Entscheidungsstichwort (Thema)
Erfordernis des Vorverfahrens. Umdeutung von Prozeßhandlungen
Leitsatz (amtlich)
Hat der Unfallversicherungsträger über die Höhe des der Rentenberechnung zugrunde zu legenden Jahresarbeitsverdienstes eine Ermessensentscheidung getroffen, ist der Bescheid vor Erhebung der Anfechtungsklage in einem Vorverfahren nachzuprüfen (Fortentwicklung von BSG 1974-05-28 2/8/2 RU 118/72 = BSGE 37, 267).
Orientierungssatz
1. Ob ein Beteiligter, statt das Vorverfahren durchzuführen, nach seiner Wahl unmittelbar gegen einen Verwaltungsakt Klage erheben darf, hängt davon ab, welchen Inhalt der dem Beteiligten erteilte Verwaltungsakt (Bescheid) hat. War der Versicherungsträger durch das Gesetz gezwungen, die Leistung so zu gewähren, wie er sie gewährt hat, betrifft der Verwaltungsakt eine Leistung, auf die ein Rechtsanspruch besteht. Ist es zwar nicht seinem Ermessen überlassen, ob er die Leistung überhaupt gewähren will, kann er aber gleichwohl durch eigene Willensentschließung bestimmen, in welcher Höhe er sie gewährt, handelt es sich um eine Ermessensentscheidung, die eine sofortige Klage ausschließt und zunächst die Durchführung des Vorverfahrens erfordert. Nach SGG § 78 Abs 2 S 1 ist die Anfechtungsklage wahlweise ohne Vorverfahren somit nur dann zulässig, wenn der Verwaltungsakt, dessen Aufhebung oder Abänderung begehrt wird, keine vom Ermessen des Versicherungsträgers beeinflußte Leistung betrifft.
2. Zur Umdeutung von Prozeßhandlungen in Vorgänge des Vorverfahrens (Klage in Widerspruch und Klageerwiderung in Widerspruchsbescheid).
Normenkette
SGG § 78 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1974-07-30; RVO § 570 Fassung: 1963-04-30, § 571 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1963-04-30, § 577 Fassung: 1963-04-30; SGG § 78 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1974-07-30
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 16.12.1976; Aktenzeichen L 7 U 42/76) |
SG Stuttgart (Entscheidung vom 05.12.1975; Aktenzeichen S 3 U 1876/74) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 16. Dezember 1976 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Die Beklagte gewährte dem Kläger, der italienischer Staatsbürger ist und in der Bundesrepublik Deutschland arbeitete, wegen der Folgen eines am 8. April 1971 erlittenen Arbeitsunfalls vom 26. Juli 1971 bis 28. Februar 1973 Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 20 vH (Bescheid vom 28. Mai 1974). Der Rente legte die Beklagte einen Jahresarbeitsverdienst (JAV) von 11.484,- DM zugrunde. Die Berechnung erfolgte nach der Verfügung Nr 11/72 der Beklagten "Betr.: Festsetzung des Jahresarbeitsverdienstes für Gastarbeitnehmer, die zum Zeitpunkt des Unfalls bereits ein Jahr oder noch länger in Deutschland beschäftigt waren". Danach war, wenn der Verletzte im Jahr vor dem Unfall zeitenweise nicht gearbeitet und sich im Heimatland aufgehalten hatte, zu klären, ob er dort eine Tätigkeit ausgeübt hatte. Für den Fall, daß der Verletzte während des Aufenthaltes in der Heimat keine Tätigkeit ausgeübt und daß er von seinem deutschen Arbeitgeber unbezahlten Urlaub gehabt hatte, war in Ziff 4 dieser Verordnung angeordnet: "Es ist zunächst das im Jahr vor dem Unfall in Deutschland erzielte Arbeitseinkommen zu