Leitsatz (redaktionell)

1. Zum Recht auf Vertagung eines Termins zur mündlichen Verhandlung bei Teilnahme des Klägers an einem Aufstiegslehrgang.

2. ZPO § 227 ist nach SGG § 202 entsprechend anzuwenden.

3. Welche Gründe als erheblich iS des ZPO § 227 anzusehen sind, richtet sich je nach Lage des Einzelfalles nach dem Prozeßstoff und den persönlichen Verhältnissen des Antragstellers bzw seines Prozeßbevollmächtigten.

4. Beim Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen besteht ein "Recht auf Vertagung", selbst wenn das Gericht die Sache für entscheidungsreif hält und die Erledigung des Rechtsstreits verzögert wird.

 

Normenkette

SGG § 62 Fassung: 1953-09-03, § 202 Fassung: 1953-09-03; ZPO § 227 Abs. 1, 3

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 20. Juli 1967 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Gründe

Der Kläger, der dem Reichsarbeitsdienst seit 3. März 1942 und der Wehrmacht seit 1. Oktober 1943 angehört hatte, beantragte im Juli 1959 die Gewährung von Versorgungsbezügen wegen "Gallen und Leberleiden, Nierenleiden". In einem Gutachten vom 27. Oktober 1959 stellte Dr. W die Diagnose: 1) Zustand nach Semikastration wegen 1952 operativ behandelter Nebenhodentuberkulose rechts (MdE 0 %); 2) Verlust der linken Niere infolge Nierentuberkulose mit noch bestehender Fisteleiterung und sekundärer Leberschädigung (MdE 50 %). Beide Leiden wurden von dem Gutachter als Nichtschädigungsleiden angesehen. In einer versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 8. Februar 1960 schloß sich Dr. S dieser Auffassung an. Durch Bescheid des Versorgungsamtes (VersorgA) D vom 20. April 1960 wurde der Antrag des Klägers wegen Fristversäumnis (§ 56 des Bundesversorgungsgesetzes - BVG -) und aus sachlichen Gründen abgelehnt. Der Widerspruch des Klägers war erfolglos (Widerspruchsbescheid des Landesversorgungsamtes - LVersorgA- N vom 11. Oktober 1960). Im sozialgerichtlichen Verfahren wurde ein Gutachten von Prof. Dr. D/Dr. Sch (Urologische Klinik der Medizinischen Akademie D) eingeholt: Ein Zusammenhang der bestehenden Gesundheitsstörungen mit Wehrdienst oder Gefangenschaft wurde verneint. Das Sozialgericht (SG) wies die Klage durch Urteil vom 19. April 1966 ab. Das Landessozialgericht (LSG) zog ein weiteres Gutachten von Prof. Dr. D vom 5. April 1967 bei. Der Kläger lehnte diesen Gutachter wegen Befangenheit ab, da er bereits in der ersten Instanz als Sachverständiger tätig geworden sei. Das LSG beraumte Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 20. Juli 1967 an. Zu diesem Termin wurde der Kläger laut Zustellungsurkunde am 30. Juni 1967 geladen. Mit Schreiben vom 11. Juli 1967 bat der Kläger um Terminsverlegung, da er bis Ende September an einem Verwaltungslehrgang des Bundesverwaltungsamtes in K teilnehme; wegen der anstehenden Klausurarbeiten könne er weder den Termin wahrnehmen noch die hierfür erforderlichen Vorbereitungen betreiben. Dem Kläger wurde vom LSG auferlegt, durch eine amtliche Bescheinigung nachzuweisen, daß ihm eine Teilnahme an dem Termin vom 20. Juli 1967 aus dienstlichen Gründen nicht möglich sei. Der Kläger übersandte darauf mit Anschreiben vom 19. Juli 1967, beim LSG eingegangen am 20. Juli 1967, eine Bescheinigung des Bundesverwaltungsamtes K vom 19. Juli 1967 mit folgendem Wortlaut: "Hiermit bescheinige ich Herrn Regierungsobersekretär K H Sch, daß er zur Zeit an einem Abschlußlehrgang zur Vorbereitung auf die Laufbahnprüfung für den gehobenen Dienst teilnimmt, der am 30. September 1967 beendet sein wird. Seine Teilnahme kann wegen Anstehen der schriftlichen Arbeiten nicht unterbrochen werden."

