Verfahrensgang

LSG Hamburg (Urteil vom 05.02.1991)

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 5. Februar 1991 wird zurückgewiesen.

Die Klägerin hat der Beigeladenen auch die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten. Im übrigen sind keine Kosten zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Streitig ist, ob die Klägerin Anspruch auf Hinterbliebenenrente nach § 1265 Abs 1 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aus der Versicherung des K. P. R. … M. K. … (Versicherter) hat.

Der 1910 geborene und am 20. Februar 1986 verstorbene Versicherte war in erster Ehe seit 1934 mit der im Dezember 1989 verstorbenen G. … M. … A. K. …, geborene B. …, verheiratet. Diese Ehe wurde durch Urteil des Landgerichts Hamburg vom 5. September 1946 geschieden. Ein Jahr zuvor, am 1. September 1945, hatte der Versicherte bereits die 1920 geborene Klägerin geheiratet. Aus dieser Ehe sind drei Kinder hervorgegangen, die 1944, 1946 und am 25. Dezember 1953 geboren sind. Die Ehe wurde durch Urteil des Landgerichts Limburg/Lahn vom 13. November 1968 aus alleinigem Verschulden des Versicherten geschieden. Der Versicherte hat später die Beigeladene geheiratet. Diese Ehe hat bis zum Tode des Versicherten bestanden. Für den Fall der Scheidung der Ehe aus alleinigem Verschulden des Versicherten hatten die Klägerin und der Versicherte vor dem Landgericht Limburg/Lahn am 13. November 1968 folgenden Vergleich geschlossen, der in Ziff 1) folgenden Wortlaut hat:

„Der Beklagte zahlt an die Klägerin einen Unterhaltsbetrag von monatlich 160,– DM, solange das am 25. Dezember 1953 geborene Kind Hans-Ulrich unterhaltsbedürftig ist. Bei Wegfall der Unterhaltsbedürftigkeit dieses Kindes zahlt der Beklagte an die Klägerin eine Leibrente von monatlich 80,– DM.”

Im Zeitpunkt der Scheidung waren die Klägerin und der Versicherte berufstätig. Im Jahre 1975 wurde der Klägerin eine Ausfertigung des Vergleichs vom 13. November 1968 zum Zwecke der Zwangsvollstreckung erteilt. Der Versicherte zahlte später bis zu seinem Tode an die Klägerin 80,– DM monatlich. Der Versicherte bezog im Zeitpunkt seines Todes Altersruhegeld in Höhe von 1.775,06 DM. Die Klägerin bezog im Zeitpunkt des Todes des Versicherten Altersruhegeld in Höhe von 481,99 DM monatlich und vom Lahn-Dill-Kreis Sozialhilfe. Die Beigeladene erzielte im Februar 1986 als Angestellte ein Bruttoarbeitsentgelt von 2.822,– DM und hatte im Jahre 1985 ein Bruttoarbeitsentgelt von 35.590,– DM erzielt. Die Beigeladene bezieht von der Beklagten Witwenrente nach den §§ 1264, 1268 Abs 2 RVO (Bescheid vom 3. Juli 1986). Den Antrag der Klägerin auf Gewährung der Hinterbliebenenrente nach § 1265 RVO lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 16. Januar 1987).

Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, der Klägerin Hinterbliebenenrente nach dem Versicherten ab 1. Juli 1986 zu gewähren (Urteil vom 7. Juli 1988). Auf die Berufung der Beigeladenen hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 5. Februar 1991).

Gegen dieses Urteil richtet sich die vom LSG zugelassene Revision der Klägerin. Sie rügt eine Verletzung des § 1265 Abs 1 Satz 1 RVO durch das Berufungsgericht.

Die Klägerin beantragt,

das angefochtene Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 5. Februar 1991 aufzuheben und die Berufung der Beigeladenen gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 7. Juli 1988 als unbegründet zurückzuweisen.

Die Beklagte und die Beigeladene beantragen,

die Revision zurückzuweisen.

Sie halten das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision ist nicht begründet.

Über den geltend gemachten Anspruch ist nach den Vorschriften des 4. Buches der RVO zu entscheiden, obwohl diese Vorschriften mit Wirkung vom 1. Januar 1992 gestrichen (Art 6 Nr 24 iVm Art 85 Rentenreformgesetz ≪RRG 1992≫ vom 18. Dezember 1989 – BGBl I S 2261) und durch das Sechste Buch des Sozialgesetzbuches (SGB VI) ersetzt worden sind. Über Leistungsansprüche, die wie im vorliegenden Fall vor dem 1. Januar 1992 beginnen und bis zum 31. März 1992 beantragt worden sind, ist indes gemäß § 300 Abs 2 SGB VI unter Anwendung der durch das RRG 1992 aufgehobenen Vorschriften zu entscheiden.

Der angefochtene Bescheid ist rechtmäßig, denn die Klägerin hat keinen Anspruch auf Hinterbliebenenrente nach § 1265 Abs 1 RVO.

Nach Satz 1 dieser Vorschrift hat eine frühere Ehefrau Anspruch auf Hinterbliebenenrente, wenn ihre Ehe mit dem Versicherten vor dem 1. Juli 1977 geschieden, für nichtig erklärt oder aufgehoben ist und der Versicherte zur Zeit seines Todes Unterhalt nach den Vorschriften des Ehegesetzes (EheG) oder aus sonstigen Gründen zu leisten hatte oder wenn er im letzten Jahr vor seinem Tode Unterhalt geleistet hat. Das LSG hat unangegriffen und damit für den Senat bindend festgestellt, daß der Versicherte der Klägerin im letzten Jahr vor seinem Tode monatlich 80,– DM gezahlt hat. Das LSG hat unterstellt, daß es sich bei diesem Betrag um die Leistung von Unterhalt gehandelt hat; es ist aber zugleich zu Recht davon ausgegangen, daß der Betrag von 80,– DM so gering war, daß er kein ausreichender Unterhalt iS von § 1265 Abs 1 Satz 1 RVO war. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), an der trotz der hiergegen von der Revision vorgetragenen Einwände festgehalten wird, sollen nur solche Unterhaltsleistungen oder Unterhaltsansprüche den Anspruch aus § 1265 Abs 1 RVO begründen, die für die Lebensführung des Empfängers bzw Berechtigten tatsächlich bedeutsam sein können, dh eine bestimmte Mindesthöhe erreichen. Als ausreichend aber auch notwendig hat die Rechtsprechung einen Betrag in Höhe von wenigstens 25 vH des zeitlich und örtlich maßgeblichen Regelsatzes nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) bestimmt (BSGE 53, 256 = SozR 2200 § 1265 Nr 63 mwN). Der für die Klägerin maßgebliche Regelsatz nach dem BSHG betrug im Jahre 1986 390,– DM. Der Betrag von 80,– DM erreichte damit nicht 25 vH des zeitlich und örtlich maßgebenden Regelsatzes nach dem BSHG.

Die Klägerin hatte auch im Zeitpunkt des Todes gegen den Versicherten keinen höheren Unterhaltsanspruch als die tatsächlich von diesem gezahlten 80,– DM. Die Unterhaltsansprüche der Klägerin richten sich nach den §§ 58 ff EheG 1946 (BGBl III 406-1), denn die Ehe der Klägerin ist vor dem 1. Juli 1977 aus dem alleinigen Verschulden des Versicherten geschieden worden (Art 12 Ziff 3 Abs 2 1. EheRG) und nicht gemäß § 23 EheG für nichtig erklärt worden. Aufgrund der oa Vereinbarung vom 13. November 1968 hatte die Klägerin aber keine Unterhaltsansprüche nach dem EheG, sondern allein den Leibrentenanspruch in Höhe von nur 80,– DM.

