Leitsatz (redaktionell)

1. Wenn es das LSG unterläßt, eine nicht zum Erfolg führende Aufhebungsklage auch unter dem Gesichtspunkt der Möglichkeit eine dem Klagebegehren gerecht werdenden anderweitigen Klageart zu prüfen, läßt es den erhobenen Anspruch in einer im Rahmen des SGG § 123 möglichen Richtung offen. Ein solcher Verfahrensverstoß stellt einen wesentlichen Mangel des Verfahrens iS des SGG § 162 Abs 1 Nr 2 dar.

2. Ein Schriftsatz, der von der Widersprechenden unterzeichnet ist, stellt auch dann einen nach SGG § 84 wirksamen Widerspruch dar, wenn er von ihrem wegen Geisteskrankheit entmündigten Ehemann erstellt und mitunterzeichnet wurde.

3. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG kann die Entscheidung des Berufungsgerichts über die Nichtzulassung der Revision nicht auf ihre Richtigkeit nachgeprüft werden; auch eine unrichtige Entscheidung über deren Nichtzulassung begründet keinen Verfahrensmangel iS des SGG § 162 Abs 1 Nr 2.

 

Orientierungssatz

Umdeutung einer unzulässigen Aufhebungsklage in eine Untätigkeitsklage nach SGG § 88 Abs 2.

 

Normenkette

SGG § 88 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03, § 123 Fassung: 1953-09-03, § 162 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03, § 84 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Der Antrag der Klägerin, ihr für die Durchführung des Revisionsverfahrens das Armenrecht zu bewilligen, wird abgelehnt.

Das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 28. April 1967 wird aufgehoben, soweit die Aufhebungsklage gegen den Bescheid der Beklagten vom 10. Dezember 1963 als unzulässig abgewiesen worden ist.

Insoweit wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

Die Klägerin ist die Ehefrau des wegen Geisteskrankheit entmündigten Landwirts Helmut L P (Pf.). Die Eheleute Pf. bewirtschafteten früher gemeinsam landwirtschaftliche Grundstücke. Als Landwirt war der Ehemann Pf. Mitglied der beklagten Berufsgenossenschaft (BG). Im Jahre 1962 war nur noch die Hälfte der Grundstücke bewirtschaftet worden; diese gehörten der Klägerin. Die Beklagte nahm daher nur die Klägerin als Beitragsschuldnerin für das Jahr 1962 in Anspruch und verlangte von ihr mit dem Beitrags-Nachveranlagungsbescheid vom 10. Dezember 1963 die Zahlung des auf ihren Anteil an den Grundstücken entfallenen Beitrages von 94,70 DM. In diesem Bescheid wurde auf den Rechtsbehelf des Widerspruchs ausdrücklich hingewiesen.

Am 16. Dezember 1963 ging bei der Beklagten ein gegen die Beitragsnachveranlagung gerichtetes Schreiben der Eheleute Pf. vom 13. Dezember 1963 ein. Das Schreiben ist von jedem der beiden Eheleute eigenhändig mit eigenem Namen unterzeichnet. Die Beklagte antwortete formlos am 23. Dezember 1963 in ablehnendem Sinne. Einen Widerspruchsbescheid erteilte sie nicht.

Durch Schriftsatz vom 6. Juli 1965 erhob die Klägerin beim Verwaltungsgericht Koblenz Klage und beantragte die Feststellung der Nichtigkeit des Beitragsbescheides vom 10. Dezember 1963. Am 30. Juli 1965 erklärte sie, daß sie Anfechtungsklage gegen den Beitragsbescheid erhebe.

Die Sache wurde an das Sozialgericht (SG) Koblenz verwiesen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage als unzulässig oder unbegründet abzuweisen. Sie ist der Ansicht, das Schreiben vom 13. Dezember 1963 könne nicht als Widerspruch gegen den Bescheid vom 10. Dezember 1963 angesehen werden, da es von dem wegen Geisteskrankheit entmündigten Ehemann der Klägerin erstellt worden und deshalb in seinem gesamten Inhalt nichtig sei. Der Bescheid vom 10. Dezember 1963 sei daher bindend geworden. Für eine Klage fehle es der Klägerin auch am Rechtsschutzbedürfnis, da eine Vollstreckung der Forderung auf Grund der schlechten Vermögensverhältnisse der Beitragsschuldnerin zwecklos sei; deshalb sei auch eine Unterbrechung der Verjährung nicht veranlaßt worden. In ihrem Erwiderungsschriftsatz vom 11. März 1966 hat die Klägerin unter ausdrücklicher Berufung auf § 55 Abs. 1 Nr. 4 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) den Antrag auf Feststellung der Nichtigkeit des Bescheides gestellt, da dieser gegen ein Gesetz verstoße. Das SG hat durch Urteil vom 6. April 1966 die Klage abgewiesen. Nach dem Tatbestand des Urteils hat die Klägerin lediglich die Aufhebung des Nachveranlagungsbescheides beantragt. Das SG hat diese Klage mit der Begründung abgewiesen, daß das Vorverfahren fehle; dieses müsse von der Beklagten zunächst noch nachgeholt werden, da sie sich nicht darauf berufen könne, daß "der Widerspruch der Klägerin vom 16. Dezember 1963 nichtig" sei.

Hiergegen hat die Klägerin Berufung eingelegt. Sämtliche im Berufungsverfahren eingereichten Schriftsätze sind wie das Schreiben vom 13. Dezember 1963 von ihr eigenhändig mitunterzeichnet worden. Im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Landessozialgericht (LSG) ist auf Grund der Schriftsätze der nicht erschienenen Klägerin festgestellt worden: sie beantragt, unter Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils die Nichtigkeit des Bescheides der Beklagten vom 10. Dezember 1963 festzustellen, hilfsweise, das Urteil des SG und den Beitragsbescheid aufzuheben. Das LSG hat durch Urteil vom 28. April 1967 die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Koblenz vom 6. April 1966 mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß die Nichtigkeitsklage gegen den Bescheid der Beklagten vom 10. Dezember 1963 als unbegründet und die Aufhebungsklage gegen diesen Bescheid als unzulässig abgewiesen werde. Zur Begründung ist ua ausgeführt: Der Ehemann der Klägerin sei zwar nicht prozeßfähig und daher auch nicht befugt, seine Ehefrau zu vertreten. Die Berufungsschrift wie auch die folgenden Schriftsätze der Klägerin seien jedoch auch von der Ehefrau unterzeichnet. Damit sei zum Ausdruck gebracht, daß sie unabhängig von der Hilfe ihres Ehemannes den Prozeß als die allein in Anspruch genommene Beitragsschuldnerin wahrnehmen wolle; ihre Unterschrift sei als selbständig wirksame Unterzeichnung ihrer schriftlichen Erklärungen zu werten. Der Klägerin fehle das Rechtsschutzbedürfnis für ihre Klage nicht; denn die Beklagte bestehe nach wie vor auf ihrer Beitragsforderung. Ob die Vollstreckung aus ihrem Nachveranlagungsbescheid Erfolg verspreche, spiele entgegen der Meinung der Beklagten keine Rolle; denn der Bescheid beeinträchtige die Rechtssphäre der Klägerin solange, als kein Verzicht auf die Beiträge ausgesprochen werde. Die Klägerin habe den Beitragsbescheid mit der Nichtigkeitsklage und der Aufhebungsklage angefochten. Das Nebeneinander der beiden Klagen sei verfahrensrechtlich zulässig. Die Nichtigkeitsklage enthalte den Hauptantrag und die Aufhebungsklage den Hilfsantrag (BSG 7, 38; 9, 171, 179; 12, 188; Peters/Sautter/Wolff, Komm. z. Sozialgerichtsbarkeit, Anm. 2 c zu § 54 SGG). Die vorverfahrensfreie und fristgebundene, daher zulässige Nichtigkeitsklage sei jedoch unbegründet; denn der Beitragsbescheid sei entgegen der Ansicht der Klägerin kein rechtliches Nichts, er entspreche vielmehr den Vorschriften der §§ 803 ff der Reichsversicherungsordnung (RVO) in Verbindung mit den §§ 21 ff der Satzung der Beklagten und sei nicht mit schwerwiegenden Mängeln behaftet, welche ihm den Stempel der Unbeachtlichkeit aufdrücken könnten. Die hilfsweise erhobene Aufhebungsklage sei unzulässig, da das für die Klageerhebung in Beitragsstreitigkeiten unverzichtbare Vorfahren nicht stattgefunden habe.

Das LSG hat die Revision nicht zugelassen.

Das Urteil ist der Klägerin am 24. Mai 1967 zugestellt worden. Sie hat gegen das Urteil Revision eingelegt. Der von ihren bevollmächtigten Rechtsanwälten B und Dr. S stammende Revisionseinlegungsschriftsatz ist am 20. Juni 1967 beim Bundessozialgericht (BSG) eingegangen. Die Vollmacht ist wie alle im Revisionsverfahren abgegebenen Erklärungen der Klägerin von ihr und ihrem Ehemann eigenhändig unterzeichnet.

Mit der Revisionseinlegung wird beantragt,

das Urteil des LSG aufzuheben und den in der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht gestellten Anträgen der Klägerin stattzugeben,

hilfsweise,

den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung an das LSG zurückzuverweisen.

Rechtsanwalt Dr. S hat am 3. Juli 1967 mitgeteilt, daß die Vertretung der Klägerin niedergelegt werde. Die Revisionsbegründung ist von dem später bevollmächtigten Rechtsanwalt G am 19. Juli 1967 eingereicht worden. Darin wird gerügt:

Das LSG hätte die Revision zulassen müssen. Der von der Klägerin geltend gemachte Mangel des angefochtenen Verwaltungsaktes sei so evident, daß er dessen Nichtigkeit begründe. Der Beitragsbescheid hätte nicht an die Klägerin gerichtet werden dürfen, da diese nicht Mitglied der beklagten BG sei. Diese habe sich damit eine Hoheitsbefugnis gegenüber einem Nichtmitglied angemaßt. Der angeführte Mangel sei Gegenstand einer Frage von grundlegender rechtlicher Bedeutung; denn das Mitgliedschaftsverhältnis zur Beklagten könne keine hoheitlichen Wirkungen über den Kreis ihrer Mitglieder hinaus haben.

Über die Anfechtungsklage hätte das LSG statt durch Prozeßurteil durch Sachurteil entscheiden müssen. Daß das unverzichtbare Vorverfahren nicht stattgefunden habe, begründe die Abweisung der Klage wegen Unzulässigkeit nicht. Der fehlende Widerspruchsbescheid sei zu Unrecht unterlassen worden. Für diesen Fall gebe es die Untätigkeitsklage nach § 88 Abs. 2 SGG. Das Schreiben der Klägerin vom 13. Dezember 1963 sei als Widerspruch anzusehen. Das LSG hätte daher die gegen den Bescheid erhobene Klage (Nichtigkeits- oder Anfechtungsklage) in eine Untätigkeitsklage umdeuten und darüber entscheiden müssen. Die in § 88 Abs. 2 SGG vorgeschriebene Ausschlußfrist von einem Jahr stehe dem nicht entgegen, da die Klägerin die Klage wegen ihrer besonderen Verhältnisse nicht rechtzeitig habe erheben können. Sie sei einfache Landwirtin und mit familiären und wirtschaftlichen Schwierigkeiten so stark belastet gewesen, daß ihr die Fristwahrung entgangen sei. Im übrigen hätte sie von der Beklagten erwarten dürfen, daß diese auf den Beitrag von 94,70 DM verzichtete.

Rechtsanwalt G ist die Vollmacht von der Klägerin entzogen worden. Er hat daraufhin die Vertretung niedergelegt.

Die Beklagte beantragt,

die Revision als unzulässig zu verwerfen,

hilfsweise,

sie als unbegründet zurückzuweisen.

Sie ist der Ansicht, die gerügten Verfahrensmängel lägen nicht vor, und führt ua aus: Auch eine unrichtige Entscheidung darüber, ob eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung zu entscheiden gewesen sei, stelle keinen wesentlichen Verfahrensmangel dar. Auch hinsichtlich der Anfechtungsklage sei die erhobene Verfahrensrüge nicht begründet. Ein wirksamer Widerspruch gegen den Beitragsbescheid liege nicht vor. Eine Untätigkeitsklage nach § 88 Abs. 2 SGG sei schon wegen Fristablaufs, im übrigen aber auch deshalb unzulässig, weil der Beitragsbescheid bindend geworden sei.

Im Termin zur mündlichen Verhandlung ist die Klägerin durch Rechtsanwalt Dr. R vertreten worden. Dieser beantragt unter Bezugnahme auf die schriftliche Revisionsbegründung des Rechtsanwalts G,

die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben,

hilfsweise,

die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Außerdem beantragt er, der Klägerin für das Verfahren vor dem BSG das Armenrecht zu bewilligen.

II

Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Sie ist auch statthaft, da das Verfahren des Berufungsgerichts an einem wesentlichen Mangel leidet, der ordnungsmäßig gerügt ist (§ 162 Abs. 1 Nr. 2, § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Die Revision macht allerdings zu Unrecht geltend, ein wesentlicher Mangel des Verfahrens vor dem LSG liege darin, daß es die Revision nicht nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG zugelassen habe. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG kann die Entscheidung des Berufungsgerichts über die Nichtzulassung der Revision nicht auf ihre Richtigkeit nachgeprüft werden; auch eine unrichtige Entscheidung über die Nichtzulassung der Revision begründet keinen Verfahrensmangel im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG (vgl. BSG 2, 45, 47; 2, 81, 82; 3 275; 5, 150, 152; SozR Nr. 109, 149, 175 zu § 162 SGG und Nr. 19 zu Art. 3 GG; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. - 6. Aufl., Bd. I S. 252 h, 250 t). Das Vorbringen der Revision bietet keinen Anlaß, von dieser Rechtsprechung abzuweichen.

Berechtigt dagegen ist die weitere Revisionsrüge, das LSG hätte die Klage auf Aufhebung des Beitrags-Nachveranlagungsbescheides vom 10. Dezember 1963 nicht als unzulässig abweisen dürfen, nur weil das Vorverfahren nicht durchgeführt worden sei. Insoweit macht die Revision geltend, das LSG hätte berücksichtigen müssen, daß die Klägerin gegen den angeführten Bescheid Widerspruch erhoben habe. Sie meint damit, dieser Umstand hätte das LSG veranlassen müssen, die unzulässige Aufhebungsklage unter dem Gesichtspunkt der Möglichkeit einer dem Klagbegehren gerecht werdenden anderweiten Klagart zu prüfen. Diese Möglichkeit habe sich angesichts des unterlassenen Widerspruchsbescheides in der Beurteilung des Sachverhalts unter den Voraussetzungen der Untätigkeitsklage nach § 88 Abs. 2 SGG dargeboten.

Mit diesem Vorbringen hat die Revision schlüssig dargetan, daß das LSG über den von der Klägerin erhobenen, auf die Beseitigung des Nachveranlagungsbescheides gerichteten Anspruch nicht in vollem Umfang entschieden habe (§ 123 SGG). Dieser Mangel des Berufungsverfahrens liegt auch vor.

Die Klägerin hatte die Klage auf Aufhebung des Bescheides vom 10. Dezember 1963 neben der Klage auf Feststellung der Nichtigkeit dieses Bescheides (§ 55 Abs. 1 Nr. 4 SGG) erhoben. Der Antrag auf Aufhebung des Bescheides kam zum Zuge, nachdem das LSG den Antrag auf Feststellung der Nichtigkeit des Bescheides für unbegründet hielt. Zwar stand einer Sachentscheidung über die Aufhebungsklage das Fehlen des nach §§ 78, 80, Nr. 2 SGG erforderlichen Vorverfahrens entgegen. Aber angesichts der gegebenen Sach- und Rechtslage, die dadurch gekennzeichnet ist, daß ein Widerspruch der Klägerin gegen den Beitragsbescheid anhängig geworden und die Widerspruchsstelle mit diesem Rechtsbehelf nicht befaßt worden war, hätte sich das LSG nicht darauf beschränken dürfen, allein wegen der unterlassenen Durchführung des Widerspruchsverfahrens die Klage als unzulässig abzuweisen. Es hätte vielmehr das von der Klägerin gemeinsam mit ihrem entmündigten Ehemann unterzeichnete Schreiben vom 13. Dezember 1963 als einen wirksamen Widerspruch ansehen müssen, nachdem es die sonstigen in gleicher Weise unterzeichneten Schriftsätze der Klägerin als wirksame Prozeßerklärungen erachtet hat. War aber sonach auch nach der Ansicht des LSG von dem Vorliegen eines gültigen Widerspruchs gegen den Beitragsbescheid vom 10. Dezember 1963 auszugehen, so hätte das LSG bei seiner Entscheidung nicht übersehen dürfen, daß die Beklagte das Schreiben vom 13. Dezember 1963 als den gesetzlich vorgesehenen Rechtsbehelf gegen den Bescheid zu Unrecht unbeachtet gelassen hatte und daß der Widerspruchsbescheid durch die zuständige Widerspruchsstelle hätte ergehen müssen. Dies hat zur Folge, daß das LSG bei sachgerechter Beurteilung der Prozeßlage in dem nicht zum Erfolg führenden Begehren der Klägerin auf Aufhebung des Beitragsbescheides eine zugleich erhobene Untätigkeitsklage nach § 88 Abs. 2 SGG hätte erblicken müssen.

Die Untätigkeitsklage richtet sich ebenfalls gegen die Beklagte; denn diese ist der Rechtsträger der Widerspruchsstelle (§ 85 Abs. 2 Nr. 2 SGG). Da hiernach das LSG über diese Klage hätte befinden müssen, es aber unterlassen hat, läßt das Berufungsurteil den von der Klägerin erhobenen Anspruch in einer im Rahmen des § 123 SGG möglichen Richtung offen. Ohne daß es auf eine entsprechende Präzisierung des Antrages angekommen wäre, hätte das LSG über ihn entscheiden müssen. Da dies unterblieben ist, liegt eine Verletzung des § 123 SGG vor. Ein solcher Verfahrensverstoß stellt einen wesentlichen Mangel des Verfahrens im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG dar. Die Revision ist daher statthaft.

Die Revision ist auch begründet.

Es ist nicht ausgeschlossen, daß die Entscheidung über eine Untätigkeitsklage zu einem für die Klägerin günstigen Ergebnis führt. Die Klage ist allerdings erst im Juli 1965, also zu einer Zeit erhoben worden, als die Frist hierfür bereits abgelaufen war. Die Untätigkeitsklage ist anders als die allgemeine Vornahmeklage an eine Frist gebunden. Insoweit gilt als Ausnahme von § 89 SGG die Regelung des § 88 Abs. 2 SGG (vgl. Brackmann aaO Bd. I S. 240 x und S. 240 f II). Nach dieser besonderen Regelung kann, wenn über einen Widerspruch nicht entschieden worden ist, die Klage nur bis zum Ablauf eines Jahres seit der Einlegung des Widerspruchs erhoben werden. Diese Frist gilt jedoch nicht, wenn es dem Betroffenen infolge höherer Gewalt nicht möglich war, sie einzuhalten oder dies wegen der besonderen Verhältnisse des Säumigen in persönlicher oder sachlicher Hinsicht unterblieben ist.

Ob ein solcher Fall mit Rücksicht auf die besonderen Lebensverhältnisse der Klägerin gegeben ist, läßt sich mangels tatsächlicher Feststellungen des Berufungsurteils noch nicht entscheiden. Die Revision hat das Vorliegen besonderer Verhältnisse im Sinne des § 88 Abs. 2 Satz 2 SGG behauptet. In dieser Richtung den Sachverhalt zu klären und über die Frage des Fristablaufs zu entscheiden, muß zunächst dem LSG vorbehalten bleiben. Die Entscheidung über die nicht zugelassene, aber nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthafte Revision hat sich auf die Aufhebung des angefochtenen Urteils, soweit dieses die Aufhebungsklage betrifft, zu beschränken. Soweit das LSG die Nichtigkeitsklage als unbegründet (vgl. hierzu auch BSG 24, 165) abgewiesen hat, handelt es sich um eine gesondertes Klagbegehren, über das vom LSG endgültig entschieden worden ist. Das Berufungsurteil mußte daher mit dieser Einschränkung aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Dem Antrag der Klägerin auf Bewilligung des Armenrechts konnte nicht stattgegeben werden, da es an dem nach § 167 SGG in Verbindung mit § 114 der Zivilprozeßordnung erforderlichen Nachweis des Unvermögens der Klägerin fehlt, die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits ohne Beeinträchtigung des für sie und ihre Familie notwendigen Unterhalts zu bestreiten.

Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1984091

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