Entscheidungsstichwort (Thema)
Leistungspflicht während stationärer Tbc-Behandlung Geisteskranker bei sonst ständiger psychiatrischer Unterbringung auf öffentliche Kosten
Orientierungssatz
Ein gegen den Rentenversicherungsträger gegebener Anspruch auf Gewährung der stationären Heilbehandlung entfällt nach RVO § 1244a Abs 7 S 3 iVm BSHG § 130, wenn der Tbc-Kranke wegen Geisteskrankheit, Geistesschwäche, Epilepsie oder wegen einer Suchtkrankheit auf öffentliche Kosten in Anstaltspflege
Diese Ausnahmeregelung ändert die grundlegende Zuständigkeitsregelung aber nicht zu Lasten der KV, weil RVO § 1244a als Spezialnorm dem RVO § 216 Abs 1 Nr 4 vorgeht. Der Rentenversicherungsträger wird von seiner Verpflichtung zur Tbc-Bekämpfung lediglich zu Lasten des für die Anstaltsunterbringung zuständigen öffentlichen Kostenträgers befreit.
Normenkette
RVO § 216 Abs. 1 Nr. 4 Fassung: 1956-06-12, § 1244a Abs. 7 S. 3 Fassung: 1959-07-23; BSHG § 130 Abs. 1
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 29. April 1976 aufgehoben.
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 17. Januar 1972 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Der Kläger (das Land Niedersachsen) fordert von der beklagten Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) - hilfsweise von der beigeladenen Landesversicherungsanstalt (LVA) - Ersatz der Kosten, die er für die stationäre Tbc-Behandlung eines Mitglieds der Beklagten aufgewandt hat.
Die 1942 geborene, wegen Geistesschwäche entmündigte Helga H. befindet sich seit 1956 auf Kosten des Klägers zur dauernden Pflege in der psychiatrischen Abteilung eines Frauenheimes. Am 3. September 1963 wurde sie wegen aktiver Lungen-Tbc in das Niedersächsische Landeskrankenhaus L. verlegt und dort bis zum 12. Juni 1964 stationär behandelt. Während dieser Zeit erhielt sie von der Beigeladenen Waisenrente und war Pflichtmitglied der Beklagten. Ihre Rente, die bis zum 31. Dezember 1963 66,60 und später 72,10 DM monatlich betrug, wurde an den Kläger überwiesen. Dieser hatte für ihre Unterbringung in dem Frauenheim damals monatlich 345,- bzw. (ab April 1964) 357,- DM aufzubringen. Er übernahm die Tbc-Behandlungskosten von insgesamt 6.964,24 DM. Die Beklagte und die Beigeladene lehnten es ab, diese Kosten zu erstatten. Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 17. Januar 1972). Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 29. April 1976 die Beklagte verurteilt, dem Kläger die durch den Aufenthalt der H. in dem Landeskrankenhaus entstandenen Kosten zu ersetzen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Die H. habe für die Zeit ihrer Tbc-Behandlung Anspruch auf Krankenhauspflege gehabt. Dieser Anspruch habe nicht nach § 216 Abs. 1 Nr. 4 der Reichsversicherungsordnung (RVO) geruht, denn die Tbc-Behandlung habe besondere Kosten verursacht. Auch auf § 1244 a RVO könne sich die Beklagte nicht berufen, weil der Krankenversicherungsanspruch wieder auflebe, falls die Zuständigkeit des Rentenversicherungsträgers nach § 1244 a Abs. 7 Satz 3 RVO i. V. m. § 130 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) entfalle. Das sei hier geschehen. Die H. sei in dem Frauenheim auf öffentliche Kosten untergebracht gewesen, denn als Teilselbstzahler könne nur derjenige angesehen werden, der wenigstens 25 % der Anstaltspflegekosten beisteuere. Der von der H. beigesteuerte Waisenrentenbetrag habe jedoch nicht einmal 20 % der Unterbringungskosten ausgemacht. Die Beklagte sei deshalb verpflichtet gewesen, der H. die Tbc-Behandlung zu gewähren, und habe dem vorleistenden Kläger Ersatz zu leisten.
Mit der - zugelassenen - Revision rügt die Beklagte Verletzung des § 1244 a RVO und des § 130 BSHG. Sie meint, da der Kläger als Träger der Sozialhilfe die Kosten für die Anstaltsunterbringung getragen habe, sei er auch für die stationäre Tbc-Behandlung zuständig gewesen. Allenfalls sei ein Erstattungsanspruch gegen die Beigeladene gegeben, weil die H. als Selbstzahler anzusehen sei.
Die Beklagte beantragt (sinngemäß),
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG zurückzuweisen,
hilfsweise die Beigeladene zum Kostenersatz zu verurteilen.
