Entscheidungsstichwort (Thema)
Abweichung von 5 Prozent. Änderung der Verhältnisse. Prüfung des Streitfalls durch das LSG. Streitgegenstand im Berufungsverfahren
Leitsatz (redaktionell)
Die Rechtsprechung des BSG, wonach ein Bescheid über die erste Feststellung der Dauerrente nicht schon deshalb rechtswidrig ist, wenn bei unstreitigen Unfallfolgen die der Bewertung zugrunde liegenden ärztlichen Schätzungen sich lediglich um 5 % unterscheiden und damit innerhalb der allen ärztlichen Schätzungen eigenen Schwankungsbreite liegen, ist nicht im Verhältnis zwischen den Gerichten anzuwenden.
Orientierungssatz
1. Eine Verschlimmerung der Unfallfolgen bedeutet erst dann eine wesentliche Änderung der Verhältnisse iS des RVO § 622 Abs 1, wenn sich dadurch der Grad der MdE um mehr als 5 vH erhöht (Anschluß an BSG 1971-03-02 2 RU 39/70 = BSGE 32, 245).
2. Nach SGG § 157 prüft das LSG den Streitfall im gleichen Umfang wie das SG. Das LSG hat danach nicht zu entscheiden, ob die Schätzung der MdE durch das SG hinsichtlich der zusätzlichen Unfallfolge zutreffend ist, sondern ihm obliegt es selbst festzustellen, in welchem Maße die Erwerbsfähigkeit des Klägers zusätzlich zu den bereits bestehenden Unfallfolgen gemindert ist. An die Schätzung des Grades der MdE durch das SG ist das LSG nicht gebunden.
3. Im Berufungsverfahren ist Streitgegenstand nicht das erstinstanzliche Urteil, sondern wie schon in der 1. Instanz, der Verwaltungsakt des Beklagten.
Normenkette
RVO § 622 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30; SGG § 157 Fassung: 1953-09-03
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 18.05.1977; Aktenzeichen L 2 Ua 394/75) |
SG Mannheim (Entscheidung vom 27.02.1975; Aktenzeichen S 3 U 68/74) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 18. Mai 1977 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Die Beklagte gewährte dem Kläger für die Folgen des Arbeitsunfalls vom 14. Mai 1971 durch Bescheid vom 21. Dezember 1973 ab 21. Februar 1972 eine Dauerrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 20 vH. Als Unfallfolgen wurden anerkannt: Zustand nach Durchtrennung des Mittelnerven im Bereich des rechten Handgelenkes mit Berührungsempfindlichkeit und Störung der Schweißabsonderung; Muskelminderung im Bereich des Mittelnerven, Herabsetzung der groben Kraft der rechten Hand; elektrisierende Mißempfindungen an der rechten Hand mit Gefühllosigkeit der Finger 1 bis 4.
Das Sozialgericht (SG) Mannheim hat diesen Bescheid geändert und die Beklagte verurteilt, dem Kläger ab 21. Februar 1972 eine Dauerrente nach einer MdE von 30 vH zu gewähren (Urteil vom 27. Februar 1975). Es hat sich dabei auf ein von ihm eingeholtes Gutachten des Facharztes für Nervenleiden Dr. Walter in Mannheim vom 19. Juli 1974 gestützt, wonach die unfallbedingte Schädigung des Mittelnerven der rechten Hand nicht nur motorische Ausfälle und eine Herabsetzung der Gefühlsqualität, sondern auch neuralgieforme Beschwerden verursache, die sich in einer funktionsstörenden Schmerzempfindlichkeit äußerten und dadurch eine MdE von 30 vH bedingten. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg das erstinstanzliche Urteil geändert und die Klage abgewiesen, soweit sie die Zeit bis zum 30. April 1974 betrifft; im übrigen hat es die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 18. Mai 1977). Nach Meinung des LSG sei die Schmerzempfindlichkeit, die zu einer Erhöhung des Grades der MdE auf 30 vH führe, erst für die Zeit ab 1. Mai 1974 bewiesen. Ob indessen eine MdE von 25 vH oder 30 vH angemessen sei, müsse unentschieden bleiben. Nachdem das SG eine MdE von 30 vH angenommen habe, als Alternative allenfalls eine MdE von 25 vH in Frage komme, sei es dem Senat verwehrt, von dem Urteil des SG abzuweichen. Denn es würde sich um eine nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) - bei gleichem Befund - unzulässige Abweichung um nur 5 vH handeln. Dieses Abweichungsverbot gelte, da es auf der grundsätzlichen Unmöglichkeit beruhe, die MdE exakt anzugeben, im Verhältnis zwischen den Gerichten ebenso wie im Verhältnis zum Versicherungsträger. Für die Zeit vor dem 1. Mai 1974 sei eine höhere Verletztenrente dagegen nicht gerechtfertigt.
Auf die Beschwerde der Beklagten hat das BSG die Revision durch Beschluß vom 21. Dezember 1977 zugelassen.
Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt und im wesentlichen wie folgt begründet: Die Entscheidung des LSG beruhe auf einem Denkfehler. Vom LSG sei nicht zu prüfen gewesen, ob und unter welchen Voraussetzungen von der erstinstanzlichen Entscheidung abgewichen werden könne, sondern es sei darum gegangen, ob eine wesentliche Änderung im Zustand der Unfallfolgen des Klägers eingetreten sei und eine neue Feststellung nach § 622 Abs 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) zu erfolgen hatte. Aber gerade darauf sei das LSG nicht eingegangen. In Verkennung der entscheidungserheblichen Frage habe das LSG die eingeholten Gutachten im Hinblick auf die Höhe der MdE nicht ausreichend gewürdigt. Prof. Dr. Dr. M habe die MdE in seinem Gutachten vom 3. März 1977 auf 25 vH geschätzt. Als wesentlich sei eine Änderung der Erwerbsfähigkeit in der Regel nur anzusehen, wenn sie mehr als 5 vH betrage. Da in dem angefochtenen Bescheid die MdE mit 20 vH festgesetzt worden sei, handele es sich vorliegend, sofern dem Gutachten des Prof. Dr. Dr. M gefolgt werde, um keine wesentliche Änderung iS des § 622 Abs 1 RVO. Im übrigen hätte das LSG die Rente auch nicht ab 1. Mai 1974 zuerkennen dürfen, weil der Kläger an diesem Tage wegen Unfallfolgen arbeitsunfähig gewesen sei und Verletztengeld bezogen habe (§ 622 Abs 3 RVO). Eine höhere Rente sei allenfalls ab 2. Mai 1974 in Betracht gekommen.
Die Beklagte beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils auf Klageabweisung zu erkennen,
hilfsweise
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Der Kläger hat sich nicht geäußert.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist.
Das LSG hat den Bescheid der Beklagten vom 21. Dezember 1973 hinsichtlich der Gewährung einer Rente ab 21. Februar 1973 nach einer MdE von 20 vH als rechtmäßig bestätigt, und zwar für die Zeit bis zum 30. April 1974. Die Klage auf Gewährung einer höheren Rente für diese Zeit hat es abgewiesen. Für die Zeit danach, nämlich ab 1. Mai 1974, hat das LSG, wie zuvor schon das SG, eine Rente nach einer MdE von 30 vH für gerechtfertigt gehalten und die Berufung der Beklagten gegen die insoweit erfolgte Änderung des Bescheides vom 21. Dezember 1973 und Verurteilung zur Gewährung einer Rente nach einer MdE von 30 vH zurückgewiesen.
Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG war für die Rente nach einer MdE von 30 vH maßgebend, daß als weitere Unfallfolge eine von Dr. W beschriebene funktionsstörende Schmerzempfindlichkeit der rechten Hand aufgetreten war. Das LSG hat diese neue Gesundheitsstörung für die Zeit ab 1. Mai 1974 als erwiesen angesehen. Vom LSG war somit zu entscheiden, ob sich durch diese später aufgetretene unfallbedingte Gesundheitsstörung die für die Feststellung der Dauerrente durch Bescheid vom 21. Dezember 1973 maßgebend gewesenen Verhältnisse wesentlich geändert haben. Nur unter dieser Voraussetzung konnte für die Zeit ab 1. Mai 1974 nach § 622 Abs 1 RVO eine neue Feststellung getroffen werden. Dabei war vom LSG zu beachten, daß eine Verschlimmerung der Unfallfolgen erst dann eine wesentliche Änderung der Verhältnisse iS des § 622 Abs 1 RVO bedeutet, wenn sich dadurch der Grad der MdE um mehr als 5 vH erhöht(BSGE 32, 245).
Das LSG hat die Schätzung des Grades der MdE durch die neu hinzugetretene funktionsstörende Schmerzempfindlichkeit nicht selbst vorgenommen, sondern rechtsirrtümlich angenommen, von der Schätzung des SG - dieses hatte die von der Beklagten festgesetzte MdE wegen der funktionsstörenden Schmerzempfindlichkeit um 10 vH höher mit insgesamt 30 vH bewertet - nicht abweichen zu dürfen. Nach § 157 Sozialgerichtsgesetz (SGG) prüft jedoch das LSG den Streitfall im gleich Umfang wie das SG. Das LSG hatte danach nicht zu entscheiden, ob die Schätzung der MdE durch das SG hinsichtlich der ab 1. Mai 1974 aufgetretenen zusätzlichen Unfallfolge zutreffend ist, sondern ihm oblag es selbst festzustellen, in welchem Maße die funktionsstörende Schmerzempfindlichkeit die Erwerbsfähigkeit des Klägers zusätzlich zu den bereits bestehenden Unfallfolgen minderte. Wäre es zu dem Ergebnis gekommen, daß der Grad der bisher festgesetzten MdE durch die neu hinzugetretene Unfallfolge um mehr als 5 vH gestiegen ist, hätte es eine wesentliche Änderung der Verhältnisse iS des § 622 Abs 1 RVO bejahen und die Rente ab 1. Mai 1974 neu feststellen können; andernfalls wäre eine Neufeststellung abzulehnen gewesen. An die Schätzung des Grades der MdE durch das SG war das LSG nicht gebunden. Offensichtlich hat das LSG die Rechtsprechung des BSG mißverstanden, wonach ein Bescheid über die Feststellung der ersten Dauerrente nicht schon deshalb rechtswidrig ist, wenn bei unstreitigen Unfallfolgen die der Bewertung zugrunde liegenden ärztlichen Schätzungen sich lediglich um 5 vH unterscheiden und damit innerhalb der allen ärztlichen Schätzungen eigenen Schwankungsbreite liegen (BSGE 41, 99, 101). Im Berufungsverfahren ist Streitgegenstand nicht das erstinstanzliche Urteil, das etwa vom LSG auf seine Richtigkeit hin zu überprüfen wäre, sondern, wie schon in der ersten Instanz, der Verwaltungsakt der Beklagten (Bescheid vom 21. Dezember 1973). Ihn hatte das LSG nachzuprüfen und, falls es eine Verschlechterung der Unfallfolgen durch ein neu hinzugetretenes unfallbedingtes Leiden feststellt, wodurch die bisherige MdE um mehr als 5 vH zusätzlich gemindert wird, dem Kläger die von ihm begehrte höhere Rente zuzusprechen.
Da das LSG aufgrund seiner abweichenden Rechtsauffassung keine Feststellungen darüber getroffen hat, in welchem Maße der Kläger durch die neue hinzugetretene unfallbedingte funktionsstörende Schmerzempfindlichkeit der rechten Hand in seiner Erwerbsfähigkeit gemindert wird, diese Feststellungen durch das Revisionsgericht auch nicht nachgeholt werden können, mußte das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden, damit dieses die erforderlichen Feststellungen trifft. Dabei hat das LSG auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.
Soweit die Beklagte im Revisionsverfahren vorträgt, daß der Kläger eine höhere Rente frühestens ab 2. Mai 1974 beanspruchen könne, weil sie ihm für den 1. Mai 1974 Verletztengeld gezahlt hat (§ 622 Abs 3 RVO), handelt es sich um ein neues tatsächliches Vorbringen, das im Revisionsverfahren nicht berücksichtigt werden kann. Die Beklagte hat jedoch Gelegenheit, ihren Sachvortrag nach Zurückverweisung beim Berufungsgericht zu ergänzen.
Fundstellen