig, weil die Voraussetzungen des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG nicht erfüllt sind. Der erkennende Senat legt diese Vorschrift dahin aus, daß das Gesetz verletzt sein muß, um die Revision statthaft, also zulässig, zu machen; die bloße Behauptung einer Gesetzesverletzung genügt hierfür nicht (ebenso Urteil des 8. Senats vom 14.7.1955 - 8 RV 177/54, in Breithaupt 1955 S. 1193; a. M. Hastler, Aufbau und Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit, Anm. 4 zu § 162 SGG). Dabei brauchte hier die Frage nicht entschieden zu werden, ob mit dem Begriff "ursächlicher Zusammenhang einer Gesundheitsstörung mit einem Arbeitsunfall" nur die Kausalbeziehung zwischen Unfallereignis und Gesundheitsstörung oder aber darüber hinaus auch die ursächliche Verknüpfung zwischen versicherter Tätigkeit und Unfallereignis gemeint ist; denn im vorliegenden Fall geht der Streit nur um den ursächlichen Zusammenhang zwischen den Folgen des unstreitig festgestellten Arbeitsunfalls vom 6. Dezember 1948 und der späteren, unstreitig nicht betriebsbedingten Sturzverletzung vom 14. Februar 1949, und die Entscheidung der Frage, ob bei der Beurteilung dieses Kausalzusammenhangs das Gesetz verletzt ist, fällt jedenfalls unter diese Vorschrift.
Bei der Beurteilung dieses mittelbaren Ursachenzusammenhangs ist der Vorderrichter von dem Begriff der Ursächlichkeit ausgegangen, den das Reichsversicherungsamt (RVA.) in ständiger Rechtsprechung aufgestellt hat. Aus mehreren Entscheidungen des RVA. zum Problem außerbetrieblicher Unfälle als Folge früherer Arbeitsunfälle (Grundsätzl. Entsch. Nr. 1389 - AN. 1895 S. 147; EuM. Bd. 13 S. 151, Bd. 22 S. 305, Bd. 39 S. 265) ergibt sich der Grundsatz, daß ein nicht unter Versicherungsschutz stehender Unfall als mittelbare Folge eines früheren Arbeitsunfalls anzuerkennen ist, wenn die durch den Arbeitsunfall verursachte Beeinträchtigung des Gesundheitszustandes bei der Entstehung des späteren Unfalls oder dem Ausmaß seiner Folgen in rechtlich erheblicher Weise mitgewirkt hat (ähnlich auch RGZ. Bd. 119 S. 204). Diese auch in neuerer Zeit von der Rechtsprechung geteilte Auffassung (zu vergl. ZfS. 1947 S. 103; Breithaupt 1949 S. 251; 1955 S. 821 ff; BG. 1955 S. 219; Soz. rechtl. Entscheidungssammlung zu § 542 - a - IV Nr. 29) hält der erkennende Senat für zutreffend. Die Frage, ob der mittelbare Kausalzusammenhang durch grob fahrlässiges Verhalten des Verletzten unterbrochen wird (Breithaupt 1953 S. 1214; 1955 S. 417; BVBl. 1955 S. 25), brauchte aus Anlaß dieses Falles nicht entschieden zu werden.
Das Landessozialgericht hat diesen richtig verstandenen Ursachenbegriff auch zutreffend auf den festgestellten Sachverhalt angewandt. Der erkennende Senat mußte hierbei beachten, daß das Bundessozialgericht weder eigene tatsächliche Feststellungen treffen noch eine eigene tatrichterliche Würdigung der erhobenen Beweise vornehmen darf. In der Revisionsinstanz kann vielmehr lediglich geprüft werden, ob der Tatrichter die Grundlagen seiner Beweiswürdigung verkannt hat, z. B. nicht-schlüssigen Gutachten gefolgt ist oder andere, entgegenstehende Gutachten grundlos unberücksichtigt gelassen hat. Fehler in der Beweiswürdigung sind hierbei insbesondere dann als Gesetzesverletzung zu erachten, wenn die tatrichterliche Beurteilung von Sachverständigengutachten gegen allgemeine Erfahrungssätze oder gegen die Denkgesetze verstößt oder wenn das Berufungsgericht willkürlich, d. h. ohne ausreichende Begründung und ohne Abwägung der Gutachten nach ihrem inneren Wert bestimmte Gutachten gegenüber anderen, abweichenden Gutachten bevorzugt (RVA. in AN. 1909 S. 495 Nr. 1407, S. 496 Nr. 1410; Bayer. LVAmt in EuM Bd. 10 S. 369; RG. in JW. 1931 S. 3117; Bundessozialgericht, 8. Senat Urteil vom 14.7.1955 - 8 RV 177/54 - in Breithaupt 1955 S. 1193).
Dem angefochtenen Urteil liegt eine solche Gesetzesverletzung nicht zugrunde. Der Vorderrichter hat in nicht zu beanstandender freier Beweiswürdigung sich mit den sechs ihm vorliegenden Sachverständigengutachten unter Berücksichtigung der Lebenserfahrungen kritisch auseinandergesetzt. Seine eigenen Erwägungen sind einleuchtend und lassen einen Verstoß gegen Denkgesetze nicht erkennen. Wenn die Beklagte demgegenüber sich auf einen "Erfahrungssatz" berufen will, nach dem für das sichere Absteigen vom Fahrrad der volle Gebrauch einer Hand bei Verwendbarkeit der anderen Hand als "Widerlager" ausreichend soll, so sind nach Auffassung des Senats hierdurch die sorgfältigen Feststellungen des Vorderrichters nicht widerlegt. Im übrigen hat das Landessozialgericht mit Recht sich nicht darauf beschränkt, den Einfluß der Folgen des Arbeitsunfalls auf das Zustandekommen des Sturzes mit dem Fahrrad zu untersuchen, sondern auch die Mitwirkung der Fingeramputation bei der Schwere der Folgen dieses Sturzes als bedeutsam angesehen. In dieser Beziehung wird aber der Kausalzusammenhang von der Mehrheit aller Sachverständigen bejaht; denn auch der Sachverständige L nimmt an, daß K mit einer unverletzten rechten Hand beim Fallen den harten Aufschlag hätte abdämpfen können. Schließlich ist die Würdigung der Sach- und Rechtslage durch das Landessozialgericht auch nicht deshalb fehlerhaft, weil es sich mit den Ausführungen der Beklagten in deren Schriftsatz vom 26. März 1954 nicht ausdrücklich und in allen Einzelheiten auseinandergesetzt hat. Die Entscheidungsgründe lassen erkennen, daß der Vorderrichter alle für seine Urteilsbildung maßgebenden Umstände ohne Einschränkung berücksichtigt hat; eines ausdrücklichen Eingehens auf jedes einzelne Vorbringen der Beteiligten bedurfte es hierbei nicht (BGHZ Bd. 3 S. 162 (175); BSG. Bd. 1 S. 91 (94), Urteil des 8. Senats des BSG. vom 14.7.1955 - 8 RV 177/54 - in Breithaupt 1955 S. 1193) Das Vorbringen der Beklagten vermag hiernach eine Statthaftigkeit der Revision nach § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG nicht herbeizuführen. Die Revision war daher als unzulässig zu verwerfen.
Die Kostenentscheidung und die Festsetzung der Gebühr für den Prozeßbevollmächtigten des Beigeladenen beruhen auf §§ 193, 196 SGG.
Fundstellen