Das LSG hat durch Urteil vom 20. Juli 1967 (Entscheidung nach Aktenlage) die Berufung des Klägers zurückgewiesen; die Revision ist nicht zugelassen worden. In den Gründen wird u. a. ausgeführt, dem Vertagungsantrag des Klägers habe nicht stattgegeben werden können. Der Kläger habe hinreichend Gelegenheit gehabt, sich zu dem Prozeßstoff, insbesondere dem Ergänzungsgutachten von Prof. Dr. D, zu äußern. Zur Teilnahme an dem Gerichtstermin hätte der Kläger den Lehrgang nicht zu unterbrechen brauchen; die Wahrnehmung des Termins hätte nur einen Zeitverlust von wenigen Stunden bedeutet. Aus der Bescheinigung des Bundesverwaltungsamtes gehe nicht hervor, daß der Kläger gerade an dem Terminstage an einer Klausurarbeit teilzunehmen hatte. Sachlich sei der Anspruch des Klägers nach den fachärztlichen Gutachten nicht begründet.

Dieses Urteil wurde dem Kläger am 13. August 1967 zugestellt. Der Kläger hat dagegen mit Schriftsatz vom 28. August 1967, beim Bundessozialgericht (BSG) eingegangen am 30. August 1967, Revision eingelegt.

Er beantragt,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur weiteren Verhandlung an das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen in Essen zurückzuverweisen.

In seiner Revisionsbegründung, auf die Bezug genommen wird, rügt der Kläger Verfahrensmängel. Er trägt dazu vor, nach der beigebrachten Bescheinigung des Bundesverwaltungsamtes habe er aus zwingenden dienstlichen Gründen an dem Gerichtstermin nicht teilnehmen können. Das LSG habe nicht zu beurteilen gehabt, ob gerade an dem Terminstage eine Klausurarbeit geschrieben worden sei oder geschrieben werden sollte. Jedenfalls sei das Anstehen der schriftlichen Arbeiten wenige Wochen vor dem Abschluß des Lehrganges ein ausreichender Hinderungsgrund gewesen. Infolge der starken Beanspruchung durch den für sein berufliches Fortkommen besonders wichtigen Lehrgang habe er sich auch nicht genügend auf den Prozeß und den Termin vorbereiten können. Durch die Ablehnung des Verlegungsantrages sei sein Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt worden. Auch habe er bereits vor dem LSG gerügt, daß der in der ersten Instanz mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragte Sachverständige erneut in der zweiten Instanz zum Gutachter bestellt worden sei.

Der Beklagte stellt im Revisionsverfahren keinen Antrag.

Der Kläger hat die Revision form- und fristgerecht eingelegt und auch rechtzeitig begründet (§§ 164, 166 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Da das LSG die Revision nicht nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG zugelassen hat und der Kläger eine Gesetzesverletzung bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhanges im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG nicht geltend gemacht hat, ist sie nur statthaft, wenn ein wesentlicher Mangel im Verfahren des LSG gerügt wird und vorliegt (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG; vgl. BSG 1, 150). Der Kläger rügt in seiner Revisionsbegründung eine Verletzung der §§ 62 SGG, 227 der Zivilprozeßordnung (ZPO) und des § 60 SGG iVm §§ 41 ff, 406 ZPO. Zwar hat der Kläger diese Verfahrensnormen nicht ausdrücklich bezeichnet, jedoch läßt sein substantiierter Vortrag hinreichend deutlich erkennen, daß er diese Verfahrensvorschriften als verletzt ansieht. Werden mehrere Verfahrensmängel gerügt, so genügt es nach der ständigen Rechtsprechung des BSG, wenn einer dieser Verfahrensmängel vorliegt und die Revision trägt. In einem solchen Falle kommt es für die Statthaftigkeit der Revision nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG nicht mehr darauf an und braucht nicht entschieden zu werden, ob auch die übrigen Rügen durchgreifen (vgl. BSG in SozR SGG § 162 Nr. 122). Der Kläger rügt zutreffend eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG, Art. 103 des Grundgesetzes - GG -). Dem Durchgreifen dieser Rüge steht nicht entgegen, daß die Beschwerde gegen den Beschluß eines LSGs , durch den ein Vertagungsantrag abgelehnt wird, nach § 177 SGG unzulässig und daher im allgemeinen der Beurteilung durch das Revisionsgericht entzogen wäre. Wenn sich die Ablehnung eines Vertagungsantrages als Versagung des rechtlichen Gehörs darstellt, kann darauf eine Revisionsrüge gestützt werden (vgl. BGHZ 27/163 und die dort zitierte Literatur mit zahlreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung).

Der Kläger hatte mit Schriftsatz vom 11. Juli 1967 unter Angabe von Gründen eine Aufhebung des Termins vom 20. Juli 1967 beantragt. Entsprechend der Auflage des LSG hatte er eine Bescheinigung des Bundesverwaltungsamtes über seine dienstliche Verhinderung eingereicht. Diese Bescheinigung ist, wie sich aus den Entscheidungsgründen des Berufungsurteils ergibt, rechtzeitig vor Beginn der mündlichen Verhandlung bei Gericht eingetroffen und verwertet worden. Nach § 124 SGG entscheiden die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit regelmäßig auf Grund mündlicher Verhandlung; diese ist ein wesentliches Mittel, um dem Anspruch der Beteiligten auf rechtliches Gehör zu genügen und den Streitstoff erschöpfend mit ihnen zu erörtern (vgl. BSG 17, 44 = SozR SGG § 162 Nr. 171). Der Grundsatz des Art. 103 GG, daß vor Gericht jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör hat, findet auch auf die Gerichtsverfahren Anwendung, in denen die Untersuchungsmaxime gilt (vgl. BVerfG in JZ 1957, 242). Für die Sozialgerichtsbarkeit ist dies überdies in § 62 SGG ausdrücklich vorgeschrieben. Die Beteiligten haben grundsätzlich ein Recht darauf, zur mündlichen Verhandlung zu erscheinen und mit ihren Ausführungen gehört zu werden, auch wenn ihr persönliches Erscheinen nicht ausdrücklich nach § 111 Abs. 1 SGG angeordnet ist. Im Falle seiner Verhinderung hat ein Beteiligter das Recht, die Aufhebung und Verlegung des Termins zur mündlichen Verhandlung zu beantragen. Ein derartiger Verlegungsantrag ist gemäß § 202 SGG nach den Merkmalen des § 227 ZPO zu beurteilen, da diese Vorschrift für das sozialgerichtliche Verfahren entsprechend anzuwenden ist (vgl. BSG aaO).

Nach § 227 Abs. 1 und 3 ZPO kann das Gericht "aus erheblichen Gründen" auf Antrag oder von Amts wegen einen Termin aufheben oder verlegen. Sobald erhebliche Gründe im Sinne des § 227 ZPO vorliegen, muß der Termin zur Gewährleistung des rechtlichen Gehörs verlegt werden, selbst wenn das Gericht die Sache für entscheidungsreif hält und die Erledigung des Rechtsstreits (§ 106 Abs. 2 SGG) verzögert wird (vgl. BSG 1, 277, 279 = SozR SGG § 162 Nr. 15). Die vom Gesetzgeber und vom Gericht angestrebte Beschleunigung des Verfahrens darf nicht zu einer Verkürzung des rechtlichen Gehörs führen (vgl. RG in JW 1936, 653; RGZ 81, 321, 324).

Es kann daher bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen von einem "Recht auf Vertagung" gesprochen werden (vgl. Rosenberg, Lehrbuch des Deutschen Zivilprozeßrechts, 8. Aufl., § 67 Anm. IV 2). Das BSG hat wiederholt (vgl. BSG 1, 277; 17,44) dahin erkannt, daß es einen Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör und damit einen wesentlichen Mangel des Verfahrens im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG darstellt, wenn ein Antrag auf Terminsverlegung trotz des Vorliegens erheblicher Gründe im Sinne des § 227 ZPO abgelehnt wird. Diese Rechtsauffassung wird auch von dem erkennenden Senat geteilt. Welche Gründe als erheblich im Sinne dieser Vorschrift anzusehen sind, wird sich je nach Lage des Einzelfalles nach dem Prozeßstoff und den persönlichen Verhältnissen des Antragstellers bzw. seines Prozeßbevollmächtigten zu richten haben. Von der Rechtsprechung sind u. a. die Unmöglichkeit genügender Vorbereitung durch eine Partei oder ihren Vertreter (vgl. BGHZ 27, 169) sowie die begründete Verhinderung einer Partei, im Parteiprozeß den Termin persönlich wahrzunehmen, als erhebliche Gründe für eine Terminsaufhebung angesehen worden (vgl. BSG 17, 44; Baumbach/Lauterbach, ZPO, 27. Aufl., Anm. 2 B; Rosenberg, aaO, § 67 Anm. III 2).

Im vorliegenden Falle befand sich der Kläger auf einem Lehrgang, der nach seiner Darstellung seine Arbeitskraft voll in Anspruch nahm und der für sein berufliches Fortkommen von entscheidender Bedeutung war. Dieser Lehrgang sollte am 30. September 1967 abgeschlossen werden, so daß sich bei einer Vertagung nur eine unwesentliche Verzögerung des Gerichtsverfahrens ergeben hätte. Auf Grund seines Verlegungsantrages hatte das LSG dem Kläger lediglich aufgegeben, durch eine amtliche Bescheinigung nachzuweisen, daß ihm die Teilnahme an dem Gerichtstermin nicht möglich sei. In dem daraufhin vorgelegten Schreiben des Bundesverwaltungsamtes vom 19. Juli 1967 wurde dem Kläger bescheinigt, daß seine Teilnahme an dem Lehrgang wegen des Anstehens der schriftlichen Arbeiten nicht unterbrochen werden könne. Entgegen der Auffassung des LSG kann es dahinstehen, ob gerade an dem Terminstage schriftliche Arbeiten geschrieben wurden oder geschrieben werden sollten und ob das Bundesverwaltungsamt nähere Einzelheiten über die Unabkömmlichkeit des Klägers angeben konnte und mußte. Jedenfalls hat das LSG in dem angefochtenen Urteil zusätzliche Anforderungen an den Hinderungsgrund gestellt - Klausurarbeit gerade am Terminstage -, die aus der Verfügung des LSG vom 14. Juli 1967 nicht ersichtlich waren. Nachdem der Kläger die von ihm verlangte Bescheinigung des Bundesverwaltungsamtes beigebracht hatte, durfte er darauf vertrauen, daß das LSG seinem Verlegungsantrag stattgeben werde. Der Kläger rügt weiter zu Recht, daß er rechtzeitig im Verfahren vor dem LSG auf die ihm fehlende Zeit zur Prozeßvorbereitung hingewiesen habe. Wer, wie der Kläger, in fortgeschrittenem Alter an einem für ihn entscheidenden Aufstiegslehrgang teilnimmt, wer dabei nicht zu Hause, sondern für die Dauer des Lehrgangs am Lehrgangsort wohnt, wer körperlich durch Krankheiten und Leiden erheblich behindert wird, der muß seine ganze Kraft und Energie für das erfolgreiche Bestehen dieses Lehrganges einsetzen. Für das sozialgerichtliche Verfahren war weiter zu berücksichtigen, daß der Kläger nicht durch einen Prozeßbevollmächtigten vertreten zu sein brauchte, sondern den Rechtsstreit persönlich führen konnte. Bei richtiger Würdigung dieser Gesamtumstände hätte sich das LSG gedrängt fühlen müssen, dem Verlegungsantrag des Klägers stattzugeben.

Da die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör genügend substantiiert gerügt ist und vorliegt, ist die Revision statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG). Es bedurfte deshalb keiner weiteren Erörterung und Entscheidung, ob auch die Revisionsgründe zu 2) - Ablehnungsantrag gegen den medizinischen Sachverständigen Prof. Dr. D - durchgreifen. Die Revision ist auch begründet. Es ist nicht auszuschließen, daß das LSG ohne den oben bezeichneten Verfahrensmangel zu einem anderen, für den Kläger günstigen Ergebnis gelangt wäre. Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (vgl. § 170 Abs. 2 und 4 SGG).

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324584

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