ermitteln. Sodann ist festzustellen, wie hoch der Verdienst im Jahr vor dem Unfall bei tariflicher Arbeitszeit und bei vom Arbeitgeber bestätigtem Stundenlohn gewesen wäre. Dieser so über § 577 Reichsversicherungsordnung (RVO) ermittelte Verdienst ist dem tatsächlich erzielten Arbeitseinkommen gegenüberzustellen und der jeweils höhere Betrag als JAV festzusetzen". Die zur Festsetzung des JAV durchgeführten Ermittlungen der Beklagten hatten ergeben, daß der Kläger im Jahr vor dem Unfall vom 21. April bis 31. Dezember 1970 und vom 2. bis 7. April 1971 bei der Firma F in M gearbeitet hatte. Vom 8. bis 20. April 1970 und vom 1. Januar bis 1. April 1971 war er in I bei dem Arbeitsamt L als arbeitslos gemeldet. Die Vergleichsberechnung nach der Verfügung Nr 11/72 der Beklagten ergab, daß der Kläger bei dem von der Firma F bestätigten Stundenlohn von 5,50 DM und bei tariflicher Arbeitszeit im Jahr vor dem Unfall 11.484,- DM verdient haben würde. Dieser Betrag, der höher war als das tatsächlich erzielte Arbeitseinkommen von 8.585,83 DM wurde der Rentenberechnung als JAV zugrunde gelegt.
Dagegen hat sich der Kläger mit der bei dem Sozialgericht (SG) Stuttgart erhobenen Klage gewandt. Er hat vorgetragen, daß dem von der Firma F bescheinigten tatsächlichen Arbeitseinkommen von 8.585,83 DM nach § 571 Abs 1 Satz 2 RVO zwei Teilbeträge von 356,40 DM und von 2.860,- DM hinzuzurechnen seien, so daß sich ein JAV von 11.802,23 DM ergebe. Im April 1970 habe er einen Stundenlohn von 4,95 DM gehabt. In der Zeit vom 8. bis 20. April 1970 hätte er an neun Arbeitstagen (72 Arbeitsstunden á 4,95 DM) 356,40 DM verdienen können. Danach habe er einen Stundenlohn von 5,50 DM gehabt. In der Zeit vom 1. Januar bis 1. April 1971 hätte er (520 Arbeitsstunden á 5,50 DM) 2.860,- DM verdienen können. Die Beklagte hat demgegenüber vorgetragen, daß Zeiten eines unbezahlten Urlaubs nicht durch ein fiktives Arbeitseinkommen nach § 571 Abs 1 Satz 2 RVO auszufüllen seien. Bei Gastarbeitern, die regelmäßig unbezahlten Urlaub hätten, könne von einer Herabsetzung des üblichen Lebensstandards durch solche Fehlzeiten nicht die Rede sein. Auf Veranlassung des SG hat der Kläger die Aufrechnungsbescheinigung der Versicherungskarte Nr 1 der Landesversicherungsanstalt (LVA) Württemberg vorgelegt. Aus ihr geht hervor, daß er vom 22. Februar bis 20. November 1965, vom 28. März bis 5. Oktober 1966, vom 25. März bis 18. Dezember 1968 und vom 1. April bis 31. Dezember 1969 in der Bundesrepublik Deutschland gearbeitet hatte.
Das SG hat die Klage abgewiesen und die Berufung zugelassen (Urteil vom 5. Dezember 1975). Zur Begründung hat es ausgeführt: Die Zurechnung eines fiktiven Arbeitseinkommens nach § 571 Abs 1 Satz 2 RVO sei im vorliegenden Fall nicht nur unbillig, sondern falsch, da der Kläger in den fünf Jahren vor dem Unfall nicht in einem einzigen Jahr voll gearbeitet, sondern stets ca drei Monate unbezahlten Urlaub gehabt habe. Grundlage seiner Lebenshaltung sei über Jahre hinweg das in neun Monaten erzielte Arbeitseinkommen gewesen. Die von der Beklagten vorgenommene Berechnungsweise, die den Kläger noch besser stelle, als es seinen konkreten Umständen und Verhältnissen angemessen sei, könne hingenommen werden. Das Verlangen des Klägers nach einem höheren JAV sei unbegründet.
Der Kläger hat sein Klagebegehren mit der Berufung an das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg weiterverfolgt und vorgetragen, daß das SG in seiner Entscheidung auf § 577 RVO abgestellt habe, obwohl der JAV von der Beklagten ganz offensichtlich nicht nach dieser Vorschrift berechnet worden sei. Die Feststellung des JAV nach § 577 RVO sei eine Ermessensentscheidung des Versicherungsträgers, so daß ein Vorverfahren erforderlich gewesen wäre. Die Rechtsmittelbelehrung des angefochtenen Bescheides enthalte keinen entsprechenden Hinweis, was den zwingenden Schluß erlaube, daß der JAV nicht nach billigem Ermessen gemäß § 577 RVO, sondern unter Umgehung der zwingenden Vorschrift des § 571 RVO festgestellt worden sei. Die Anwendung des § 577 RVO setze überdies voraus, daß der JAV zuvor nach § 571 Abs 1 Satz 2 RVO errechnet werde. Das habe die Beklagte unterlassen, was ebenfalls zeige, daß es ihr gar nicht um die Feststellung nach billigem Ermessen gegangen sei. Es komme daher nur die Berechnung nach § 571 Abs 1 Satz 2 RVO in Betracht. Dies ergebe einen Betrag von 11.802,23 DM. Das LSG hat die Berufung zurückgewiesen und die Revision zugelassen (Urteil vom 16. Dezember 1976). Zur Begründung hat es ausgeführt: Die Beklagte habe den JAV nach billigem Ermessen feststellen können, denn der nach § 571 Abs 1 Satz 2 RVO berechnete JAV sei in erheblichem Maße unbillig. Die Ausübung des Ermessens sei sachgerecht, ein Ermessensfehler nicht erkennbar. Der Auffassung der Beklagten, daß Zeiten, in denen der Kläger aus freien Stücken nicht gearbeitet und daher kein Arbeitseinkommen bezogen habe, grundsätzlich nicht mit fiktivem Einkommen nach § 571 Abs 1 Satz 2 RVO auszufüllen seien, könne in dieser Allgemeinheit nicht gefolgt werden. Der Gesetzgeber habe in dieser Vorschrift nicht zwischen freiwilligem und unfreiwilligem Einkommensausfall unterschieden. Mit § 571 Abs 1 Satz 2 RVO sei eine generelle Regelung getroffen worden, die grundsätzlich alle Zeiten eines Einkommensausfalles umfasse, auch solche freiwilliger Art, die unter Umständen durch wichtige Gründe bedingt sein könnten. Ein Abweichen von dieser generellen Regelung sei nur möglich, wenn im Einzelfall die Voraussetzungen des § 577 RVO gegeben seien, dh, wenn der nach § 571 Abs 1 Satz 2 RVO errechnete JAV in erheblichem Maße unbillig sei. Der Kläger habe seit der Arbeitsaufnahme in der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1965 und auch im Jahr vor dem Unfall regelmäßig nur jeweils ca neun Monate im Jahr gearbeitet. Falls ein fiktiver Verdienst nach § 571 Abs 1 Satz 2 RVO für die Ausfallzeiten dazugerechnet werden würde, würde der Unfallrente ein JAV zugrunde gelegt, den der Kläger in der Vergangenheit niemals erreicht gehabt hat und den er wahrscheinlich auch in der Zukunft nicht erreicht haben würde. Dieses Ergebnis wäre unbillig. Der Kläger wäre ohne sachlichen Grund besser gestellt als andere Versicherte, die regelmäßig das ganze Jahr über arbeiten und nur ausnahmsweise im Jahr vor dem Unfall zeitweise ohne Arbeitseinkommen waren. Daher könne dahingestellt bleiben, ob die mehrmonatige Arbeitspause in den Wintermonaten den Interessen der Bauwirtschaft entspreche. Den Interessen der Versicherten, auf die es hier allein ankomme, laufe ein solches Verhalten jedoch zuwider. Nun führe allerdings nicht jede Unbilligkeit dazu, daß der Versicherungsträger den JAV nach billigem Ermessen feststellen dürfe. Vielmehr müsse die im konkreten Einzelfall nach § 571 Abs 1 Satz 2 RVO durchgeführte Berechnung zu dem Ergebnis führen, das in erheblichem Maße unbillig ist. Dies sei hier der Fall. Der Kläger habe seit 1965 fortlaufend nur ca neun Monate im Jahr gearbeitet. Im Jahr vor dem Arbeitsunfall betrug die Differenz zwischen dem tatsächlich erzielten Arbeitseinkommen von 8.585,83 DM und dem vom Kläger errechneten fiktiven Arbeitseinkommen von 11.802,23 DM mehr als ein Drittel des tatsächlich erzielten Arbeitseinkommens, nämlich 3.216,40 DM. Es könne dahingestellt bleiben, wie die Grenzen im einzelnen abzustecken seien und wann im Einzelfall eine erhebliche Unbilligkeit bei der Errechnung des JAV nach § 571 Abs 1 Satz 2 RVO anzunehmen sei. Jedenfalls müsse bei einem Gastarbeiter, der mehrere Jahre lang regelmäßig unbezahlten Urlaub gehabt habe, die Berechnung dann als erheblich unbillig angesehen werden, wenn die Ausfallzeit sowohl im Jahr vor dem Unfall als auch in den Jahren zuvor ca drei Monate und mehr betragen habe und wenn das tatsächlich erzielte Arbeitseinkommen um mehr als ein Drittel angehoben werden müßte, um das fiktive Arbeitseinkommen zu erreichen. Die Beklagte habe daher den JAV zu Recht nach § 577 RVO festgestellt.
Die Auffassung des Klägers, aus der Rechtsmittelbelehrung des angefochtenen Bescheides ergebe sich nicht, daß die Beklagte eine Ermessensentscheidung habe treffen wollen, sei nicht richtig. Ein Widerspruchsverfahren sei nach dem bis zum 31. Dezember 1974 geltenden § 79 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohnehin nicht erforderlich gewesen. Der angefochtene Bescheid habe Unfallrente betroffen, also eine Leistung, auf die der Kläger einen Rechtsanspruch habe. Die Beklagte habe lediglich einen Beurteilungsspielraum hinsichtlich der Voraussetzungen ihres Handelns - nämlich in Bezug auf die Höhe des JAV -, jedoch kein Ermessen in Bezug auf den ganzen Anspruch gehabt. Im übrigen ergebe sich aus Ziff 4 der Verfügung Nr 11/72 der Beklagten, die der Feststellung des JAV zugrunde gelegen habe, daß die Beklagte nach § 577 RVO habe ermitteln wollen. Bei der Feststellung des JAV habe die Beklagte ihr Ermessen sachgerecht ausgeübt. Sie habe den Kläger so gestellt, als ob er während des ganzen Jahres vor dem Unfall gearbeitet hätte, allerdings ohne Überstunden zu berücksichtigen.
Dagegen hat der Kläger die vom LSG zugelassene Revision eingelegt und sie wie folgt begründet: Er sei weiterhin der Auffassung, daß der JAV zunächst grundsätzlich nach § 571 RVO festgestellt werden müsse, bevor der Versicherungsträger die Möglichkeit einer Feststellung nach § 577 RVO prüfen könne. Das sei im vorliegenden Fall nicht geschehen. Bei der Berechnung des JAV nach § 571 Abs 1 Satz 2 RVO ergebe sich ein Betrag von 11.802,23 DM. Dieser Betrag sei nur geringfügig höher als der von der Beklagten ermittelte Betrag von 11.484,- DM, so daß von einer erheblichen Unbilligkeit nicht gesprochen werden könne. Der von der Beklagten ermittelte Betrag beruhe auf einer unzulässigen Umgehung des § 571 RVO und sei demnach nicht rechtsfehlerfrei festgestellt worden. Bei der Frage nach der Berücksichtigung von Ausfallzeiten während der Wintermonate handele es sich um ein spezifisches Problem des Baugewerbes. Zeiten unbezahlten Urlaubs während der Wintermonate lägen in erheblichem Interesse des jeweiligen Arbeitgebers, da diese in der Regel nicht ihren ganzen Personalbestand ganzjährig beschäftigen können. Es könne daher nicht grundsätzlich unbillig sein, wenn die Arbeitgeber mit ihren Beiträgen zur gesetzlichen Unfallversicherung auch zu Zeiten herangezogen würden, zu denen der Verletzte unbezahlten Urlaub gehabt habe.
Der Kläger beantragt,
die Urteile des LSG Baden-Württemberg vom 16. Dezember 1976 und des SG Stuttgart vom 5. Dezember 1975 aufzuheben sowie die Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 28. Mai 1974 zu verurteilen, die Verletztenrente nach einem JAV von 11.802,23 DM festzustellen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Sie trägt vor, sie sei im Gegensatz zum LSG der Auffassung, daß Zeiten, in denen der Versicherte von vornherein - alljährlich - aus freien Stücken nicht arbeite und daher kein Arbeitseinkommen erzielt habe, nicht mit einem fiktiven Einkommen nach § 571 Abs 1 Satz 2 RVO auszufüllen seien. Denn mit dieser Vorschrift bezwecke der Gesetzgeber, zufällige und vorübergehende Verdienstausfälle auszugleichen, um zu verhindern, daß der niedrige Lebensstandard zum Maßstab für die Gesamtlaufzeit der Rente gemacht werde. Wenn jedoch jemand von vornherein regelmäßig einen unbezahlten Urlaub einkalkuliere, weil das in der übrigen Zeit erzielte, meist noch durch Überstunden erhöhte Einkommen seinem Lebensstandard auf das ganze Jahr bezogen entspreche, dann könne § 571 Abs 1 Satz 2 RVO nicht dazu herangezogen werden, den Einkommensausfall auszugleichen, weil ein Einkommensausfall im eigentlichen Sinne nicht vorliege. Soweit das LSG die Auffassung vertreten habe, es seien auf jeden Fall zunächst die Zeiten vom 8. bis 20. April 1970 und vom 1. Januar bis 1. April 1971 mit fiktivem Einkommen auszufüllen, werde diese Auslegung nicht durch den vom Gesetzgeber gewollten Sinn und Zweck des § 571 RVO getragen. Es hätte durchaus ohne weiteres das vom Kläger tatsächlich erzielte Einkommen von 8.585,83 DM der Rentenberechnung zugrunde gelegt werden können. Unerheblich sei, daß der Kläger sich am 13. Januar 1970 und am 11. Januar 1971 bei dem Arbeitsamt in L habe eintragen lassen. Der Kläger sei gar nicht arbeitslos gewesen, denn er habe in Deutschland eine Arbeitsstelle gehabt und es sei nicht seine Absicht gewesen, sich während des unbezahlten Urlaubs Arbeit zu suchen. Selbst wenn der Auffassung des LSG gefolgt werde, sei die im Rahmen des § 577 RVO erfolgte Berechnung des JAV nicht zu beanstanden. Die erhebliche Unbilligkeit ergebe sich aus der Differenz zwischen dem tatsächlich erzielten Arbeitseinkommen des Klägers im Jahr vor dem Unfall von 8.585,83 DM und dem vom Kläger errechneten fiktiven Einkommen von 11.802,23 DM. Ein nach § 571 Abs 1 Satz 2 RVO errechneter JAV sei schon dann in erheblichem Maße unbillig, wenn das tatsächlich erzielte Einkommen um mehr als 5 % erhöht werden müsse.
Entscheidungsgründe
Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten sich damit einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs 2 SGG).
Die Revision des Klägers ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen war.
Das LSG durfte nicht in der Sache selbst entscheiden, da es an der Prozeßvoraussetzung des durchgeführten Vorverfahrens mangelt.
Ohne Durchführung des gesetzlich vorgeschriebenen Vorverfahrens darf ein Sachurteil nicht ergeben. Das Fehlen des gesetzlich vorgeschriebenen Vorverfahrens stellt einen von Amts wegen zu berücksichtigenden Verfahrensmangel dar. Die Beteiligten können auf die Durchführung des Vorverfahrens auch nicht verzichten (BSGE 3, 293, 297; 8, 3, 9; 16, 21, 23; 17, 153, 156; 19, 164, 167). Ein Vorverfahren war sowohl nach den bei Erlaß des Bescheides vom 28. Mai 1974 geltenden Vorschriften als auch nach den seither in Kraft getretenen Vorschriften durchzuführen. Nach § 79 Nr 1 SGG in der bis zum Inkrafttreten des Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes vom 30. Juli 1974 (BGBl I 1625) am 1. Januar 1975 geltenden Fassung fand ein Vorverfahren statt, wenn mit der Klage die Aufhebung eines Verwaltungsaktes begehrt wurde, der nicht eine Leistung betraf, auf die ein Rechtsanspruch bestand. Danach waren nicht nur solche Verwaltungsakte vorverfahrenspflichtig, die eine Ermessensleistung zum Gegenstand hatten, sondern alle Verwaltungsakte, die eine Ermessensentscheidung betrafen; es genügte, daß der Versicherungsträger in einer irgendwie gearteten Form sein Ermessen ausgeübt hatte (BSGE 3, 209, 215; 7, 292, 293; 37, 267, 268; SozR Nrn 14 und 16 zu § 79 SGG). An dieser Rechtslage knüpft der seit dem 1. Januar 1975 geltende § 78 SGG an, der in Fällen der hier vorliegenden Art vor Erhebung der Klage ebenfalls die Durchführung eines Vorverfahrens verlangt. Nach § 78 Abs 1 Satz 1 SGG sind vor Erhebung der Anfechtungsklage Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit des Verwaltungsaktes in einem Vorverfahren nachzuprüfen. Eine der in § 78 Abs 1 Satz 2 SGG bezeichneten Ausnahmen, bei deren Vorliegen es eines Vorverfahrens nicht bedarf, ist hier nicht gegeben. Nach § 78 Abs 2 Satz 1 SGG ist in Angelegenheiten der Unfallversicherung die Anfechtungsklage wahlweise auch ohne Vorverfahren zulässig, wenn die Aufhebung oder Abänderung eines Verwaltungsaktes begehrt wird, auf die ein Rechtsanspruch besteht. Auch nach dieser Vorschrift ist ebenso wie nach § 79 Nr 1 SGG aF die unmittelbare Klageerhebung ausgeschlossen, sofern der Versicherungsträger in dem angefochtenen Verwaltungsakt sein Ermessen ausgeübt hat (vgl Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, § 78 Anm 5 c; Miesbach/Ankenbrank/Hennig/Danckwerts, SGG, § 78 Anm 7; Peters, Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil, § 39 Anm 5; Wannagat, Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil, § 39 Anm 3).
Ob ein Beteiligter, statt das Vorverfahren durchzuführen, nach seiner Wahl unmittelbar gegen einen Verwaltungsakt Klage erheben darf, hängt hiernach davon ab, welchen Inhalt der dem Beteiligten erteilte Verwaltungsakt (Bescheid) hat. War der Versicherungsträger durch das Gesetz gezwungen, die Leistung so zu gewähren, wie er sie gewährt hat, betrifft der Verwaltungsakt eine Leistung, auf die ein Rechtsanspruch besteht. Ist es zwar nicht seinem Ermessen überlassen, ob er die Leistung überhaupt gewähren will, kann er aber gleichwohl durch eigene Willensentschließung bestimmen, in welcher Höhe er sie gewährt, handelt es sich um eine Ermessensentscheidung, die eine sofortige Klage ausschließt und zunächst die Durchführung des Vorverfahrens erfordert. Nach § 78 Abs 2 Satz 1 SGG ist die Anfechtungsklage wahlweise ohne Vorverfahren somit nur dann zulässig, wenn der Verwaltungsakt, dessen Aufhebung oder Abänderung begehrt wird, keine vom Ermessen des Versicherungsträgers beeinflußte Leistung betrifft.
Der Bescheid der Beklagten vom 28. Mai 1974, mit dem sie dem Kläger für begrenzte Zeit eine Verletztenrente gewährte, betraf keine Leistung auf die iS des § 78 Abs 2 Satz 1 SGG ein Rechtsanspruch bestand. Ein Rechtsanspruch bestand nur insofern, als der Kläger wegen der Folgen des Unfalls, die seine Erwerbsfähigkeit vorübergehend um wenigstens ein Fünftel minderten, nach den §§ 547, 581 Abs 1 Nr. 2 RVO Anspruch auf Verletztenrente hatte; dies war nicht dem Ermessen der Beklagten überlassen. Die Beklagte hat jedoch hinsichtlich der Höhe der bei einer unfallbedingten MdE von 20 vH zu gewährende Rente, die zu den nach dem JAV zu berechnenden Geldleistungen gehört (§ 570 RVO), eine Ermessensentscheidung getroffen. Für Zeiten, in denen der Kläger im Jahr vor dem Unfall kein Arbeitseinkommen bezog, weil er zeitweise nicht erwerbstätig war (unbezahlter Urlaub), hat die Beklagte nicht gemäß § 571 Abs 1 Satz 2 RVO idF bis zum Inkrafttreten des Sozialgesetzbuches - Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung - vom 23. Dezember 1976 (BGBl I 3845) das Arbeitseinkommen zugrunde gelegt, das durch eine Tätigkeit erzielt wird, die der letzten Tätigkeit des Klägers vor diesen Zeiten entsprach. Sie vertrat und vertritt vielmehr die Auffassung, daß Zeiten, in denen der Versicherte von vornherein - alljährlich - aus freien Stücken nicht arbeite und daher kein Arbeitseinkommen erziele, nicht mit einem fiktiven Einkommen nach § 571 Abs 1 Satz 2 RVO auszufüllen seien. Die Beklagte legte der Berechnung der Rente des Klägers als JAV aber auch nicht den Betrag von 8.585,83 DM zugrunde, den der Kläger im Jahr vor dem Unfall, wenn auch unterbrochen durch Zeiten unbezahlten Urlaubs, als Arbeitseinkommen erzielt hat. Vielmehr verfuhr sie nach ihrer Verfügung Nr 11/72 und errechnete ein fiktives Arbeitseinkommen des Klägers aufgrund des vom Arbeitgeber bestätigten Stundenlohnes von 5,50 DM und tariflicher Arbeitszeit von acht Stunden an fünf Tagen in der Woche für insgesamt 216 Tage in Höhe von 11.484,- DM. Diesen, unter Anwendung des § 577 RVO ermittelten Betrag, legte sie der Rentenberechnung als JAV zugrunde. Danach betraf der vom Kläger angefochtene Bescheid vom 28. Mai 1974 eine Leistung, deren Feststellung der Höhe nach auf einem Ermessen beruhte.
Das aus diesem Grunde gemäß § 78 Abs 1 Satz 1 SGG erforderliche Vorverfahren ist nicht entbehrlich, weil die Beklagte im Prozeß an ihrer angefochtenen Entscheidung festgehalten hat; dies ist jedenfalls dann nicht der Fall, wenn - wie in Angelegenheiten der Sozialversicherung (§ 85 Abs 2 Nr 2 SGG) - Widerspruchsbehörde und Versicherungsträger nicht identisch sind (BSGE 8, 3, 10; 20, 199, 200). Weder aus der Wahlmöglichkeit zwischen Widerspruch und Klage nach § 78 Abs 2 Satz 1 SGG noch aus der Befugnis der Widerspruchsstelle, mit vorheriger schriftlicher Zustimmung des Widerspruchsführers den Widerspruch dem zuständigen SG als Klage zuzuleiten, falls in Angelegenheiten der Sozialversicherung die Widerspruchsstelle dem Widerspruch nicht stattgeben will (§ 85 Abs 4 SGG), darf gefolgert werden, daß bei der Gesetzesanwendung rechtsförmliche und dogmatische Bedenken gegen eine Umdeutung von Prozeßhandlungen in Vorgänge des Vorverfahrens weitgehend zurückgestellt werden sollen und die Unterscheidung von Widerspruch und Klage sowie von Widerspruchsbescheid und Klageerwiderung in einem weniger strengen Licht erscheinen (vgl BSG Urteil vom 29. März 1977 - 9 RV 2/76 - in Die Praxis 1977, 382; ähnlich auch BSG Urteil vom 2. August 1977 - 9 RV 102/76 - in SGb 1978, 159); Verwaltungsakte der Träger der Unfallversicherung, die über Leistungen unter Ausübung des Ermessens entscheiden, waren nach § 79 Nr 1 SGG aF und sind nach § 78 Abs 1 Satz 1 SGG vor Erhebung der Klage in einem Vorverfahren nachzuprüfen. Daran hat sich durch das Gesetz vom 30. Juli 1974 (aaO) nichts geändert. Lediglich für den Fall, daß die Nachprüfung durch die Widerspruchsstelle zu dem Ergebnis geführt hat, daß dem Widerspruch nicht stattgegeben werden kann, ist die Widerspruchsstelle mit vorheriger schriftlicher Zustimmung des Klägers nach § 85 Abs 4 SGG ermächtigt, den Widerspruch dem zuständigen SG als Klage zuzuleiten. Gegenüber der früheren Rechtslage ist damit - aber auch nur in Angelegenheiten der Sozialversicherung - die Widerspruchsstelle lediglich der Verpflichtung enthoben, in jedem Fall, in dem sie dem Widerspruch nach Prüfung nicht stattgeben will, gemäß § 85 Abs 2 SGG auch noch den Widerspruchsbescheid zu erlassen. Der von dem Gesetzgeber mit dem Vorverfahren verfolgte Zweck, die Verwaltung in die Lage zu versetzen, ihre Akte im Wege der Selbstkontrolle zu überprüfen, den Rechtsschutz der Bürger zu verbessern, da das Vorverfahren die Möglichkeit eröffnet, auch die Zweckmäßigkeit in vollem Umfang zu prüfen sowie die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit vor Überlastungen zu schützen (vgl Meyer-Ladewig, SGG, vor § 77 Anm 1), ist durch die ab 1. Januar 1975 geltende Regelung nicht in Frage gestellt worden. Die allgemeine Einführung des Vorverfahrens ab 1. Januar 1975 läßt eher den Schluß zu, daß es, insbesondere in Angelegenheiten der Sozialversicherung, in denen eine von der Vertreterversammlung des Versicherungsträgers bestimmte Stelle - Widerspruchsstelle - die Nachprüfung vorzunehmen hat (§ 85 Abs 2 Nr 2 SGG), dem vom Gesetzgeber mit dem Vorverfahren verfolgten Zweck zuwiderläuft, eine Klage in einen Widerspruch und eine Klageerwiderung in einen Widerspruchsbescheid umzudeuten.
Obwohl die bei dem SG erhobene Klage wegen des nicht durchgeführten Vorverfahrens unzulässig ist, hat der Senat davon abgesehen, die Revision des Klägers mit dieser Maßgabe zurückzuweisen (vgl BSGE 17, 153, 156). Vielmehr war nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts das angefochtene Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen, um den Beteiligten die Möglichkeit zu geben, das Vorverfahren nachzuholen (BSGE 8, 3, 10; 17, 153, 156; 20, 199, 200; 25, 66, 68; 29, 129, 133; 35, 267, 271). Das LSG hat bei seiner erneuten Entscheidung auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden.
Fundstellen