Leitsatz (redaktionell)
Bei einer Neuregelung nach KOV-VfG § 40 Abs 1 kann für die Vergangenheit an der Bindungswirkung der früheren Bescheide ganz oder teilweise festgehalten werden.
Normenkette
KOVVfG § 40 Abs. 1 Fassung: 1960-06-27
Tenor
Auf die Revision des Beklagten werden die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 30. Oktober 1964 und des Sozialgerichts Hildesheim vom 13. Dezember 1960 aufgehoben.
Der Beklagte wird unter teilweiser Aufhebung seiner Bescheide vom 5. August 1960 und 1. April 1960 verurteilt, dem Kläger einen neuen Bescheid über den Beginn der Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 40 v. H. zu erteilen.
Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Gründe
Im September 1959 beantragte der Kläger, die Versorgungsrente zu erhöhen, welche er seit dem 1. August 1947 auf Grund der Sozialversicherungsdirektive (SVD) 27 und des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) bezog, weil sich die anerkannten Schädigungsfolgen - "Verlust der Finger 3, 4 und 5 der rechten Hand" - verschlimmert hätten. Gestützt auf das Ergebnis einer fachärztlichen Nachuntersuchung lehnte das Versorgungsamt (VersorgA) mit Bescheid vom 1. April 1960 die Erhöhung der Rente ab, weil sich die Schädigungsfolgen nicht wesentlich verschlimmert hätten (§ 62 BVG), führte aber weiter aus, die Aufrechterhaltung der früheren Bescheide sei als eine unbillige Härte anzusehen; sie würden insoweit zugunsten des Klägers geändert, als für die nunmehr anzuerkennenden Schädigungsfolgen mit Wirkung vom 1. September 1959 (Antragsmonat) Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 40 v. H. zuerkannt werde; im im übrigen werde an der Verbindlichkeit der früheren Bescheide festgehalten. Die Schädigungsfolgen wurden mit "Verlust der Finger 3, 4 und 5 sowie der 4. und 5. Mittelhandknochen der rechten Hand, leichter umformender Veränderungen von zwei Handwurzelknochen rechts" i. S. der Entstehung bezeichnet. Der Widerspruch, mit dem eine Nachzahlung vom 1. August 1947 an beantragt wurde, blieb nach Einholung einer ärztlichen Stellungnahme erfolglos.
Mit der Klage hat der Kläger eine Nachzahlung der entsprechend einer MdE um 40 v. H. neu festgestellten Rente vom 1. Oktober 1950 an beantragt, weil das der ursprünglichen Rentenbewilligung zugrunde liegende Gutachten des Dr. H vom 21. September 1950 unzureichend gewesen sei. Durch Urteil vom 13. Dezember 1960 hat das Sozialgericht (SG) den Beklagten unter Abänderung seiner Bescheide verurteilt, dem Kläger für die Zeit vom 1. Oktober 1950 an die nach einer MdE um 40 v. H. erhöhte Rente abzüglich der bereits gezahlten Versorgungsrente zu gewähren; es hat die Berufung zugelassen.
Der Beklagte hat Berufung eingelegt und in der Hauptsache beantragt, das Urteil des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen, hilfsweise aber das angefochtene Urteil insoweit aufzuheben, als für die Zeit vor dem 1. Januar 1955 Versorgungsbezüge nach einer MdE um 40 v. H. zuerkannt worden seien. Durch Urteil vom 30. Oktober 1964 hat das Landessozialgericht (LSG) die Berufung des Beklagten zurückgewiesen und die Revision zugelassen. Übereinstimmend mit dem SG ist es davon ausgegangen, der Beklagte habe mit der Berichtigung der früheren Bescheide gemäß § 40 Abs. 1 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (VerwVG) eine Ermessensentscheidung getroffen. Hinsichtlich des Beginns der erhöhten Leistungen aber habe der Beklagte sachfremde Erwägungen angestellt, weil der Sachverhalt des § 40 Abs. 1 VerwVG mit dem des § 62 BVG nicht verglichen werden könne, sondern völlig anders gelagert sei. Im Gegensatz zum SG hat es die Verwaltungsvorschrift (VV) Nr. 8 zu § 40 VerwVG für rechtsgültig gehalten, hat aber angenommen, daß der Beklagte diese VV nicht richtig angewendet und bei der Festlegung des Zeitpunkts für die Rückwirkung nicht alle Umstände sorgfältig abgewogen habe. Insbesondere habe er nicht berücksichtigt, daß das Gutachten des Sachverständigen Dr. H die Handschäden nur unvollständig bezeichnet und daher den Grad der MdE nicht dem Leidensausmaß entsprechend angegeben habe. Die hierauf beruhende Fehlerhaftigkeit der früheren Bescheide sei allein von dem Beklagten zu vertreten. Deshalb habe er den gesetzmäßigen Zustand herstellen müssen, welcher der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt des fehlerhaften Bescheides entsprochen habe, und dem Kläger die höheren Leistungen schon vom 1. Oktober 1950 an bewilligen, zumindest aber gemäß Nr. 8 der VV dartun müssen, welche Gründe ihn veranlaßt hätten, bei einem eindeutigen Härtefall von einer Rückwirkung abzusehen. Übereinstimmend mit dem SG hat es weiter angenommen, daß der Verwaltung kein Ermessensspielraum mehr für den Beginn der erhöhten Leistung bleibe, denn die Bindung an den früheren Bescheid sei durch die Neuregelung im Bescheid vom 1. April 1960 weggefallen.
Der Beklagte hat Revision eingelegt und beantragt,
die Entscheidungen des SG Hildesheim vom 13. Dezember 1960 und des LSG Niedersachsen vom 30. Oktober 1964 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Er rügt mit näherer Begründung eine Verletzung des § 40 Abs. 1 VerwVG und des § 54 Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).
Der Kläger ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.
Die durch Zulassung statthafte Revision des Beklagten ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Sie ist zulässig und zum Teil auch begründet.
Nachdem die Verwaltung gemäß § 40 Abs. 1 VerwVG die früheren Bescheide hinsichtlich der Rentenhöhe und der Bezeichnung der Schädigungsfolgen abgeändert hat, ist diese Berichtigung nicht mehr im Streit. Vielmehr ist - wie die Vorinstanzen zutreffend ausgeführt haben - nur noch streitig, von wann an die erhöhte Rente gewährt werden soll. Im Bescheid des VersorgA vom 1. April 1960 ist nicht begründet, warum der 1. September 1959 als Beginn der erhöhten Leistung festgesetzt worden ist. Erst der Widerspruchsbescheid vom 5. August 1960 enthält hierzu Ausführungen. In ihm ist mitgeteilt, in der Regel sei gemäß VV Nr. 8 zu § 40 VerwVG als Zeitpunkt der Änderung des früheren Bescheides der Beginn des Monats festzusetzen, in welchem die Erteilung eines für den Berechtigten günstigeren Bescheides beantragt worden sei. Bei einer Neufeststellung der Rente wegen einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse sei nach § 62 BVG der Beginn des Antragsmonats maßgebend; deshalb bedeute es keinen Ermessensmißbrauch, wenn das VersorgA bei Gewährung einer Kannleistung ebenfalls auf den Antragsmonat zurückgegangen sei.
Zutreffend sind die beiden Vorinstanzen der Auffassung gewesen, mit dieser Begründung habe die Versorgungsverwaltung ihr Ermessen fehlerhaft gebildet, weil die beiden Tatbestände so grundverschieden seien, daß sie nicht miteinander verglichen werden können. Denn § 62 BVG betrifft den Fall, daß ein Verwaltungsakt ursprünglich rechtmäßig ist und erst im Laufe der Zeit durch eine wesentliche Änderung der Verhältnisse, die seinerzeit bei seinem Erlaß maßgebend gewesen waren, unrichtig wird. § 40 Abs. 1 VerwVG aber regelt den Fall, daß ein Bescheid von vornherein unrichtig gewesen ist. Infolgedessen beweist die Begründung der streitigen Verwaltungsakte den Ermessensfehler der Verwaltung. Aber auch der Hinweis, nach der VV Nr. 8 zu § 40 VerwVG sei in der Regel der Beginn des Antragsmonats maßgebend, läßt nicht erkennen, daß die Verwaltung ihr Ermessen richtig gehandhabt hat. Vielmehr wäre es erforderlich gewesen, daß die Verwaltung weiter dargelegt hätte, warum der Fall des Klägers als Regelfall anzusehen sei. Der allgemeine Hinweis auf die VV ist als Begründung nicht klar und läßt nicht das erkennen, was die angenommene Rechtsfolge, nämlich den Beginn der Leistungen, begründet. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) muß ein Bescheid über die Ablehnung von Versorgungsbezügen so begründet werden, daß der Verletzte im Rechtszuge gegen die Begründung Stellung nehmen und sie substantiiert angreifen kann (BSG 3, 274). Im Gegensatz zum SG und in Übereinstimmung mit dem LSG hat der Senat gegen die Gültigkeit der Nr. 8 VV zu § 40 VerwVG keine Bedenken; denn ihre Anordnung für den Regelfall ist mit dem Gesetz vereinbar und enthebt die Verwaltung nicht der Pflicht, im Einzelfall zu begründen, warum sie in ihm einen Regelfall erblickt oder abweichende Erwägungen anstellt.
Die Vorinstanzen haben auch zu Recht die Vorschrift des § 40 Abs. 2 VerwVG für den Beginn der erhöhten Leistungen nicht herangezogen. Denn es ist nicht ersichtlich, inwieweit das BSG gegenüber der früheren Entscheidung der Versorgungsverwaltung im Falle des Klägers eine andere Rechtsauffassung vertreten hat.
Demnach sind die angefochtenen Verwaltungsakte hinsichtlich der Festsetzung des Zeitpunkts fehlerhaft, von dem ab die erhöhte Rente zustehen soll. Sie sind also zu Recht nicht aufrecht-erhalten worden.
Zu Unrecht aber haben die Vorinstanzen angenommen, der Verwaltung bleibe hinsichtlich der Festsetzung des Beginns für die höheren Leistungen kein Ermessensspielraum. Zwar hätte der Beklagte sein Ermessen dann fehlerhaft gehandhabt, wenn er es trotz seiner Erkenntnis der unzutreffenden Leistungen an den Kläger bei den früheren Bescheiden hinsichtlich der Schädigungsfolgen und der Höhe der Rente belassen hätte (vgl. BSG, SozR VerwVG § 40 Nr. 3 und die Entscheidung des erkennenden Senats vom 3. März 1966 - 8 RV 47/64 -). Dies hat er jedoch nicht getan. Er hat die Unrichtigkeit des früheren Bescheides erkannt, sich nicht auf seine Bindungswirkung berufen, sondern einen neuen Bescheid erteilen wollen und auch erteilt. Hieraus folgt - entgegen der Auffassung des LSG - nach dem Gesetz aber nicht die Pflicht, den Kläger so zu stellen, als ob statt des fehlerhaften sogleich ein rechtmäßiger Verwaltungsakt mit richtiger Bezeichnung der Schädigungsfolgen und dementsprechend richtiger Einschätzung der Einbuße an Erwerbsfähigkeit ergangen wäre. Insoweit spielt es auch keine Rolle - wie der Beklagte zutreffend in der Revisionsbegründung vorgetragen hat -, daß die Unrichtigkeit des früheren Bescheides ausschließlich in den Verantwortungsbereich der Verwaltung fällt. Für den Beginn der erhöhten Leistung ist daher nicht allein entscheidend, daß die Verwaltung bei richtiger Bearbeitung des Gutachtens des Dr. H hätte erkennen können und müssen, daß die Leidensbezeichnung und der Befund sich nicht deckten. Wenn sie deshalb auch Bedenken gegen die Einschätzung der MdE hätte haben müssen, so begründet dieser Fehler in der Vergangenheit für die Verwaltung aber noch nicht die Rechtspflicht, den Kläger so zu stellen, wie wenn der Fehler nicht unterlaufen wäre. Das läßt sich aus § 40 Abs. 1 VerwVG nicht entnehmen. Vielmehr ist es in das pflichtmäßige Ermessen der Verwaltung gestellt, einen neuen Bescheid zu erteilen. Für den Inhalt des Bescheids kommt es ebenfalls auf das pflichtmäßige Ermessen der Verwaltung an. Deshalb kann auch in Fällen der vorliegenden Art die Verwaltung den Beginn der Leistung nach ihrem pflichtmäßigen Ermessen - mit ausreichender Begründung - feststellen, ohne auf den Beginn der falschen Leistungen zurückgehen zu müssen (s. dazu BSG 19, 12 ff). Ihr bleibt also auch in solchen Fällen noch ein Ermessenspielraum. Dies haben die Vorinstanzen verkannt, und das LSG hat hier die von ihm angezogene Entscheidung in BSG 19, 12 - 14 unrichtig angewendet. Sie durften vorliegend ihr Ermessen nicht an die Stelle des Verwaltungsermessens setzen, indem sie nachprüften, ob diese Regelung zweckmäßig oder zur Vermeidung der von der Verwaltung erkannten unbilligen Härte erforderlich gewesen ist. Deshalb mußten die Entscheidungen sowohl des SG als auch des LSG aufgehoben werden.
Da die Verwaltung ihrerseits ihr Ermessen fehlerhaft gehandhabt hat und die angefochtenen Bescheide insoweit rechtswidrig sind, als sie den Beginn der erhöhten Rente betreffen, mußten sie in diesem Umfang aufgehoben werden. Die Verwaltung muß hier noch einmal über den Beginn der erhöhten Leistungen entscheiden. Dabei wird sie die Gesamtumstände des Falles, auch die wirtschaftliche Lage des Klägers, zunächst aufzuklären haben. Ohne ihre Kenntnis könnte die Verwaltung ihr Ermessen hinsichtlich des Zeitpunkts für den Beginn der erhöhten Leistung nicht richtig bilden, auch nicht feststellen, ob ein Regelfall im Sinne der VV Nr. 8 vorliegt.
Hinsichtlich der Kosten hat der Senat erwogen, daß die Verwaltung mit ihrer Revision zwar Erfolg gehabt, jedoch das Ergebnis, das sie erstrebt hat, nicht erreicht hat. Denn die Klage wird nicht abgewiesen. Auch durch die Entscheidung des Revisionsgerichts werden die angefochtenen Bescheide als fehlerhaft bezeichnet und als rechtswidrig aufgehoben. Deshalb hat die Verwaltung zur Klageerhebung Anlaß gegeben und muß die erstattungsfähigen Kosten des Rechtsstreits in voller Höhe tragen.
Fundstellen