Entscheidungsstichwort (Thema)

Wegfall oder Minderung der Grundlohnkürzung nach KVdRG

 

Leitsatz (amtlich)

1. Der Antrag auf Herabsetzung der Grundlohnkürzung nach KVdRG Art 2 § 6 konnte noch nach Außerkrafttreten dieser Vorschrift für die Zeit ihrer Geltung gestellt werden.

2. Zur Verwirkung von Ansprüchen zwischen öffentlich-rechtlichen  Körperschaften.

 

Leitsatz (redaktionell)

Der Anspruch auf Wegfall oder Minderung der Grundlohnkürzung nach KVdRG Art 2 § 6 war nicht verwirkt, wenn der Antrag erst nach Bekanntwerden des Urteils des BSG vom 1968-08-27 3 RK 24/65 = USK 6889 gestellt wurde und ein vor diesem Zeitpunkt gestellter Antrag - gemessen an der damaligen Verwaltungspraxis des BVA - ohne Aussicht auf Erfolg gewesen wäre.

 

Normenkette

KVdRG Art. 2 § 6 Fassung: 1956-06-12; BGB § 242 Fassung: 1896-08-18

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 29. November 1972 aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Die Beteiligten streiten um die Frage, ob die Klägerin noch im Jahre 1969 berechtigt war, für das Geschäftsjahr 1959 einen Antrag auf Zulassung des Wegfalls der Grundlohnkürzung zu stellen (Art. 2 § 6 des Gesetzes über Krankenversicherung der Rentner - KVdR - vom 12. Juni 1956 - BGBl I 500 -).

Die Klägerin hatte Anträge auf Zulassung des Wegfalls der Grundlohnkürzung für die Jahre 1958, 1960, 1964, 1965, 1966 und 1967 jeweils im folgenden Jahr gestellt. Diesen Anträgen wurde teilweise entsprochen. Nachdem durch das Urteil des Senats vom 27. August 1968 (SozR Nr. 2 zu Art. 2 § 6 KVdR) der Begriff der unangemessenen wirtschaftlichen Belastung in Art. 2 § 6 KVdR geklärt worden war, stellte die Klägerin für mehrere Jahre Anträge erneut, für 1959 erstmals. Hinsichtlich der Jahre, über die bereits eine Entscheidung vorlag, berief sich die Beklagte auf die Bindungswirkung dieser Bescheide. Den für das Jahr 1959 gestellten Antrag lehnte die Beklagte mit der Begründung ab, die aus der begehrten Erhöhung des Grundlohnes folgende Beitragserhöhung widerspreche rechtsstaatlichen Grundsätzen. Die Beitragsschuldner hätten darauf vertrauen dürfen, daß keine Erhöhung mehr eintrete (Bescheide vom 6. Oktober 1959).

Die Klägerin hat nur den das Jahr 1959 betreffenden Bescheid angefochten. Das Sozialgericht hat die Klage abgewiesen, weil das Antragsrecht im Hinblick auf die ungewöhnliche Länge der abgelaufenen Zeit und die Verwaltungspraxis der Klägerin in anderen Jahren verwirkt sei (Urteil vom 19. Juli 1971). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen und sich auf den Standpunkt gestellt, der Antrag nach Art. 2 § 6 KVdR sei eine materiell-rechtliche Anspruchsvoraussetzung, so daß nach dem Außerkrafttreten dieser Vorschrift am 1. Januar 1968 (durch Art. 3 § 12 des Finanzänderungsgesetzes vom 21. Dezember 1967 - FinÄndG 1967 - BGBl I 1259) jeglicher Antrag erfolglos bleiben müsse. Unabhängig davon stehe aber dem Antrag jedenfalls der Einwand der Verwirkung entgegen. Die Verwirkung könne nicht durch den Vortrag der Klägerin, das Bundesversicherungsamt (BVA) habe durch langjährige unzutreffende Anwendung des Art. 2 § 6 KVdR Veranlassung zu der Verzögerung der Antragstellung gegeben, entkräftet werden. Denn ein etwaiger Wegfall oder eine Minderung der Grundlohnkürzung würde nicht die Beklagte oder das BVA, sondern die beigeladenen Rentenversicherungsträger treffen (Urteil vom 29. November 1972).

Die Klägerin hat die zugelassene Revision eingelegt mit dem Antrag, unter Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen und des Bescheides der Beklagten diese zu verurteilen, ihr einen neuen Bescheid über den Wegfall der Grundlohnkürzung für das Jahr 1959 zu erteilen und hierbei die oben angeführte Rechtsprechung des erkennenden Senats zu berücksichtigen.

Sie wendet sich gegen die Auffassung des LSG von der materiell-rechtlichen Natur des Antrags, die auch der bisherigen Rechtsprechung widerspreche. Hinsichtlich der Verwirkung legt sie dar, daß auch bei den beigeladenen Rentenversicherungsträgern ein schutzwürdiges Vertrauen auf die bisherige falsche Praxis nicht festzustellen sei, denn diese hätten gewußt, daß die von dem BVA angewandten Maßstäbe umstritten gewesen seien und ein Musterprozeß habe geführt werden müssen.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen. Sie ist der Auffassung, einer positiven Entscheidung stehe jedenfalls das Verbot der rückwirkenden Beitragserhöhung entgegen.

