Leitsatz (amtlich)

Der Kläger kann einem Rechtsstreit, bei dem die Berufung nach SGG § 148 Nr 3 ausgeschlossen ist, nicht den Weg zum Berufungsverfahren dadurch eröffnen, daß er mit der Berufung ein "neues Leiden" als Schädigungsfolge geltend macht. Hat aber bereits das Sozialgericht den Anspruch auf Feststellung einer höheren Rente nach BVG § 62 auch deshalb als unbegründet angesehen, weil ein "neues Leiden" keine Schädigungsfolge sei, so ist die Berufung nach SGG § 150 Nr 3 auch dann statthaft, wenn der Kläger nicht ausdrücklich beantragt hat, das "neue Leiden" als Schädigungsfolge festzustellen.

 

Normenkette

BVG § 62 Fassung: 1950-12-20; SGG § 148 Nr. 3 Fassung: 1958-06-25, § 150 Nr. 3 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 31 . Mai 1961 wird aufgehoben; die Sache wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen .

 

Gründe

I

Der Kläger bezieht nach dem Bescheid des Versorgungsamts II B ... vom 28 . Juli 1955 (ergänzt durch den Neufeststellungsbescheid vom 28 . März 1958) wegen

"1 . Verlust des rechten Oberschenkels im mittleren Drittel ,

2 . Prellungsverletzung li . Auge mit Verlust des zentralen Sehens ,

3 . Narbenbildungen und kleine Granatstecksplitter in der linken Gesichtshälfte , Einengungen und Abschattung der linken Oberkieferhälfte ,

4 . Einiger belangloser Narben am Körper ,

5 . Überlastungsschaden des erhaltenen li . Fußes (als mittelbare Folge des Vls) ,

6 . Mit geringer Verformung verheilter Bruch des 3 . li . Mittelhandknochens und reizlos eingeheilte Schrotkugeln im Bereich des linken Unterarms ,

7 . Elektrokardiographisch nachweisbare Herzmuskelschädigung mit Neigung zu Stenocardie und Ausgleichsstörung"

als Schädigungsfolgen eine Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 90 v . H . Am 25 . April 1958 stellte der Kläger einen "Verschlimmerungsantrag"; er begehrte eine Rente nach einer MdE von 100 v . H . ; er verwies darauf , daß er sich seit März 1958 in stationärer Behandlung in der psychiatrischen und neurologischen Klinik der Freien Universität in B ... befinde , er bat , die Unterlagen dieser Klinik heranzuziehen . Aus diesen Unterlagen ergab sich , daß der Kläger vom 8 . März bis 23 . Juni 1958 stationär behandelt wurde; es wurde die Diagnose abnorme Erlebnisreaktion ( Conversionsneurose ) gestellt und als wesentlicher Befund eine depressive Verstimmung mit schweren Angstzuständen beobachtet . Das Versorgungsamt holte ein versorgungsärztliches Gutachten ein , darin vertrat der Nervenfacharzt Dr . F ... die Auffassung , die schweren Angstzustände des Klägers trügen überwiegend neurotischen Charakter , ob es sich um eine "abnorme Erlebnisreaktion" oder um eine "Organneurose" handele , könne dahingestellt bleiben , das "neurotische Verhalten" sei jedenfalls in der Konstitution des Klägers begründet . Die Versorgungsbehörden lehnten darauf mit Bescheiden vom 6 . Januar 1959 und vom 21 . August 1959 (Widerspruchsbescheid) den Antrag des Klägers ab , weil sich die objektiven Herzbefunde nicht verschlimmert hätten; die Angstzustände des Klägers trügen überwiegend neurotischen Charakter , sie seien nicht Schädigungsfolge , sondern in der Konstitution des Klägers begründet .

Mit der Klage trug der Kläger vor , auch seine psychischen Störungen seien Schädigungsfolge und deshalb bei der Bewertung der MdE zu berücksichtigen; um "psychogene Erkrankungen" handele es sich hierbei nicht .

Er beantragte ,

den Beklagten unter teilweiser Aufhebung des Bescheides des Versorgungsamts II B... vom 28 . März 1958 und unter Aufhebung der Bescheide des Versorgungsamts II B ... vom 6 . Januar 1959 und des Landesversorgungsamts B ... vom 21 . August 1959 zu verurteilen , ihm für die anerkannten Schädigungsfolgen Versorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 100 v . H . zu gewähren .

Das Sozialgericht (SG) Berlin wies mit Urteil vom 7 . Februar 1961 die Klage ab . Es führte aus , die Verhältnisse , die für die letzte Feststellung der Versorgungsbezüge in dem Bescheid vom 28 . März 1958 maßgebend gewesen seien , hätten sich nicht geändert , auch eine Änderung des Herzbefundes sei nicht eingetreten; der Kläger habe keinen Antrag gestellt , weitere Gesundheitsstörungen als Schädigungsfolgen festzustellen , im übrigen seien die schweren Angstzustände des Klägers keine Schädigungsfolge , sie trügen überwiegenden neurotischen Charakter und seien ausschließlich in der Konstitution des Klägers begründet; die Voraussetzungen für eine Neufeststellung der Versorgungsbezüge des Klägers nach § 62 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) lägen daher nicht vor .

Der Kläger legte Berufung ein; er beantragte nunmehr , das angefochtene Urteil und die angefochtenen Verwaltungsbescheide abzuändern und den Beklagten zu verurteilen , "psychische Störungen mit in den Anerkennungsbescheid aufzunehmen" und dem Kläger ab 1 . April 1958 die Beschädigtenrente eines Erwerbsunfähigen zu gewähren .

Das Landessozialgericht (LSG) Berlin verwarf mit Urteil vom 31. Mai 1961 die Berufung des Klägers als unzulässig: Der Kläger habe beim SG sein Klagebegehren auf eine Erhöhung der Rente für die anerkannten Schädigungsfolgen beschränkt; erst im Berufungsverfahren habe er begehrt , ein weiteres bestimmtes Einzelleiden , nämlich "psychische Störungen" als Schädigungsfolge anzuerkennen; das "Nachschieben neuer Leiden" im Berufungsverfahren setze aber eine an sich statthafte Berufung voraus; die Berufung gegen das Urteil sei jedoch nach § 148 Nr . 3 SGG ausgeschlossen . Das LSG ließ die Revision zu , weil "es nicht ausgeschlossen sei , daß der erkennende Senat mit dieser Entscheidung von dem ihm nur als Leitsatz bekannten Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 18 . Januar 1961 - 11 RV 1020/60 - abgewichen sei" .

Das Urteil des LSG wurde dem Kläger am 27 . Juni 1961 zugestellt . Der Kläger legte am 18 . Juli 1961 Revision ein und beantragte ,

unter Aufhebung der Urteile des SG Berlin vom 7 . Februar 1961 und des LSG Berlin vom 31 . Mai 1961 nach dem Berufungsantrag zu erkennen , hilfsweise die Sache unter Aufhebung des Berufungsurteils zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG Berlin zurückzuverweisen .

Der Kläger begründete die Revision - nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist - am 30 . August 1961 . Er trug vor , das LSG habe die Berufung zu Unrecht als unzulässig verworfen , es habe eine Sachentscheidung treffen müssen , der Kläger habe schon mit seinem Verschlimmerungsantrag begehrt , auch seine "psychischen Störungen" als Schädigungsfolge anzusehen und bei der Bewertung der MdE zu berücksichtigen; dies habe er auch schon beim SG geltend gemacht .

Der Beklagte beantragte ,

die Revision zurückzuweisen .

II

Die Revision ist nach § 162 Abs . 1 Nr . 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthaft . Die Erwägungen , aus denen das LSG die Revision zugelassen hat , treffen allerdings nicht zu; die Auffassung des LSG , das "Nachschieben neuer Leiden" im Berufungsverfahren setze eine an sich statthafte Berufung voraus , weicht nicht von dem Urteil des BSG vom 18 . Januar 1961 - 11 RV 1020/60 - ab; indes ist die Zulassung der Revision jedenfalls nicht offensichtlich entgegen dem Gesetz erfolgt (Urteil des BSG , vom 30 . Juli 1959; SozR Nr . 138 zu § 162 SGG; BAG Bd . 5 , 246); das BSG ist daher an die Zulassung gebunden.

Das LSG hat die Berufung nicht als unzulässig verwerfen dürfen , es hat vielmehr eine Sachentscheidung treffen müssen , weil die Berufung im vorliegenden Falle nach § 150 Nr . 3 SGG statthaft gewesen ist. Das Verfahren des LSG leidet deshalb an einem wesentlichen Mangel .

Dem LSG ist darin zu folgen , daß eine Berufung , die einen "berufungsunfähigen" Streitgegenstand betrifft , nicht dadurch statthaft wird , daß der Kläger mit der Berufung sein Klagebegehren erweitert und damit nunmehr die Entscheidung über einen "berufungsfähigen" Streitgegenstand begehrt. Haben die Beteiligten vor dem SG nur um einen "berufungsunfähigen" Streitgegenstand gestritten und ist der Kläger durch das Urteil des SG nur insoweit beschwert , als er mit einem "berufungsunfähigen" Anspruch unterlegen ist , so "betrifft" im Sinne des § 148 SGG auch die Berufung nur diesen Streitgegenstand . Wenn das Gesetz in bestimmten Fällen wegen der Art des Streitgegenstandes bzw . des erhobenen Anspruchs die Berufung gegen Urteile des SG ausdrücklich ausschließt , so kann der Kläger nicht durch eine nachträgliche Änderung des Streitgegenstandes oder durch das Geltendmachen eines neuen Anspruchs die Berufungsfähigkeit des Urteils (nachträglich) "herbeiführen" . Ist die Berufung nach § 148 Nr . 3 ausgeschlossen , weil sie einen Rechtsstreit um den Grad der MdE oder die Neufeststellung der Versorgungsbezüge wegen Änderung der Verhältnisse betrifft , ohne daß die Schwerbeschädigteneigenschaft oder die Grundrente davon abhängt , so wird die Berufung auch dann nicht statthaft , wenn der Kläger mit der Berufung ein neues Leiden als Schädigungsfolge geltend macht und damit die Erweiterung des ursprünglichen Streitgegenstandes um einen (an sich berufungsfähigen - § 150 Nr . 3 SGG -) Streit über den ursächlichen Zusammenhang erstrebt . Der Kläger kann zwar im gerichtlichen Verfahren "neue Leiden" als Schädigungsfolge geltend machen und er kann auch Gründe , die seinen Anspruch auf höhere Rente wegen Änderung der Verhältnisse nach seiner Meinung rechtfertigen , "nachschieben"; er kann jedoch durch solches Vorbringen einem Rechtsstreit , bei dem die Berufung ausgeschlossen ist , nicht den Weg zum Berufungsverfahren eröffnen . Dem stehen die Urteile des BSG (BSG 6 , 297 und vom 18 . Januar 1961 - 11 RV 1020/60 -) nicht entgegen; in diesen Fällen ist über statthafte Berufungen zu entscheiden gewesen . Der Umstand , daß es dem Kläger danach aus prozeßrechtlichen Gründen verwehrt sein kann , ein neues Leiden als Schädigungsfolge im Berufungsverfahren geltend zu machen , berührt seinen materiell-rechtlichen Anspruch auf Feststellung dieser Schädigungsfolge und Rente jedoch nicht; er muß seinen Anspruch insoweit lediglich in einem besonderen Verfahren geltend machen . Indes hat im vorliegenden Falle der Kläger nicht , wie das LSG angenommen , das "neue Leiden" erst mit der Berufung geltend gemacht .

Der Kläger hat den Verschlimmerungsantrag jedenfalls auch deshalb gestellt , weil bei seiner stationären Behandlung in der Nervenklinik festgestellt worden ist , daß er an "depressiver Verstimmung mit schweren Angstzuständen" leide . Der Beklagte hat es abgelehnt , diese Gesundheitsstörungen bei der Bewertung der MdE zu berücksichtigen , weil sie keine Schädigungsfolgen seien . Der Kläger hat zwar in dem Verfahren vor dem SG nicht ausdrücklich beantragt , auch die in der Nervenklinik festgestellten Gesundheitsstörungen , die er später als "psychische Störungen" bezeichnet hat , als Schädigungsfolge anzuerkennen , er hat aber seinen Anspruch auf Feststellung einer höheren Rente auf diese Gesundheitsstörungen gestützt , er hat deutlich zum Ausdruck gebracht , daß nach seiner Ansicht auch diese Gesundheitsstörungen Schädigungsfolgen seien , daß deshalb eine Änderung der Verhältnisse vorliege und die MdE neu zu bemessen sei . Wenn er in der Klage vorgetragen hat , es sei nicht richtig , daß bei ihm "psychogene Erkrankungen" und "in der Konstitution begründete" Leiden vorliegen , so hat er damit behauptet , der Beklagte habe den ursächlichen Zusammenhang dieser psychischen Störungen mit einer Schädigung im Sinne des BVG unrichtig beurteilt . Hierüber hat auch das SG entschieden; es hat ausgeführt , die "schweren Angstzustände" seien kein "Versorgungsleiden" , sie seien überwiegend neurotischer Natur und ausschließlich in der Konstitution des Klägers begründet . Das SG hat damit jedenfalls auch deshalb den Anspruch des Klägers auf "Neufeststellung der Versorgungsbezüge" als unbegründet angesehen , weil es den ursächlichen Zusammenhang der "psychischen Störungen" des Klägers mit einer Schädigung im Sinne des BVG verneint hat . Die Berufung gegen das Urteil des SG hat danach auch einen Streit über den ursächlichen Zusammenhang von Gesundheitsstörungen des Klägers mit einer Schädigung im Sinne des BVG betroffen . Die Berufung ist deshalb nach § 150 Nr . 3 SGG statthaft gewesen (vgl . auch Urteil des BSG vom 14 . Dezember 1960 , SozR Nr . 30 zu § 150 SGG) .

Das LSG hat danach zu Unrecht keine Sachentscheidung getroffen . Dieser Mangel des Verfahrens ist bei einer zugelassenen Revision von Amts wegen zu beachten (vgl . auch BSG 2 , 245); der Kläger hat ihn im übrigen auch in der nach § 164 Abs . 2 SGG gebotenen Form gerügt; er hat die Revision auch frist- und formgerecht eingelegt und begründet , sie ist daher zulässig .

Die Revision ist auch begründet . Es ist möglich , daß das LSG bei einer Entscheidung in der Sache selbst zu einem anderen Ergebnis kommt als das SG . Das Urteil des LSG ist daher aufzuheben; der Senat kann nicht selbst entscheiden , da hierzu noch tatsächliche Feststellungen erforderlich sind; die Sache ist deshalb zu neuer Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs . 2 Satz 2 SGG) .

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten .

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2336688

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