Das LSG hat die Vereinbarung vom 13. November 1968 dahin ausgelegt, daß beginnend mit dem Zeitpunkt des Wegfalls der Unterhaltsbedürftigkeit des jüngsten Sohnes der Klägerin diese einen Anspruch auf eine Leibrente von 80,– DM monatlich haben sollte, daß diese Vereinbarung einer Leibrente die nach den §§ 58 ff EheG bestehenden gesetzlichen Unterhaltsansprüche ersetzen sollte und neben dieser Leibrente keine weiteren Unterhaltsansprüche bestehen sollten. Diese vom LSG vorgenommene Auslegung privater Willenserklärungen stellt eine das Revisionsgericht nach § 163 Sozialgerichtsgesetz (SGG) bindende Tatsachenfeststellung dar, soweit sie die Frage betrifft, was die Erklärenden geäußert und was sie – entsprechend ihrem „inneren Willen” – gemeint haben. Insoweit kann nur geprüft werden, ob das Berufungsgericht Verfahrensvorschriften, Denkgesetze oder Erfahrungssätze verletzt hat (BSG SozR 2200 § 1265 Nr 24 S 75 mwN; BSGE 46, 16). Einen Verstoß gegen Verfahrensgrundsätze in bezug auf die Auslegung der Vereinbarung vom 13. November 1968 wird von der Klägerin nicht gerügt. Soweit das LSG angenommen hat, es sei eine Leibrente vereinbart und nicht eine Konkretisierung des nach §§ 58 ff EheG geschuldeten Unterhalts in der Vereinbarung getroffen worden, ist auch kein Verstoß gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze zu finden. Zwar ist in der Regel davon auszugehen, daß ein Zahlbetrag, der in einem Vergleich vor der Ehescheidung als monatliche Zahlung vereinbart wird, als Präzisierung der Unterhaltsverpflichtung nach den §§ 58 ff EheG vereinbart ist. Wenn die Beteiligten aber ausdrücklich die Zahlung eines bestimmten Betrages als Leibrente vereinbaren, so ist zunächst die Annahme selbstverständlich, daß es sich dabei tatsächlich um eine Leibrente mit den entsprechenden Rechtsfolgen handeln sollte, und diese Annahme verstößt jedenfalls nicht gegen allgemeine Auslegungsgrundsätze. Auch die weitere vom LSG gemachte Aussage, mit der Vereinbarung über die Leibrente sei zugleich vereinbart worden, daß diese anstelle des nach den §§ 58 ff EheG bestehenden Unterhaltsanspruchs treten und diesen vollständig ersetzen solle, verstößt weder gegen Denkgesetze noch Erfahrungssätze.

Die Klägerin hat mit dem Leibrentenanspruch einen Unterhaltsanspruch aus einem sonstigen Grund iS von § 1265 Abs 1 Satz 1 RVO gehabt; denn auch der Anspruch auf eine Leibrente ist jedenfalls dann ein Unterhaltsanspruch iS des § 1265 Abs 1 Satz 1 RVO, wenn er zu Unterhaltszwecken begründet ist (vgl BSG SozR 2200 § 1265 Nr 31). Letzteres ist anzunehmen, wenn die Leibrente gerade an die Stelle des nach den §§ 58 ff EheG geschuldeten Unterhalts treten soll. Dieser Unterhaltsanspruch bestand indes nicht in ausreichender Höhe, um einen Hinterbliebenenrentenanspruch nach § 1265 Abs 1 RVO zu begründen, wie oben schon ausgeführt ist.

Erfolglos wendet sich die Klägerin dagegen, daß das LSG angenommen hat, eine Änderung der Höhe der Leibrentenzahlung sei ausgeschlossen gewesen. Soweit das LSG eine Änderung der Leibrentenzahlung aufgrund einer Abänderungsklage nach § 323 Zivilprozeßordnung (ZPO) für ausgeschlossen gehalten hat, ist dies zutreffend. Der Inhalt des Leibrentenvertrages ist gesetzlich nicht definiert. Nach der Rechtsprechung ist eine Leibrente ein einheitlicher Anspruch auf wiederkehrende Leistungen, die nach Zeitabständen, Art und Höhe gleichmäßig sind, in Geld oder anderen vertretbaren Sachen bestehen und im Rahmen eines auf Lebenszeit eines oder mehrerer Menschen begründeten Dauerschuldverhältnisses gewährt werden, wobei dieses Dauerschuldverhältnis entweder gegen Hingabe eines bestimmten Geldbetrages oder gegen eine sonstige einmalige geldwerte Leistung oder unentgeltlich oder durch abstraktes Rechtsgeschäft begründet wird (vgl diese Definition bei Staudinger/Aman, Vorbem zu §§ 759 bis 761, Anm 36). Unvereinbar mit dem Leibrentencharakter ist danach vor allem die ausdrückliche oder stillschweigende Vereinbarung, daß die einzelnen Leistungen sich nach den Bedürfnissen des Berechtigten oder nach der Leistungsfähigkeit des Verpflichteten richten oder daß sie unter dem Vorbehalt gleichbleibender Verhältnisse stehen bzw einer Anpassung gem § 323 ZPO unterliegen (vgl Staudinger/Aman, aaO Anm 9; OLG Karlsruhe NJW 1962 S 1774 und OLG Schleswig, FamRZ 1991, S 1203 ff). Wenn das LSG in Übereinstimmung mit dieser Definition davon ausgegangen ist, daß die Änderung der geschuldeten Zahlung nicht nach § 323 ZPO verlangt werden könne, so kann die Klägerin demgegenüber auch nicht einwenden, daß die Leibrente im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) nicht gesetzlich definiert ist und die gesetzlichen Regelungen über die Leibrente nur lückenhaft sind. Die wesentlichen Merkmale einer Leibrente sind von der Rechtsprechung seit langem festgestellt gewesen. In der Rechtsprechung ist häufig streitig gewesen, ob die Vereinbarung über die Zahlung einer bestimmten Geldsumme sich als Leibrentenversprechen darstellt mit den entsprechenden Rechtsfolgen einerseits hinsichtlich der Formbedürftigkeit der Vereinbarung, andererseits aber auch hinsichtlich der mangelnden Abänderbarkeit der zugesagten Geldrente. So sind in den Entscheidungen des Oberlandesgerichts (OLG) Karlsruhe und des OLG Schleswig aaO jeweils Rentenzahlungen vereinbart gewesen, die dann von den Gerichten als Leibrenten angesehen wurden. In dem dem Senatsurteil vom 25. November 1982 (5b RJ 18/82 = SozSich 1983, 330) zugrundeliegenden Fall ist lediglich die Zahlung einer Unterhaltsrente vereinbart gewesen, die vom LSG als Leibrente angesehen wurde. Im vorliegenden Fall ist aber die Rentenzahlung ausdrücklich als Leibrente vereinbart und die Vereinbarung deshalb vom LSG als Leibrentenversprechen angesehen worden. Notwendige Rechtsfolge, ist dann gewesen, daß die Zahlung der Rente in der Höhe nicht von der Bedürftigkeit der Klägerin oder dem Leistungsvermögen des Versicherten abhängig gewesen ist.

Die Leibrente hätte allerdings nach den Grundsätzen über den Wegfall der Geschäftsgrundlage angepaßt werden können. Dies gilt auch, soweit die Klägerin hätte geltend machen können, durch den Geldwertschwund sei die Geschäftsgrundlage weggefallen. Das Reichsgericht hat in seinem Urteil vom 5. November 1923 (Warneyer-Rechtsprechung Nr 115) auch für den Fall, daß die Vereinbarung einer Unterhaltsrente als Leibrentenvertrag anzusehen ist, eine Anpassung wegen des damaligen Geldwertschwundes für möglich gehalten. Es hat seinerzeit diese Anpassungsmöglichkeit noch auf § 157 BGB gestützt. In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (BGH) wird heute die Anpassung von Dauerleistungen wegen Wegfalls der Geschäftsgrundlage auf § 242 BGB gestützt (vgl BGHZ 97, 172 mwN zur Erhöhung eines Erbbauzinses bei Fehlen vertraglicher Anpassungsklauseln). Die Voraussetzungen, unter denen der BGH eine Anpassung einer langfristig vereinbarten Leistung wegen des Geldwertschwundes nach § 242 BGB für zulässig und geboten hält, sind im vorliegenden Fall aber nicht erfüllt. Nach der Rechtsprechung des BGH ist eine Erbbauzinserhöhung wegen Wegfalls der Geschäftsgrundlage erst dann möglich und geboten, wenn der Geldwertschwund 3/5 oder 60 vH beträgt. Es besteht jedenfalls kein Anlaß, bei einem Leibrentenversprechen, das die gesetzliche Unterhaltspflicht ersetzt, einen anderen Maßstab für den Wegfall der Geschäftsgrundlage anzunehmen, als ihn der BGH bei der Erbbauzinserhöhung angenommen hat.

Da die Leibrente unabhängig von der Bedürftigkeit der Anspruchsberechtigten und der Leistungsfähigkeit des Verpflichteten zu zahlen ist, kann nur der absolute Wert der Leibrente durch eine Anpassung gesichert werden, wie dies auch bei der Anpassung des Erbbauzinses geschieht. Nach den nicht angegriffenen Feststellungen des LSG betrug die Steigerung der Lebenshaltungskosten in der Zeit von 1968 bis 1986 etwa 100%. Sie erreichte damit bei weitem nicht 150%. Erst bei einer Preissteigerung von 150% ist aber der Geldwert um 3/5 gemindert.

Ein Anspruch nach § 1265 Abs 1 Satz 2 RVO kommt nicht in Betracht, denn die Beigeladene erhält eine Witwenrente.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1174143

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