Die Beigeladenen beantragen ebenfalls die Zurückweisung der Revision und schließen sich dem angefochtenen Urteil an.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

II

Die Revision ist im Sinne der Zurückverweisung begründet. Denn die Zulassung des Wegfalls oder der Minderung der Grundlohnkürzung kann nicht mit der Begründung abgelehnt werden, der Antrag sei nicht rechtzeitig gestellt worden. Es ist weder eine gesetzliche Frist abgelaufen, noch ergibt sich aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen, daß das Antragsrecht nicht mehr ausgeübt werden darf.

Wie der Senat bereits entschieden hat (Urteil vom 23. November 1971 in SozR Nr. 3 zu Art. 2 § 6 KVdR), ist weder in Art. 2 § 6 KVdR noch in einer anderen gesetzlichen Vorschrift eine Befristung des Antragsrechts vorgesehen. Eine Befristung kann auch nicht darin gesehen werden, daß die von einem Antrag abhängige Herabsetzung der Grundlohnkürzung ausdrücklich als Übergangsregelung geschaffen worden ist, die am 1. Januar 1968 (vgl. Art. 3 § 12 und Art. 22 FinÄndG 1967) wieder außer Kraft trat. An eine Befristung des Antragsrechts bis zum Außerkrafttreten des Art. 2 § 6 KVdR könnte allenfalls dann gedacht werden, wenn die Herabsetzung der Grundlohnkürzung für die Zukunft hätte beantragt werden können. Abgesehen von der etwaigen Möglichkeit, vorläufige Herabsetzungen zuzulassen (vgl. Amtsbl. Berlin 1963, 819, 1093; 1966, 280), konnten endgültige Zulassungen nach Art. 2 § 6 KVdR nur für die Vergangenheit beantragt und erteilt werden, weil die Voraussetzungen nur für einen abgelaufenen Zeitraum - in der Regel für ein Geschäftsjahr - nachgewiesen werden konnten (vgl. Schreiben des BMA vom 14. August 1957 in BABl 1957, 557; zur Verwaltungspraxis vgl. Harres in DOK 1965, 399). Wollte man nach dem Außerkrafttreten des Art. 2 § 6 KVdR keine Anträge mehr zulassen, so würde sich die Neuregelung der Lastenverteilung zwischen den Krankenkassen und den Rentenversicherungsträgern nicht nahtlos an die frühere Regelung anschließen. Denn zumindest für das Geschäftsjahr 1967 wäre die Anwendung des Art. 2 § 6 KVdR praktisch ausgeschlossen.

Auch aus der kurzen Verjährungsfrist (zwei Jahre -§ 29 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) für Beitragsrückstände läßt sich keine Befristung herleiten. Zwar ginge der Antrag ins Leere, wenn beitragsrechtliche Folgen nicht mehr aus der rückwirkenden Genehmigung gezogen werden könnten. Die Beitragsforderungen, die nach Genehmigung der Herabsetzung der Grundlohnkürzung erhoben werden können, haben aber als eine Voraussetzung ihrer Entstehung die beantragte Genehmigung, die insoweit rechtsbegründende Wirkung hat (vgl. zum Wesen der Zulassung nach Art. 2 § 6 KVdR auch Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 24. bis 36. Nachtragslieferung, S. 454). Da die Beitragsforderungen somit noch nicht entstanden waren, konnten sie auch nicht verjähren.

Auch ein etwaiges allgemeines Verbot der rückwirkenden Beitragserhöhung könnte die Beklagte nicht berechtigen, den Antrag abzulehnen. Da Art. 2 § 6 KVdR nach seiner rechtlichen Konstruktion praktisch immer rückwirkende Kraft hat, könnten nur verfassungsrechtliche Bedenken - Rechtssicherheit, Vertrauensschutz - geltend gemacht werden. Solche Bedenken könnten durchgreifen, wenn die zusätzlichen Beiträge von den einzelnen Versicherten - Rentenantragstellern - verlangt werden würden, die möglicherweise auf die Endgültigkeit früherer Beitragsforderungen vertrauen durften (BSG, Urteil vom 29. November 1973 - 8/2 RU 33/70 - bezüglich rückwirkender Beitragserhöhung durch Satzungsänderung). Ob eine solche Beitragsnachforderung gegenüber selbstzahlenden Versicherten (vgl. § 381 Abs. 3 Satz 2 RVO) -bei genehmigtem teilweisen oder gänzlichen Wegfall der Grundlohnkürzung - überhaupt zulässig wäre, ist mehr als fraglich; der Senat brauchte jedoch auf diese Frage nicht näher einzugehen, da sie nicht Gegenstand des Rechtsstreits ist.

Die beantragte Genehmigung ist schon dann erforderlich, wenn die Klägerin - wie von ihr beabsichtigt - nur von den beigeladenen Rentenversicherungsträgern Beiträge nacherheben will. Insoweit bestehen auch keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Die von den Rentenversicherungsträgern nachträglich zu zahlenden Beiträge sind ihrem Wesen nach Ausgleichszahlungen zur Herstellung des von dem Gesetzgeber damals für sinnvoll gehaltenen Verhältnisses der Belastung der Rentenversicherungsträger (90%) und der Krankenkassen (10%) für die Krankenversicherung der Rentner (vgl. dazu Urteil des Senats vom 27. August 1968 in SozR Nr. 2 zu Art. 2 § 6 KVdR). Eine rückwirkende Beitragserhöhung infolge einer Genehmigung nach Art. 2 § 6 KVdR stellt sich somit grundsätzlich nicht als eine unvorhergesehene Belastung, sondern als Ausgleich für eine relative Besserstellung der Rentenversicherungsträger gegenüber einer stärker belasteten Krankenkasse dar.

Dem Antragsrecht kann auch nicht mit Erfolg der Einwand der Verwirkung entgegengehalten werden. Dieser Einwand - ein Anwendungsfall des Rechtssatzes, daß eine Treu und Glauben widersprechende Rechtsausübung unzulässig ist - gründet sich auf eine Beurteilung des Verhältnisses Klägerin - Beigeladene, in dem sich die beantragte Genehmigung auswirken würde. Wie der Senat bereits in Bezug auf Art. 2 § 6 KVdR ausgeführt hat, ist die Anwendung des Rechtsinstituts der Verwirkung weder im Hinblick auf die Eigenart des öffentlichen Rechts, noch im Hinblick auf das Verhältnis von gleichrangigen Trägern öffentlicher Aufgaben von vornherein auszuschließen; es sind aber Einschränkungen zu beachten, die sich aus den Besonderheiten dieser Rechtsmaterie - insbesondere seiner Strenge - ergeben (vgl. Urteile vom 23. November 1971, aaO und vom 16. März 1972 - 3 RK 52/70 -).

Im vorliegenden Fall sprechen die Umstände zunächst dafür, daß die gleichförmig geübte Verwaltungspraxis der Klägerin - Antragstellung jeweils im Jahr nach dem betreffenden Geschäftsjahr - die Grundlage für ein Vertrauensverhältnis geschaffen haben könnte, dem eine Antragstellung für einen über zehn Jahre zurückliegenden Zeitraum entgegenstehen könnte. Andererseits ist zu beachten, daß es sich bei dem Antragsrecht aufgrund des Art. 2 § 6 KVdR nicht um eine im Ermessen der Kasse stehende Befugnis handelt. Da der Begriff der unangemessenen Belastung im Interesse der für die Praxis der Krankenversicherung gebotenen Rechtsklarheit sowohl durch das BVA sowie auch später durch die Rechtsprechung genauer "quantifiziert" worden ist (vgl. Haueisen in NJW 1973, 641), bestand nicht einmal ein beachtlicher Beurteilungsspielraum für die Klägerin.

Selbst wenn man aber auch gegenüber unverzichtbaren Rechten den Einwand der Verwirkung grundsätzlich für beachtlich hält (entgegen BayVGH in BayVBl 1970, 103; zweifelnd BVerwG in Sammlung Buchholz, 234 § 7 G 131 Nr. 89), steht diesem Einwand die Tatsache entgegen, daß die Klägerin einen zureichenden Grund für die Verzögerung der Antragstellung hatte: Ein vor Bekanntwerden des Urteils des erkennenden Senats vom 27. August 1968 (aaO) gestellter Antrag wäre gemessen an der ständigen Verwaltungspraxis der Beklagten offensichtlich aussichtslos gewesen. Dieser Grund wäre nur dann nicht zureichend, wenn der Krankenkasse zuzumuten gewesen wäre, die Belastungen eines Musterprozesses auf sich zu nehmen, wie dies - allerdings erst für das Geschäftsjahr 1963 - eine andere Kasse mit dem Ergebnis des obengenannten Urteils getan hat. Nach Auffassung des Senats wäre damit auch die an einen öffentlich-rechtlichen Rechtsträger zu stellenden Anforderungen zur Rechtswahrung überspannt. Denn mit der Folge des Rechtsverlusts hat nur derjenige Rechtsinhaber zu rechnen, der unter Verhältnissen untätig bleibt, unter denen vernünftigerweise etwas zur Wahrung des Rechts unternommen zu werden pflegt (BVerfGE 32, 305, 308). Solche Verhältnisse waren erst geschaffen, als - aufgrund des obengenannten Urteils - Erfolgsaussicht gegeben war. Die weiterhin ablehnende Haltung des BVA wäre von diesem Zeitpunkt an allerdings kein zureichender Grund für eine längere Verzögerung der Antragstellung gewesen.

Da das LSG von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig keine Feststellungen zu den tatsächlichen Voraussetzungen des Klageantrags getroffen hat, mußte der Rechtsstreit an dieses Gericht zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen werden. Auch die Kostenentscheidung bleibt dem den Rechtsstreit abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1646641

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