Der Kläger und die Beigeladene beantragen,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet. Dem Kläger steht kein Ersatzanspruch zu. Weder die beklagte AOK noch die beigeladene LVA haben ihm die für die stationäre Tbc-Behandlung der H. aufgewandten Kosten zu erstatten.
Zutreffend hat das LSG § 216 Abs. 1 Nr. 4 RVO hier nicht für anwendbar gehalten. Nach dieser Vorschrift ruht der Anspruch auf Krankenhilfe, so lange ein Rentner in einer Anstalt dauernd zur Pflege untergebracht ist, in der er im Rahmen seiner gesamten Betreuung auch Krankenpflege erhält. Diese allgemeine Regelung kommt hier nicht zur Anwendung, weil ihr § 1244 a RVO als Spezialnorm vorgeht. Diese im Zuge der Neuordnung der Tbc-Bekämpfung 1959 in die RVO eingefügte Vorschrift (§ 31 Nr. 1 Buchst. a des Gesetzes über Tbc-Hilfe - THG - vom 23.7.1959; BGBl I 513) enthält in ihrem 3. Absatz eine Zuständigkeitsregelung im Sinne einer Arbeitsteilung zwischen den Sozialversicherungsträgern dergestalt, daß - falls der Tbc-Kranke sowohl kranken- als auch rentenversichert ist - der Träger der sozialen Krankenversicherung die ambulante, der Rentenversicherungsträger dagegen die stationäre Tbc-Heilbehandlung zu gewähren hat (BSGE 29, 87, 89 = SozR Nr. 11 zu § 1244 a RVO; BSGE 31, 122, 124; BSG Urteil vom 29.9.1976 - 3 RK 76/74 -). Ein nach dieser Zuständigkeitsregelung gegen den Rentenversicherungsträger gegebener Anspruch auf Gewährung der stationären Heilbehandlung entfällt jedoch nach § 1244 a Abs. 7 Satz 3 RVO i. V. m. § 130 BSHG, wenn der Tbc-Kranke wegen Geisteskrankheit, Geistesschwäche, Epilepsie oder wegen einer Suchtkrankheit auf öffentliche Kosten in Anstaltspflege untergebracht ist (BSGE 27, 280 = SozR Nr. 8 zu § 1244 a RVO; BSG SozR Nrn. 14, 34, 36 zu § 1244 a RVO). Diese Ausnahmeregelung ändert die grundlegende Zuständigkeitsregelung aber nicht zu Lasten der Krankenversicherung (BSG Urteil vom 29.9.1976 - 3 RK 25/75 -). Der Rentenversicherungsträger wird vielmehr von seiner Verpflichtung zur Tbc-Bekämpfung lediglich zu Lasten des für die Anstaltsunterbringung zuständigen öffentlichen Kostenträgers befreit. Das hat allerdings zur Folge, daß damit dem Versicherten ein an sich gegen den Rentenversicherungsträger gegebener Leistungsanspruch entgeht. Diese Folge rechtfertigt sich einmal daraus, daß im Rahmen der Tbc-Bekämpfung die Betreuung des Kranken stets in einer Hand liegen soll, weshalb zur Vermeidung von Kostenstreitigkeiten auch nur ein Kostenträger für sie in Betracht kommen kann (vgl. Begründung zu § 24 des Regierungsentwurfs einer THG, BT-Drucks. III 349 S. 19). Zum anderen handelt es sich bei den für die Tbc-Bekämpfung insgesamt aufzuwendenden Kosten letztlich immer um Gelder, deren Aufbringung an sich nicht zu den eigentlichen Aufgaben der sozialen Rentenversicherung gehört, die vielmehr im Rahmen der Volksseuchenbekämpfung von der öffentlichen Hand zur Verfügung gestellt werden müssen.
Diese Regelung für die Fälle der Unterbringung Tbc-Kranker in Anstaltspflege gilt nicht nur, wenn der Kranke ausschließlich auf öffentliche Kosten untergebracht ist. Wendet der Versicherte Eigenmittel auf, erfordert die Unterbringung jedoch (zusätzlich) den Einsatz öffentlicher Mittel, so müssen die gleichen Grundsätze gelten. Es kann dahinstehen, ob die Aufgaben- und Kostenverteilung nach § 1244 a Abs. 7 Satz 3 RVO dann keine Anwendung zu finden hat, wenn der Untergebrachte die Kosten der Anstaltspflege in vollem Umfang selbst trägt (vgl. BSG SozR Nr. 8 zu § 1244 a RVO), weil ein solcher Fall hier nicht vorliegt; der Eigenanteil der Versicherten - monatlich 66,60 bzw. 72,10 DM - an den Unterbringungskosten von damals monatlich 345,- bzw. 357,- DM war so gering, daß die H. weder als volle Selbstzahlerin angesehen noch einer solchen gleichgestellt werden kann. Der - geringe - Eigenbeitrag der Versicherten vermag nichts an der Anwendbarkeit der Regelung, die § 1244 a Abs. 7 Satz 3 RVO vorschreibt, zu ändern. Bereits die Anstaltsunterbringung - vor der Tbc-Behandlung - hatte im Verantwortungsbereich des Sozialhilfeträgers gelegen und war von ihm wegen der unerheblichen Eigenmittel der Versicherten im wesentlichen auf öffentliche Kosten durchgeführt worden. Auch nach dem Hinzutreten der Tbc-Erkrankung hatte die weitere Betreuung dem Sozialhilfeträger obgelegen. Für diese - kombinierte - Unterbringung und Tbc-Behandlung, die zutreffend in der psychiatrischen Tbc-Abteilung des Landeskrankenhauses erfolgt war, müssen schon nach den Grundsätzen, wie sie der 4. Senat des Bundessozialgerichts in dem Urteil vom 30. Juli 1975 in BSGE 40, 115, 116 entwickelt hat, die gleichen Finanzierungsgrundsätze gelten wie zuvor für die Unterbringung. Der 4. Senat hat darauf hingewiesen, daß der Wegfall des Heilbehandlungsanspruchs eines Tbc-Kranken gegen den Rentenversicherungsträger in den Fällen des § 1244 a Abs. 7 Satz 3 RVO dadurch begründet ist, daß der Rentenversicherungsträger bei Unterbringung in Anstaltspflege sein Recht und seine Pflicht nach Abs. 5 des § 1244 a RVO, über Art und Maß seiner Leistungen nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden, nicht ausüben kann. Da jeder Träger regelmäßig für die Kosten der von ihm eingeleiteten und durchgeführten Maßnahmen einzustehen haben soll, besteht keine Veranlassung, die Finanzierung einer kombinierten Unterbringung und Behandlung nach anderen Grundsätzen - etwa wie bei "Selbstzahlern" - zu gestalten. Nach Auffassung des erkennenden Senats bestünde in einem solchen Fall kein rechtlicher Grund dafür, daß der Rentenversicherungsträger die nicht differenzierten und auch nicht differenzierbaren Kosten der Kombinationsbehandlung übernähme, obwohl er auf die Betreuung des an Tbc leidenden Geisteskranken weiterhin keinen Einfluß hätte. Der Sozialhilfeträger würde in einem solchen Fall zwar weiterhin verantwortlich für die gesamte Betreuung (auch die medizinische) des Geisteskranken bleiben, wäre andererseits aber von der Kostenpflicht freigestellt; die Versicherte ihrerseits, die zu den Kosten der Unterbringung bisher die Waisenrente beigesteuert hatte, würde diesen Betrag ausgezahlt erhalten, obwohl die Unterbringung weiter andauerte. Eine solche völlige Veränderung der wirtschaftlichen Position aller Beteiligten entspräche weder den vom 4. Senat aaO entwickelten Grundsätzen, denen auch der erkennende Senat nach eigener Prüfung folgt - der Hinweis vom 27. Januar 1972 (vgl. SozR Nr. 25 zu § 1244 a RVO) verliert demgegenüber seine Bedeutung, zumal der 4. Senat in einem gleichgelagerten Fall im gleichen Sinn wie der erkennende Senat entschieden hat (vgl. SozR Nr. 12 zu § 1244 a RVO) -, noch ließe sie sich aus den sachlichen Gegebenheiten begründen. Vielmehr erfordert die Kontinuität der medizinisch-anstaltsmäßigen Betreuung gleicherweise die Kontinuität der finanziellen Lastenverteilung. Demgemäß beeinflußt der geringe Eigenbetrag der Versicherten nicht die Anwendbarkeit der sich aus § 1244 a Abs. 7 Satz 3 RVO ergebenden Regelung; er verändert nicht die grundsätzliche Kostentragungspflicht des Unterbringungsträgers, hier also des Klägers.
Nach alledem ist der Kläger der für diese Unterbringung zuständige Kostenträger. Er war deshalb verpflichtet, der an Geistesschwäche leidenden H. die Tbc-Heilbehandlung auf seine Kosten zu gewähren und kann daher weder von der beklagten AOK noch von der beigeladenen LVA Ersatz fordern. Das SG hat seine Klage zu Recht abgewiesen. Auf die Revision der Beklagten müssen aus diesem Grunde das angefochtene Urteil aufgehoben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen