Leitsatz (redaktionell)
Bei Bemessung der Minderung der Erwerbsfähigkeit kann die Verletztenrente gemäß RVO § 581 Abs 2 über durchschnittliche sogenannte "Taxwerte" nur angehoben werden, wenn andernfalls eine unbillige Härte gegeben sein würde. Dies ist nicht der Fall bei einem jüngeren landwirtschaftlichen Arbeiter, der zwar mehrere Jahre Melkertätigkeiten verrichtete, die ihm verbliebene Arbeitskraft zumutbar aber auch in anderen landwirtschaftlichen Arbeitsgebieten zu verwerten vermag.
Normenkette
RVO § 581 Abs. 2 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Auf die Revision der Beklagten werden die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 19. September 1961 und des Sozialgerichts Köln vom 23. Juni 1958 aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der Kläger wurde am 15. Dezember 1953 von einem Arbeitsunfall betroffen. Er war damals als Melker in einem landwirtschaftlichen Betrieb beschäftigt, dessen Viehbestand u. a. 32 Stück Rindvieh zählte. Den Unfall zog er sich zu, als er beim Rücken eines Wagens half. Er erlitt eine Quetschung der rechten Hand; als Dauerschaden blieben eine Versteifung des dritten Fingers und die Herabsetzung der groben Kraft dieser Hand zurück. Die beklagte Berufsgenossenschaft gewährte dem Kläger wegen der Verletzungsfolgen eine vorläufige Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 30 v. H. Der Kläger hatte seine Melkertätigkeit an einer anderen Arbeitsstelle wiederaufgenommen, an der er 21 Kühe zu melken hatte. Dabei half ihm seine Ehefrau, weil ihn die Handschädigung bei der Melkarbeit behinderte. Auf Grund eines chirurgischen Sachverständigengutachtens ließ die Beklagte die vorläufige Rente vom 1. Januar 1955 an wegfallen, weil die unfallbedingte MdE des Klägers auch unter Berücksichtigung seines Berufs auf höchstens 10 v. H. zu schätzen sei. Die Klage hiergegen hatte Erfolg; auf der Grundlage eines weiteren chirurgischen Sachverständigengutachtens hielt das Sozialgericht (SG) Köln wegen der besonderen Beeinträchtigung des Klägers in seiner Melkertätigkeit eine MdE von 20 v. H. für gerechtfertigt und verurteilte die Beklagte zur Weitergewährung der vorläufigen Rente in dieser Höhe. Etwa ein Jahr später, am 27. Juli 1956, erteilte die Beklagte nach einer weiteren chirurgischen Begutachtung erneut einen Rentenwegfallbescheid.
Der Kläger hat diesen Bescheid mit der Klage angefochten. Das SG Köln hat über den Arbeitsverdienst des Klägers und die Höhe der noch vorhandenen unfallbedingten MdE Beweis erhoben; im Termin zur mündlichen Verhandlung hat es den Kläger vor allem zu seinem beruflichen Werdegang gehört. Durch Urteil vom 23. Juni 1958 hat das SG den Bescheid der Beklagten vom 27. Juli 1956 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, an den Kläger vom 1. September 1956 an wegen Verkrümmung des dritten Fingers der rechten Hand in Hakenstellung sowie einer Ernährungsstörung dieses Fingers mit dadurch bedingter Gebrauchsbehinderung der Hand eine Teilrente von 20 v. H. als Dauerrente zu zahlen. Es hat angenommen, daß der Kläger durch die Handverletzung in seiner Erwerbsfähigkeit besonders betroffen sei, weil er seinen Melkerberuf nicht mehr voll ausüben könne.
Mit der Berufung gegen dieses Urteil macht die Beklagte geltend, daß der Kläger nicht gelernter Melker sei und bei den ihm noch offenstehenden vielfältigen Beschäftigungsmöglichkeiten in der Landwirtschaft auch andere, seiner bisherigen Tätigkeit gleichwertige Arbeiten verrichten könne. Das Landessozialgericht (LSG) hat nach Erhebung von Sachverständigenbeweis über das Berufsbild eines Melkers und den Zustand der Verletzungsfolgen des Klägers durch Urteil vom 19. September 1961 die Berufung zurückgewiesen. Zur Begründung ist u. a. ausgeführt: Die Einbuße der Erwerbsfähigkeit eines Versicherten durch Unfallfolgen könne nur für jeden Einzelfall unter Beachtung der Fähigkeiten und Kenntnisse des Verletzten ermittelt werden. Zu prüfen sei, ob die Einsatzmöglichkeit des Verletzten auf dem Gebiet des allgemeinen Erwerbslebens dadurch wesentlich eingeschränkt worden sei, daß sich dem Verletzten nunmehr die Möglichkeit verschließe, in seinem bisherigen Beruf oder in einem diesem gleichzuerachtenden Arbeitsgebiet tätig zu sein. Unter Beachtung dieser Grundsätze sei die unfallbedingte MdE des Klägers bei einem in Hakenstellung versteiften Mittelfinger der rechten Hand mit 20 v. H. zu bewerten. Es sei zu berücksichtigen, daß der Kläger seine Melkertätigkeit, die ihm durch Anlernen und langdauernde Ausübung zum Beruf geworden sei, nicht mehr in dem bisherigen Umfange verrichten könne.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Das Urteil ist der Beklagten am 14. November 1961 zugestellt worden. Sie hat am 7. Dezember 1961 gegen das Urteil Revision eingelegt und diese am 12. Januar 1962 begründet.
Gerügt wird in erster Linie eine Verletzung des § 559 a der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF. Dazu bringt die Beklagte u. a. vor: Das LSG habe die Grundsätze der abstrakten Schadensbemessung nicht beachtet. Es habe eine individuelle Schadensberechnung vorgenommen. In dem Urteil sei vor allem verkannt, daß die Besonderheiten des Berufs eines Versicherten bei der Bemessung der unfallbedingten MdE nur ausnahmsweise zu berücksichtigen seien. Ein solcher Ausnahmefall liege hier aber nicht vor. Es könne keine unbillige Härte bedeuten, wenn bei der Bemessung der MdE nur die dem Kläger auf dem Gebiete des allgemeinen Erwerbslebens verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten berücksichtigt würden. Der Kläger habe keine besondere berufliche Ausbildung genossen; er habe vielmehr als Landarbeiter angefangen. In den 17 Jahren seit seiner Schulentlassung sei er nur insgesamt fünf Jahre ausschließlich als Melker tätig gewesen. Dadurch sei für ihn das allgemeine Arbeitsfeld nicht wesentlich eingeengt worden. Auf das Handmelken sei der Kläger bei dem allgemein eingeführten Gebrauch von Melkmaschinen nicht mehr angewiesen. Seine Verdienstmöglichkeiten als angelernter Melker seien etwa denen der landwirtschaftlichen Vorarbeiter, Gespannführer und Schäfergehilfen vergleichbar, deren Aufgaben er trotz Handverletzung noch erfüllen könne. Das LSG habe den Sachverhalt hinsichtlich des beruflichen Werdeganges des Klägers nicht erschöpfend geklärt; erforderlichenfalls müßte es veranlaßt werden, fehlende tatsächliche Feststellungen nachzuholen.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage gegen ihren Bescheid vom 27. Juli 1956 abzuweisen,
hilfsweise,
das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er meint, die Festsetzung der MdE für seine unfallbedingte Handschädigung auf 20 v. H. sei auch nach dem auf den vorliegenden Streitfall anzuwendenden § 581 Abs. 2 RVO idF des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes (UVNG) vom 30. April 1963 gerechtfertigt. Er trägt dazu u. a. vor: Sein Berufsweg, dessen Einzelheiten erforderlichenfalls noch festgestellt werden müßten, erweise, daß er den Beruf eines Melkers erlernt habe, jedenfalls nach Kenntnissen und Erfahrungen, die er sich im Laufe der Berufsausübung angeeignet habe, einem gelernten Melker gleichzuerachten sei. Dies rechtfertige die Bemessung der MdE nach einem qualifizierten Maßstab und nicht nach den Verdienstmöglichkeiten, die ihm auf dem Gebiete des allgemeinen Erwerbslebens seit dem Unfall verblieben seien.
Den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils sei beizupflichten. Der Hinweis der Beklagten auf die Erleichterung der Melkerarbeit durch die Benutzung von Melkmaschinen lasse unberücksichtigt, daß beim Ausfall solcher Maschinen der Kläger von Hand melken müsse.
II
Die Revision der Beklagten ist zulässig. Sie hatte auch Erfolg.
Die Beteiligten streiten lediglich darüber, ob der Kläger, dessen unfallbedingte MdE vom LSG auf dem Gebiete des gesamten Erwerbslebens unter Berücksichtigung der Grundsätze der allgemeinen abstrakten Schadensbemessung zutreffend und unangegriffen mit 10 v. H. angenommen worden ist, die Mindestrente von 20 v. H. erhalten müsse, weil er infolge der Unfallverletzung berufliche Kenntnisse und Fertigkeiten bei der Ausübung seiner Melkertätigkeit nicht mehr in vollem Umfange nützen könne. Die Auffassung des LSG, das diese Frage bejaht hat, hält der Nachprüfung im Revisionsverfahren nicht stand.
Der vorliegende Streitfall ist nicht mehr nach § 559 a RVO aF, sondern nach dem seit dem Inkrafttreten des UVNG vom 30. April 1963 (BGBl I 241) geltenden § 581 Abs. 2 RVO zu entscheiden. Wie der erkennende Senat in seinem Urteil vom 25. August 1965 (BSG 23, 253) ausgesprochen hat, ist § 581 Abs. 2 RVO anwendbar, auch wenn der Unfall schon vor dem Inkrafttreten des UVNG eingetreten ist (Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG). Diese Vorschrift hat gegenüber den Auslegungsgrundsätzen, die in der Rechtsprechung zu § 559 a RVO aF entwickelt worden sind (BSG 1, 174, 178; 4, 147, 150 und 294, 298; Breith. 1957, 1008, 1015; Sozialrechtliche Entscheidungen III/2 BSG IV RVO § 559 a Nr. 6 u. 7; ferner Wander in SozVers 1963, 340), keine wesentlich abweichende Regelung gebracht. Dem Wortlaut nach unterscheiden sich diese beiden Vorschriften zwar; aber wie in dem angeführten Urteil vom 25. August 1965, auf das im einzelnen Bezug genommen wird, ausgeführt ist, normiert § 581 Abs. 2 RVO im wesentlichen die bisherige Rechtsprechung über die Grundsätze der Beurteilung der unfallbedingten MdE. Er schreibt vor, daß bei Bemessung der MdE Nachteile zu berücksichtigen sind, welche der Verletzte dadurch erleidet, daß er bestimmte, von ihm erworbene besondere berufliche Kenntnisse und Erfahrungen infolge des Unfalls nicht mehr oder nur noch in vermindertem Umfang nützen kann, soweit sie nicht durch sonstige Fähigkeiten, deren Nutzung ihm zugemutet werden kann, ausgeglichen werden. Wie bisher sind also auch nach der neuen gesetzlichen Regelung entsprechend den Besonderheiten des Einzelfalls bestimmte besondere berufliche Kenntnisse und Erfahrungen, desgleichen Fertigkeiten (BSG 4, 298), bei der vom Versicherungsträger oder vom Gericht vorzunehmenden Schätzung der MdE angemessen zu berücksichtigen. Nachteile im Sinne des § 581 Abs. 2 RVO liegen daher im allgemeinen nur vor, wenn die Nichtberücksichtigung von Ausbildung und Beruf des Verletzten bei der Bewertung der MdE zu einer unbilligen Härte führt. Umstände, deren Außerachtlassung eine solche unbillige Härte zur Folge haben, hat das LSG im vorliegenden Streitfall zu Unrecht als gegeben erachtet. Es hält sie deshalb für vorhanden, weil der Kläger infolge der Versteifung des Mittelfingers der rechten Hand, der Einbuße normaler Greiffähigkeit dieser Hand, der Herabsetzung ihrer groben Kraft und vor allem des Auftretens von Krampfzuständen bei langem Melken diese Tätigkeit nur noch in beschränktem Umfange verrichten könne. Diese gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Klägers sind jedoch nach Ansicht des erkennenden Senats nicht geeignet, die Annahme eines unfallbedingten Nachteils im Sinne des § 581 Abs. 2 RVO zu begründen.
Den Ausführungen des angefochtenen Urteils ist in tatsächlicher Beziehung die Feststellung zu entnehmen, daß der Kläger lediglich im Rahmen allgemeiner landwirtschaftlicher Betätigungen das Melken erlernt und während seiner gesamten Beschäftigungszeit in landwirtschaftlichen Unternehmen von seiner Schulentlassung bis zum Unfall etwa fünf Jahre ausschließlich die Melkertätigkeit ausgeübt hat. Bei dieser verhältnismäßig kurzen Zeit hält der erkennende Senat entgegen dem LSG nicht die Schlußfolgerung für gerechtfertigt, daß der Kläger auf Grund seiner theoretischen und praktischen Erfahrungen einem Melkermeister gleichzuerachten sei. Mag sich der Kläger auch nicht unerhebliche Kenntnisse und eine gewisse Praxis auf dem Gebiete der Milchgewinnung, Milchbehandlung, Fütterung der Tiere, Klauenpflege, Geburtshilfe und Kälberaufzucht angeeignet haben, so rechtfertigt dies noch nicht die Annahme, daß er sich bis zur Zeit des Unfalls in einen speziellen Beruf mit der Folge hineingelebt hatte, daß seine Verwendungsfähigkeit im allgemeinen Erwerbsleben durch den Unfall erheblich eingeengt sei. Der Kläger spricht insoweit selbst lediglich davon, daß er die vielfältigen Aufgaben eines Melkermeisters von Grund auf "kennengelernt" habe. Er ist nach den von ihm nicht angegriffenen tatsächlichen Feststellungen des LSG weiterhin als Melker tätig, kann allerdings infolge der Unfallverletzung die Höhe seiner früheren Melkerleistungen nicht mehr erzielen. Dieser Umstand reicht jedoch nicht aus, um ihn in seiner Erwerbsfähigkeit als im Sinne des § 581 Abs. 2 RVO benachteiligt anzusehen. Die Art seiner Verletzungsfolgen schließt nicht aus, daß er allein auf dem weiten Gebiet der ihm vertrauten landwirtschaftlichen Arbeitsmöglichkeiten in eine seiner Melkertätigkeit gleichwertige Beschäftigung überwechselt. Eine solche Umstellung im Erwerbsleben kann ihm auch zugemutet werden, zumal da er zur Zeit des Unfalls erst 32 Jahre alt war. Wäre ihm bei derselben Art der Berufsausübung die Handverletzung in einem höheren Lebensalter zugestoßen und hätte er ein volles Arbeitsleben als Melker verbracht, läge es nahe, die unfallbedingte MdE wegen "beruflicher Betroffenheit" entsprechend höher zu bewerten (vgl. hierzu Urt. des Bayer. LSG vom 8.9.1965 in Breith. 1965, 1000). Da der Kläger in den verhältnismäßig wenigen Berufsjahren vor dem Unfall auch andersartige Lohnarbeiten verrichtet hat, kann nicht die Schlußfolgerung des LSG für zutreffend erachtet werden, daß er eine jahrelange einseitige berufliche Betätigung ausgeübt habe, die nach dem Unfall seine anderwärtige Unterbringung im allgemeinen Erwerbsleben erheblich erschwere. Jedenfalls kann es nicht als unbillige Härte verstanden werden, wenn die unfallbedingte Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit des Klägers in seiner Melkertätigkeit bei der Bewertung der MdE nicht besonders berücksichtigt wird. Da das LSG die unfallbedingte MdE des Klägers auf 20 v. H. statt 10 v. H. nur unter der unzutreffenden Annahme einer unbilligen Härte im Sinne des § 581 Abs. 2 RVO geschätzt hat, konnte dem Klagebegehren nicht entsprochen werden.
Unter Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen mußte daher die Klage abgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen