Leitsatz (amtlich)
Auf die 10jährige Dauer eines ununterbrochenen Beschäftigungsverhältnisses bei demselben Arbeitgeber, aus der die volle Berücksichtigung glaubhaft gemachter Beitragszeiten folgt, sind Zeiten des Wehrdienstes und der Kriegsgefangenschaft nicht anzurechnen.
Normenkette
VuVO § 3 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 Fassung: 1960-03-03
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 27. Juni 1969 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Der Kläger begehrt eine höhere Rente wegen Berufsunfähigkeit unter voller Anrechnung des Zeitraums vom 8. Oktober 1937 bis zum 24. Juni 1943, in dem er bei der Deutschen Reichsbahn beschäftigt war. Die Beklagte berücksichtigte diese - glaubhaft gemachte - Beitragszeit nach § 3 Abs. 1 Satz 1 der Versicherungsunterlagen-Verordnung (VuVO) vom 3. März 1960 idF der Änderungs-Verordnung vom 22. Dezember 1965 nur im Umfang von fünf Sechsteln (Bescheid vom 4. Juni 1968).
Das Sozialgericht (SG) Duisburg hat der Klage stattgegeben (Urteil vom 27. November 1968), das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen hat sie dagegen abgewiesen (Urteil vom 27. Juni 1969). Das Beschäftigungsverhältnis des Klägers hat nach der Auffassung des LSG nicht ununterbrochen zehn Jahre gedauert. Der Kläger sei zwar erst am 24. März 1948 aus dem Dienst der Reichsbahn entlassen Worden, habe aber vom 25. Juni 1943 bis zum 26. September 1947 oder 4. Dezember 1947 Wehrdienst geleistet und sich in Kriegsgefangenschaft befunden. Wohl sei das Beschäftigungsverhältnis durch die Einberufung zum Wehrdienst nicht gelöst worden (§ 1 der Verordnung zur Abänderung und Ergänzung von Vorschriften des Arbeitsrechts vom 1. September 1939 - VO 1939 - RGBl I 1683 - in Kraft seit dem 7. September 1939); dennoch habe es im Hinblick auf die sozialversicherungsrechtlichen Auswirkungen eine Unterbrechung erfahren.
Mit der Revision trägt der Kläger vor, der Gesetzeswortlaut sei eindeutig. Außer einer zehnjährigen ununterbrochenen Beschäftigung bei demselben Arbeitgeber stelle er keine weiteren Voraussetzungen auf. Aus der Wehrdienst- und Kriegsgefangenschaftszeit dürften einem Versicherten keine Nachteile erwachsen.
Der Kläger beantragt, das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt die Zurückweisung der Revision.
Die Revision des Klägers ist unbegründet.
Die streitige Beitragszeit könnte nur dann in vollem Umfange angerechnet werden, wenn in die zehnjährige ununterbrochene Mindestdauer des Beschäftigungsverhältnisses bei demselben Arbeitgeber (§ 3 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 VuVO) die Zeiten des Wehrdienstes und der Kriegsgefangenschaft des Klägers, die im übrigen als Ersatzzeiten berücksichtigt sind, einbezogen werden könnten. Dies ist, wie das LSG zutreffend angenommen hat, nicht möglich.
Dem Kläger ist allerdings einzuräumen, daß der Wortlaut der hier angewandten Vorschrift die uneingeschränkte Beachtung der genannten Zeiten zu rechtfertigen scheint. Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 VuVO werden die nicht nachgewiesenen Beitragsseiten eines ununterbrochenen "Beschäftigungsverhältnisses" von mindestens zehnjähriger Dauer bei demselben Arbeitgeber in vollem Umfang angerechnet. § 1 Satz 1 und 2 VO 1939 bestimmte, daß durch die Einberufung zu einer Dienstleistung im Wehrdienst ein bestehendes "Beschäftigungsverhältnis" (Arbeits-, Lehrverhältnis) nicht gelöst wurde und die beiderseitigen Rechte und Pflichten für die Dauer der Einberufung ruhten. Es läßt sich deshalb die Meinung vertreten, Beitragszeiten, die bei demselben Arbeitgeber vor und nach der Einberufung zum militärischen Dienst zurückgelegt seien, bildeten ein ununterbrochenes Beschäftigungsverhältnis, wenn die Arbeit nach dem Kriege unverzüglich wieder aufgenommen worden sei. Wehrdienst und Kriegsgefangenschaft verbänden hiernach die getrennten Beitragszeiten zu einer Einheit. Die kriegsbedingte Zwischenzeit würde als nicht gewesen betrachtet. Bei dieser Auffassung verzichtet man sogar auf das Erfordernis, daß der Beschäftigte während der zehnjährigen Mindestzeit stets der Versicherungspflicht in der Rentenversicherung unterlag (vgl. Bundessozialgericht - BSG - 1/4 RJ 409/69 -, Urteil vom 20. August 1970). Andererseits besteht - soweit ersichtlich - Einigkeit darin, daß die Zeiten des Wehrdienstes und der Kriegsgefangenschaft zur Deckung der Zehnjahresspanne nicht herangezogen werden dürfen.
Etwas anderes ist insbesondere nicht daraus herzuleiten, daß sowohl § 3 VuVO als auch die VO 1939 den Begriff des Beschäftigungsverhältnisses verwenden. Dieser Begriff wird in der Gesetzessprache nicht einheitlich gebraucht und ist nicht eindeutig. Nach der Rechtsprechung des 1. Senats des BSG (aaO) muß es sich nicht - woran man denken könnte - um ein rentenversicherungspflichtiges wohl aber um ein sozialversicherungsrechtliches Beschäftigungsverhältnis gehandelt haben. Das arbeitsrechtliche Beschäftigungsverhältnis, das in erster Linie - wenn nicht ausschließlich - den Gegenstand der VO 1939 bildete, könnte nur gemeint sein, wenn sich hierfür triftige Gründe finden ließen. Dagegen spricht aber vor allem, daß der Gesetzgeber in § 3 VuVO eine rein sozialversicherungsrechtliche Angelegenheit, nämlich die Wiederherstellung verlorengegangener Versicherungsunterlagen, geregelt hat. Die Vorschrift ist überdies dem § 19 Abs. 2 Satz 1 des Fremdrentengesetzes (FRG) nachgebildet, der seinerseits nicht nur die Beitragszeiten bei einem fremden Rentenversicherungsträger (§ 15 FRG), sondern auch die Zeiten einer - nach Bundesrecht rentenversicherungspflichtigen - in fremden Gebieten (tatsächlich) verrichteten Beschäftigung (§ 16 FRG) umfaßt. Ein sehr gewichtiger Anhalt dafür, wie der Gesetzgeber den Begriff des Beschäftigungsverhältnisses aufgefaßt wissen will, ergibt sich aus der Begründung zum Entwurf des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes (RVÄndG). Danach hatte es "sich erwiesen, daß die bisherige Regelung in Verbindung mit der Handhabung in der Praxis bei Versicherten, die über lange Zeiträume hinweg bei demselben Arbeitgeber tätig waren, zu Härten geführt" hatte. Die Härten sollten durch die Neuregelung unter Ansatz einer günstigeren Beitragsdichte beseitigt werden (BT-Drucks. IV/2572, S. 28, § 4 zu Nr. 1). Der Gesetzgeber wollte hiernach diejenigen Beschäftigungsverhältnisse erfassen, die auf einer besonders engen, durch langjährige Eingliederung in einen Betrieb begründeten Beziehung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern beruhten und allenfalls durch die üblichen Krankheits-, Schwangerschafts- oder ähnliche Zeiten gestört, aber nicht einmal durch eine noch so kurze Zeit der Arbeitslosigkeit unterbrochen wurden. Nur in diesen Fällen ist es auch gerechtfertigt, eine volle Beitragsleistung zu unterstellen. Ein rein arbeitsrechtliches Beschäftigungsverhältnis, das sich nach der Einberufung des Arbeitnehmers zum Wehrdienst in dem Fortbestehen des Arbeitsvertrages - wenn auch unter Aufrechterhaltung arbeitsrechtlicher Anwartschaften - erschöpfte, ist damit nicht vergleichbar.
Dem Gesetzgeber waren die Unterschiede zwischen einem arbeitsrechtlichen und einem sozialversicherungsrechtlichen Beschäftigungsverhältnis bekannt. Hätte er mit den Vorschriften des § 19 Abs. 2 FRG und des § 3 Abs. 1 VuVO die Besonderheiten der arbeitsrechtlichen Regelung im zweiten Weltkrieg durch die VO 1939 sozialversicherungsrechtlich einschließen wollen, so wäre eine vom Üblichen abweichende Formulierung zu erwarten gewesen.
Wesentliche Merkmale des sozialversicherungsrechtlichen Beschäftigungsverhältnisses, die insbesondere für die Frage einer Unterbrechung oder eines Ausscheidens Bedeutung haben, sind nach der ständigen Rechtsprechung des Reichsversicherungsamtes (Nr. 2789 AN 1924, 84; Nr. 3102 AN 1927, 581; Nr. 5060 AN 1937, 83; Nr. 5406 AN 1941, 86) und des BSG (BSG 3, 30, 35; 13, 130, 132; 13, 263, 264; 15, 65, 69; 16, 98, 101; 16, 289, 293, 294; 20, 6, 8) in aller Regel die tatsächliche Beschäftigung und jedenfalls die effektive persönliche Abhängigkeit des Beschäftigten. Diese äußert sich vornehmlich in der Eingliederung in einen Betrieb, womit die Verfügungsmacht (das Direktionsrecht. die Weisungsbefugnis) des Arbeitgebers verbunden ist. Ein Beschäftigungsverhältnis kann zwar auch fortbestehen, wenn eine Arbeitsleistung zeitweilig nicht erbracht und kein Entgelt gezahlt wird (BSG 12, 190, 193; SozR Nr. 19 und 43 zu § 165 RVO, Nr. 6 zu § 195 a RVO). Der Fortbestand setzt aber voraus, daß die Arbeitsunterbrechung nicht unverhältnismäßig lange dauert und ihr Ende voraussehbar ist, die Beteiligten das Beschäftigungsverhältnis von vornherein nach dem Ende der Arbeitsunterbrechung fortsetzen wollen sowie die Verfügungsmacht des Arbeitgebers und die Dienstbereitschaft des Arbeitnehmers während der Arbeitsunterbrechung grundsätzlich bestehen bleiben. Trifft dies nicht zu, so scheidet der Arbeitnehmer mit der Einstellung der Arbeit und dem Fortfall des Lohnes oder Gehaltes aus dem sozialversicherungsrechtlichen Beschäftigungsverhältnis aus, selbst wenn er arbeitsrechtlich Kündigungsschutz und andere Vorteile genießt. Ob ein Wehrdienst von absehbar kurzer Dauer unbeachtlich wäre, kann offen bleiben. Im allgemeinen ist aber die Dauer des Kriegsdienstes nicht im voraus abzuschätzen; es ist auch nicht vorherzusagen, ob der Arbeitnehmer seinen Arbeitsplatz wird wieder ausfüllen können (RVA Nr. 2362 AN 1917, 516, 517). Deshalb wird das sozialversicherungsrechtliche Beschäftigungsverhältnis durch Kriegsdienst gelöst.
Dem Kläger erwachsen aus seinem Wehrdienst und seiner Kriegsgefangenschaft keine unausgeglichenen Nachteile. Für die Erfüllung der Wartezeit wie auch bei der Rentenberechnung werden diese Zeiträume ungeschmälert als Ersatzzeiten angerechnet. Andererseits ist nicht einzusehen, daß sich von allen im Gesetz vorgesehenen Ersatzzeiten nur diejenige des militärischen oder militärähnlichen Dienstes und der Kriegsgefangenschaft (§ 1251 Abs. 1 Nr. 1 der Reichsversicherungsordnung) auf die Anrechnung glaubhaft gemachter Beitragszeiten günstig auswirken soll.
Hiernach ist die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen