Leitsatz (amtlich)
"Prozeßbevollmächtigter" im Sinne von ZPO § 41 Nr 4 in Verbindung mit SGG § 60 Abs 1 ist jeder "prozessuale Bevollmächtigte"; auch die Vollmacht zu einzelnen Handlungen (ZPO § 83) und damit auch die auf die Wahrnehmung von Terminen beschränkte Vollmacht begründet die Ausschließung; es kommt nicht darauf an, ob der Bevollmächtigte als solcher im Verfahren tätig geworden ist, er ist von der Ausübung des Richteramts auch ausgeschlossen, wenn er einen Beteiligten nur in einem Verkündungstermin vertreten hat.
Normenkette
SGG § 60 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03; ZPO § 41 Nr. 4 Fassung: 1950-09-12, § 83 Fassung: 1950-09-12
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 6 . Mai 1960 wird aufgehoben; die Sache wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen .
Von Rechts wegen .
Gründe
I .
Der Kläger , geboren 1898 , ist Kriegsbeschädigter aus dem ersten Weltkrieg . Als Schädigungsfolgen sind nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) durch den Bescheid des Versorgungsamts II B ... vom 19 . Mai 1952 (Widerspruchsbescheid vom 5 . August 1953) festgestellt (anerkannt)
"1) Verlust des rechten Unterschenkels und Knies , Absetzung des Oberschenkels im untersten Drittel und Schwäche der rechten Hand nach Knochenschußverletzung .
2) Allgemeine Reizbarkeit bei Amputationsneurom .
3) Allgemeine Nervenschwäche , Herzneurose und Hyperhidrosis .
4) Knick-Platt-Spreizfußbildung links";
der Kläger erhält Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 100 v . H ., außerdem eine Pauschgebühr für Kleider- und Wäscheverschleiß . Die beantragte Pflegezulage wurde in beiden Bescheiden abgelehnt . Mit der Klage (Berufung alten Rechts) begehrte der Kläger unter Abänderung dieser Bescheide - und weiterer , während des Klageverfahrens ergangener Bescheide über die Neufestsetzung bzw . Änderung der Rente - , den Beklagten zu verurteilen , als weitere Schädigungsfolge im Sinne der Entstehung "Skoliose der Brust- und Lendenwirbelsäule" festzustellen und dem Kläger vom 1 . Juli 1950 an Pflegezulage zu zahlen . In der öffentlichen Sitzung des Sozialgerichts (SG) Berlin vom 9 . Januar 1959 , in der der Kläger selbst mit einem Bevollmächtigten anwesend war , erging nach Darstellung und Erörterung des Sachverhalts mit den Beteiligten und nach Stellung der Anträge der Beschluß , Termin zur Verkündung einer Entscheidung auf den 16 . Januar 1959 anzuberaumen; bei den Akten des SG befindet sich anschließend eine Niederschrift über eine "nichtöffentliche Sitzung" in dieser Sache vom selben Tage , in der als das vom SG beschlossene Urteil enthalten ist:
I . Unter Änderung des Bescheides des Versorgungsamtes II Berlin vom 19 . Mai 1951 und der Einspruchsentscheidung des Landesversorgungsamts Berlin vom 5 . August 1953 wird der Beklagte verurteilt ,
"5 . Skoliose der Brust- und Lendenwirbelsäule"
als weitere , und zwar als mittelbare Schädigungsfolge im Sinne der Entstehung anzuerkennen sowie dem Kläger die Hälfte seiner außergerichtlichen Kosten zu erstatten .
II. Im übrigen wird die Klage abgewiesen.
Dieses Urteil wurde am 16. Januar 1959 in . öffentlicher Sitzung verkündet. Der Kläger war nicht persönlich erschienen , sondern durch einen Bevollmächtigten vertreten , für den Beklagten war nach der Niederschrift "Verw . Ang . H... erschienen. Beide Beteiligten legten Berufung ein. Das Landessozialgericht (LSG) Berlin änderte durch Urteil vom 6 . Mai 1960 auf die Berufung des Beklagten das Urteil des SG vom 9 . Januar 1959 ab und wies die Klage in vollem Umfang ab , die Berufung des Klägers wies es zurück: Das LSG habe zu Unrecht entschieden , daß die Skoliose der Brust- und Lendenwirbelsäule als mittelbare Schädigungsfolge mit dem als Schädigungsfolge aus dem ersten Weltkrieg anerkannten Verlust des rechten Oberschenkels zusammenhänge , dies ergebe sich aus der Würdigung der zahlreichen , wenngleich sich teilweise widersprechenden ärztlichen Gutachten; der Kläger habe auch keinen Anspruch auf Pflegezulage , er sei körperlich nicht so schwer geschädigt , daß er hilflos im Sinne von § 35 BVG sei . Das Urteil wurde dem Kläger am 13 . Juni 1960 zugestellt .
Am 11 . Juli 1960 legte der Kläger Revision ein , er beantragte ,
das angefochtene Urteil aufzuheben und den Beklagten unter Wiederherstellung des Urteils erster Instanz zu verurteilen , "Skoliose der Brust- und Lendenwirbelsäule" als weitere , und zwar als mittelbare Schädigungsfolge im Sinne der Entstehung anzuerkennen sowie den Beklagten darüberhinaus zu verurteilen , an ihn seit dem 1 . Juli 1950 eine einfache Pflegezulage zu zahlen .
Mit der Revisionsbegründung vom selben Tage rügte der Kläger Mängel des Verfahrens des LSG (§ 162 Abs . 1 Nr . 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-) und Verletzung des Gesetzes bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhanges der geltend gemachten Gesundheitsstörungen mit der bereits anerkannten Schädigungsfolge (§ 162 Abs . 1 Nr . 3 SGG): Das LSG sei nicht ordnungsgemäß besetzt gewesen; an dem Urteil vom 6. Mai 1960 habe nach der Niederschrift über die öffentliche mündliche Verhandlung "Landessozialrichter W ... H ... mitgewirkt , dieser Landessozialrichter sei identisch mit dem "Verw . Ang . H ..., der den Beklagten in der öffentlichen Sitzung am 16 . Januar 1959 vertreten habe . Sachlich habe das LSG die Beweise nicht erschöpfend und nicht zutreffend gewürdigt. Am 30 . September 1960 trug der Kläger noch vor , das LSG sei am 6. Mai 1960 schon deshalb nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen , weil es mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht vereinbar sei , daß ein Angestellter der beklagten Partei als Richter tätig sei.
Der Beklagte beantragte ,
die Revision zu verwerfen.
Er trug vor , es treffe zwar zu , daß bei der mündlichen Verhandlung und bei dem Urteil vom 6. Mai 1960 Landessozialrichter W ... H ... mitgewirkt habe , der beim Beklagten als Verwaltungsangestellter beschäftigt sei und auch den Termin für den Beklagten in der Sache des Klägers vor dem SG am 16 . Januar 1959 wahrgenommen habe . Der Kläger habe deshalb zwar diesen Landessozialrichter wegen Besorgnis der Befangenheit ablehnen dürfen , er habe diesen Antrag aber nicht bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung des LSG gestellt und damit sein Rügerecht verloren. Im übrigen habe der Kläger die medizinischen Feststellungen des LSG nicht mit Erfolg angegriffen.
Der Senat hat aus der Generalakte des SG Berlin die Generalterminsvollmacht des Landesversorgungsamts (LVersorgA) B... vom 8 . Juni 1956 für W ... H ... beigezogen . Das LVersorgA B ... hat dem Senat auf Anfrage mitgeteilt , daß W ... H ... seit 2 . Oktober 1950 in der Versorgungsverwaltung des Landes Berlin beschäftigt und seit 22. Januar 1953 im Rechtsdezernat des LVersorgA B ... tätig ist .
II.
Die Revision ist statthaft nach § 162 Abs . 1 Nr . 2 SGG . Der Kläger rügt zu Recht einen wesentlichen Mangel des Verfahrens des LSG .
An dem Urteil des LSG vom 6 . Mai 1960 hat Landessozialrichter W ... H ... mitgewirkt . Er ist von der Ausübung des Richteramts kraft Gesetzes ausgeschlossen gewesen. Dies ergibt sich zunächst aus den §§ 1 , 17 Abs . 3 SGG und Artikeln 20 , 92 , 97 Abs . 1 des Grundgesetzes (GG) . W ... H ... ist seit 2. Oktober 1950 als Angestellter bei der Versorgungsverwaltung des Landes Berlin beschäftigt , zunächst beim Versorgungsamt III B... und seit 22 . Januar 1953 beim LVersorgA B ....
Nach dem Beschluß des Großen Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 30 . Juni 1960 (BSG 12 , 237 ff . ) können aktive Bedienstete der Versorgungsverwaltung nicht ehrenamtliche Beisitzer (Sozialrichter , Landessozialrichter , Bundessozialrichter) in den Spruchkörpern für Angelegenheiten der Kriegsopferversorgung sein . Wie der Große Senat (a . a . O . S . 238) ausgeführt hat , widerspricht dies den Grundsätzen des Rechtsstaates; wer in einem bestimmten Sachgebiet über einen längeren Zeitraum hinweg zugleich rechtsprechende und verwaltende Tätigkeit ausübt , verfügt nicht über die Unbefangenheit und Unbeteiligtheit , die das GG (Art . 20 , 92 , 97 Abs . 1) für Gerichte und Richter fordert; was in § 17 Abs . 3 SGG u . a . für die Bediensteten der Träger und Verbände der Sozialversicherung ausdrücklich gesagt ist , gilt auch für Bedienstete der Versorgungsverwaltung . Der erkennende Senat schließt sich dieser Auffassung an . Es kommt dabei nicht darauf an , ob der Bedienstete , der von diesem Ausschluß vom Richteramt in Angelegenheiten der Sozialgerichtsbarkeit betroffen wird , im Einzelfall bei dem vorausgegangenen Verwaltungsverfahren mitgewirkt hat; es ist also unerheblich , ob W... H ... als Angestellter des Beklagten in der Sache des Klägers im Verwaltungsverfahren mitgewirkt hat oder nicht , und es bedarf nicht der Prüfung , ob er von der Ausübung des Richteramts etwa auch nach § 60 Abs . 2 SGG ausgeschlossen gewesen ist . Es ist auch nicht richtig , wenn der Beklagte meint , der Kläger habe die Möglichkeit gehabt , Landessozialrichter W ... H ... wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen , wenn er dies nicht getan habe , habe er damit das Recht zur Rüge dieses Verfahrensmangels im Revisionsverfahren verloren; das Urteil des BSG vom 27 . Februar 1959 (SozR Nr . 3 zu § 60 SGG) , auf das der Beklagte Bezug nimmt , betrifft nicht einen Fall , in dem ein Richter kraft Gesetzes von der Ausübung des Richteramts ausgeschlossen gewesen ist , sondern einen Fall , in dem die Ablehnung des Richters nur auf die Besorgnis der Befangenheit hätte gestützt werden können . Auf die Ablehnung eines Richters wegen Besorgnis der Befangenheit kann ein Beteiligter verzichten , wenn er dies nicht will , muß er die Ablehnung bis zum Schluß der letzten mündlichen Verhandlung , auf die hin das Urteil ergeht , geltend machen; macht er von der Möglichkeit der Ablehnung nicht Gebrauch , so ist der Richter von der Ausübung des Richteramts nicht ausgeschlossen , seine Mitwirkung macht das Verfahren des LSG nicht fehlerhaft , die Statthaftigkeit der Revision kann nicht darauf gestützt werden , das Gericht sei nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen . Die dem Gesetz entsprechende Besetzung des Gerichts gehört dagegen zu den sogenannten unverzichtbaren Prozeßvoraussetzungen (Sachurteilsvoraussetzungen) , das Fehlen einer solchen Voraussetzung macht , wenn es in der gesetzlich gebotenen Form gerügt wird , die Revision auch dann statthaft , wenn der Mangel schon im Berufungsverfahren hat geltend gemacht werden können , es kann dahingestellt bleiben , ob dies hier möglich gewesen ist .
Landessozialrichter W ... H ... ist aber auch deshalb kraft Gesetzes von der Ausübung des Richteramts ausgeschlossen gewesen , weil er , wie sich aus der beim SG Berlin hinterlegten Generalvollmacht des Beklagten für W ... H ... vom 8 . Juni 1956 ergibt , und wie der Beklagte im Revisionsverfahren eingeräumt hat , im Verfahren vor dem SG als Prozeßbevollmächtigter des Beklagten aufzutreten berechtigt gewesen ist (vgl . § 60 Abs . 1 SGG i . V . m . § 41 Nr . 4 der Zivilprozeßordnung -ZPO-) . "Prozeßbevollmächtigter" im Sinne von § 41 Nr . 4 ZPO ist jeder "prozessuale Bevollmächtigte" (vgl . Baumbach-Lauterbach , ZPO , 25 . Aufl . Anm . 2 D zu § 41 ZPO) , auch die Vollmacht zu einzelnen Handlungen (§ 83 ZPO) und damit auch die auf die Wahrnehmung von Terminen beschränkte Vollmacht begründet die Ausschließung (Stein-Jonas , ZPO , 18 . Aufl . Anm . III 4 zu § 41 ZPO) . Die Generalvollmacht zur Wahrnehmung von Terminen vor dem SG Berlin , die der Beklagte für W ... H ... erteilt hat , hat sich auch auf die Tätigkeit im Sozialgerichtsverfahren zwischen dem Kläger und dem Beklagten erstreckt . Es kommt nicht darauf an , ob der Bevollmächtigte als solcher im Verfahren tätig geworden ist (Baumbach , Stein-Jonas a . a . O . ) , er ist von der Ausübung des Richteramts auch ausgeschlossen , wenn er einen Beteiligten nur in einem Verkündungstermin vertreten hat; W ... H ... ist deshalb von der Ausübung des Richteramts ausgeschlossen gewesen , obwohl in dem Termin vom 16 . Januar 1959 , den er für den Beklagten wahrgenommen hat , nur das Urteil des SG , das am 9 . Januar 1959 beschlossen worden ist , verkündet worden ist .
Da der gerügte Mangel des Verfahrens des LSG vorliegt , ist die Revision statthaft nach § 162 Abs . 1 Nr . 2 SGG . Die Revision ist auch frist- und formgerecht eingelegt und begründet , sie ist damit zulässig . Die Revision ist auch begründet . Die nicht vorschriftsmäßige Besetzung des erkennenden Gerichts ist ein sogenannter "absoluter Revisionsgrund" im Sinne von § 551 ZPO , die absoluten Revisionsgründe sind auch im sozialgerichtlichen Verfahren zu beachten (§ 202 SGG , vgl . BSG 5 , 176 ff) , sie begründen eine unwiderlegliche Vermutung dafür , daß das angefochtene Urteil auf einer Verletzung des Gesetzes beruht . Das Urteil des LSG ist daher mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben , die Sache ist zu neuer Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen; damit bedarf es nicht mehr der Prüfung , ob die weiteren Verfahrensrügen des Klägers durchgreifen und ob die Revision auch nach § 162 Abs . 1 Nr . 3 SGG statthaft ist .
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil des LSG vorbehalten .
Fundstellen