Leitsatz (amtlich)
Beim Aufsuchen einer Tankstelle auf der Fahrt nach oder von der Arbeitsstätte besteht grundsätzlich Versicherungsschutz, wenn unvorhergesehen vor Antritt oder während der Fahrt der Reservetreibstoff in Anspruch genommen werden muß.
Leitsatz (redaktionell)
Das Auffüllen eines Reservetanks und damit zusammenhängende Wege stehen auch dann unter Versicherungsschutz, wenn der Versicherte nicht erkannt hat, daß der noch vorhandene Inhalt des Reservetanks für eine größere Fahrstrecke ausgereicht hätte.
Normenkette
RVO § 550 Abs. 1 Fassung: 1974-04-01
Verfahrensgang
LSG Hamburg (Entscheidung vom 31.01.1978; Aktenzeichen I UBf 41/77) |
SG Hamburg (Entscheidung vom 29.04.1977; Aktenzeichen 24 U 69/75) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers werden das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 31. Januar 1978 und das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 29. April 1977 sowie der Bescheid der Beklagten vom 19. November 1974 aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger wegen der Folgen seines Arbeitsunfalles vom 18. März 1974 zu entschädigen.
Die Beklagte hat dem Kläger die Kosten des Verfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Der im Jahre 1957 geborene Kläger wohnt im M in H-D. Er war als Schriftsetzerlehrling bei einer Firma in der N-R-Straße in H-W beschäftigt. Seine Arbeitszeit begann um 7.30 Uhr und endete um 16.00 Uhr. Seit Januar 1974 besaß er ein Mokick der Marke Kreidler-Florett, mit dem er den Weg nach und von seiner Arbeitsstätte zurücklegte. Sein gewöhnlicher Weg zur Arbeitsstätte führte von D aus über die L Landstraße, P Hauptstraße, S Damm, S.-straße, S Chaussee, F Weg, K, A Straße, B H-weg, W...straße, N.-straße, A Straße, H...weg, Z.-straße, Am Neumarkt, N-R-Straße. Am 18. März 1974 hatte er die Wohnung seiner Eltern gegen 6.10 Uhr verlassen. Unterwegs fing sein Mokick an zu stottern, und er schaltete auf Reserve um. Er hatte unterwegs tanken wollen. Die Tankstellen waren jedoch noch geschlossen. Er fuhr vom H...weg nicht in die Z.-straße, sondern geradeaus bis zur G Straße, um zu sehen, ob die Aral-Tankstelle schon geöffnet hatte. Als auch diese noch geschlossen hatte, wollte er umkehren und auf dem H...weg bis zur Z.-straße zurückfahren. Beim Einbiegen aus der G Straße in den H...weg verunglückte er und zog sich einen Ober- und Unterschenkelbruch zu. Er war bis zum 25. August 1974 arbeitsunfähig.
Die Beklagte lehnte Entschädigungsansprüche ab, da der Kläger sich im Unfallzeitpunkt auf einem nicht betriebsbedingten Abweg befunden habe.
Das Sozialgericht (SG) hat durch Urteil vom 29. April 1977 die Klage abgewiesen. Das Tanken stehe mit dem Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit nur dann in einem rechtlich wesentlichen Zusammenhang, wenn es unvorhergesehen notwendig werde, um den restlichen Weg noch zurücklegen zu können. Diese Notwendigkeit müsse aber auch objektiv bestehen. Der Inhalt des Reservetanks hätte jedoch ausgereicht, um den Weg zur Arbeitsstätte und den Heimweg zurückzulegen. Auf die subjektive Auffassung des Versicherten, das Tanken sei notwendig gewesen, komme es nicht an.
Das Landessozialgericht (LSG) hat durch Urteil vom 31. Januar 1978 die Berufung des Klägers zurückgewiesen und ua ausgeführt: Das Tanken sei am Unfallmorgen nicht notwendig gewesen, um das Ziel der Fahrt zu erreichen. Die Rechtsprechung habe allerdings betont, daß nicht zu strenge Anforderungen an die Voraussetzungen gestellt werden dürften, die für die Annahme einer solchen Notwendigkeit der Treibstoffergänzung gegeben sein müßten. Insbesondere könne nicht verlangt werden, daß sich der Versicherte jederzeit darüber klar sei, ob der mitgeführte Vorrat für die restliche Fahrt gerade noch reiche. Dies könne aber nicht dahin verstanden werden, daß von dem Erfordernis der Notwendigkeit des Tankens abgegangen werde und es allein auf die subjektive Auffassung des Versicherten ankomme, das Tanken sei notwendig. Der Kläger könne sich auch nicht mit Erfolg auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 30. Januar 1968 (SozR Nr 63 zu § 543 RVO aF) berufen. In jenem Fall habe das BSG den Versicherungsschutz beim Tanken bejaht und es wegen der besonderen Umstände als sachgemäß angesehen, daß der Versicherte bereits die erste erreichbare Tankstelle aufgesucht habe und nicht das Risiko einer Weiterfahrt bis zu einer unmittelbar am Wege gelegenen Tankstelle eingegangen sei. Der Kläger hätte jedoch in jedem Fall seine Arbeitsstätte erreicht und wäre auf dem Rückweg an zahlreichen unmittelbar an seiner Fahrstrecke liegenden Tankstellen vorbeigekommen, die auch alle um die Nachmittagszeit geöffnet gewesen wären.
Der Senat hat die Revision gegen das Urteil des LSG zugelassen.
Der Kläger hat dieses Rechtsmittel eingelegt.
Er trägt ua vor: Ein an sich privates Auftanken eines Motorfahrzeuges werde betriebsbedingt, wenn sich auf dem Weg zur Arbeitsstätte auf irgendeine Weise ankündige, daß mit dem noch im Tank vorhandenen Treibstoff die Betriebsstätte möglicherweise nicht mehr erreicht werde. Objektiv könne in einem solchen Fall zwar noch eine gewisse Wegstrecke zurückgelegt werden. Kein verantwortungsbewußter Kraftfahrer werde es aber darauf ankommen lassen, den Tank "bis zum letzten Tropfen" leer zufahren. Er werde vielmehr nach der nächsten erreichbaren Tankstelle Ausschau halten und bei dieser auftanken, um allen Eventualitäten aus dem Weg zu gehen.
Der Kläger beantragt,
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das Urteil des LSG Hamburg vom 31. Januar 1978, das Urteil des SG Hamburg vom 29. April 1977 sowie den Bescheid der Beklagten vom 19. November 1974 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger Entschädigungsleistungen wegen des Unfalls vom 18. März 1974 zu gewähren. |
Die Beklagte beantragt,
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die Revision zurückzuweisen. |
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und führt ua aus: Der Kläger hätte auch ohne Auftanken den Hin- und Rückweg zurücklegen können. Die Revision strebe eine Erweiterung der Fälle an, in denen Versicherungsschutz auch beim Tanken eines zum Zurücklegen des Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit gebrauchten Fahrzeuges bestehe. Ein verantwortungsbewußter Fahrer habe sich vor Antritt der Fahrt davon zu überzeugen, daß der Treibstoff ausreiche.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision ist begründet.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats gehört das Auftanken des zur Fahrt nach oder von dem Ort der Tätigkeit benutzten Kraftfahrzeuges grundsätzlich zu den Verrichtungen, die zwar der Aufnahme der Betriebstätigkeit vorangehen, der Betriebsarbeit aber zu fern stehen, als daß sie schon dem persönlichen Lebensbereich des Beschäftigten entzogen und der unter Versicherungsschutz stehenden betrieblichen Sphäre, die in § 550 der Reichsversicherungsordnung (RVO) auf die Wege nach oder von dem Ort der Tätigkeit erstreckt ist, zuzurechnen wären (BSGE 16, 77, 78; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. - 9. Aufl, S. 486 d II, Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl, § 550 Anm 4, 19, Buchst i, Podzun, Der Unfallsachbearbeiter, 3. Aufl, Kennzahl 120 S. 1 - jeweils mit weiteren Nachweisen). Der Senat hat jedoch ebenfalls wiederholt entschieden, daß der Versicherte auf einem Umweg oder einer Unterbrechung des Weges nach oder von dem Ort der Tätigkeit zum Aufsuchen einer Tankstelle unter Versicherungsschutz steht, wenn das Auftanken während der Fahrt nach oder von dem Ort der Tätigkeit erforderlich wird (s BSG SozR Nr 63 zu § 543 RVO aF; BSG Urteil vom 30. Januar 1970 - 2 RU 198/67 -; s auch Brackmann aaO S. 486 g; Lauterbach aaO § 550 Anm 8). Entgegen der Auffassung der Revision ist der Versicherungsschutz auch hier grundsätzlich nicht davon abhängig, daß der Versicherte nicht fahrlässig die Notwendigkeit des Auftankens herbeigeführt, sondern sich als verantwortungsbewußter Fahrer vor Antritt der Fahrt davon überzeugt hat, daß der Treibstoffvorrat für die Hin- und Rückfahrt ausreicht. Wie der Senat in seinem Urteil vom 30. Januar 1968 (SozR aaO) ebenfalls bereits ausgeführt hat, sind an die Voraussetzungen, daß das Nachfüllen des Tankes mit dem Zurücklegen des Weges nach und von der Arbeitsstätte in einem auch rechtlich wesentlichen Zusammenhang steht, wenn es unvorhergesehen notwendig wird, damit der restliche Weg zurückgelegt werden kann, keine zu strengen Anforderungen zu stellen. Unter Bezugnahme auf sein Urteil vom 28. Februar 1964 (2 RU 22/61 - teilweise veröffentlicht in BB 1964, 684) hat der Senat dargelegt, daß ein brauchbarer Anhaltspunkt für die Notwendigkeit des Tankens ist, daß sich während der Fahrt oder aber auch schon bei Antritt der Fahrt die Notwendigkeit ergibt, den Inhalt des Reservetanks in Anspruch zu nehmen. Das LSG meint dagegen zu Unrecht, es komme entscheidend darauf an, ob der im Reservetank noch enthaltene Kraftstoff ausreichte, um die Betriebsstätte und auf dem Heimweg eine der am direkten Weg liegenden Tankstellen zu erreichen. Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats beurteilt sich die Frage, ob eine Tätigkeit dem Unternehmen dienlich ist, nicht danach, ob sie dem Unternehmen objektiv dienlich war, sondern es ist ausreichend, daß der Versicherte von seinem Standpunkt aus der Auffassung sein konnte, die Tätigkeit sei geeignet, den Interessen des Unternehmens zu dienen (s BSGE 20, 215, 218; BSG SozR Nr 25 und 30 zu § 548 RVO; Brackmann aaO S. 480 q; Lauterbach aaO § 548 Nr 7). Dies gilt auch für die Beurteilung der Frage, ob das Tanken eines Kraftfahrzeuges unvorhergesehen notwendig war, damit der weitere Weg nach oder von dem Ort der Tätigkeit zurückgelegt werden kann. Grundsätzlich kann ein Kraftfahrer davon ausgehen, daß das Auftanken notwendig ist, wenn er den Reservetank in Anspruch nehmen muß. Die optische Anzeige, daß die Treibstoffreserve in Anspruch genommen wird, oder - wie hier beim Mokick - das erforderliche Umschalten auf den Reservetank dienen dem Kraftfahrer als Warnung und Aufforderung, neuen Kraftstoff zu tanken. Die Inanspruchnahme des Reservekraftstoffes ist deshalb, wie der Senat bereits ausgeführt hat (BSG SozR Nr 63 zu § 543 RVO aF), ein brauchbarer Anhaltspunkt für die Notwendigkeit des Tankens. Das unverzügliche Auftanken nach Inanspruchnahme des Reservekraftstoffes soll ua vermeiden, daß durch unvorhergesehene Ereignisse der tatsächlich noch vorhandene Kraftstoff dann doch nicht ausreicht, um an das nach einer vorangegangenen Schätzung an sich erreichbare Ziel zu kommen. Es müßte sonst versicherungsrechtlich wieder zwischen einer Vielzahl möglicher Fallgestaltungen unterschieden werden, um die Besonderheiten des Einzelfalles zu beachten; das würde nicht der Rechtssicherheit dienen. Die Inanspruchnahme des Reservekraftstoffes bildet dagegen einen allgemeinen Maßstab, der zu einer Verminderung einer Kasuistik führen kann. Diesem objektiven Kriterium mißt der Senat verstärkte Bedeutung bei. Besondere Umstände, die dieses Kriterium bei der Beurteilung des grundsätzlich bestehenden Versicherungsschutzes beim unvorhergesehen notwendigen Auftanken auf dem Weg nach oder von dem Ort der Tätigkeit zurücktreten lassen können, sind hier entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts nicht gegeben. Das LSG hat festgestellt, daß der Kläger noch ca 2 km bis zum Ort der Tätigkeit zu fahren hatte. Das Benzin hätte dann noch nach Beendigung der Betriebstätigkeit bis zu einer direkt am Heimweg gelegenen Tankstelle reichen müssen. Unter diesen Umständen konnte der Kläger davon ausgehen, daß auch er beim Umschalten auf den Reservetank die nächste Tankstelle aufzusuchen hatte. Die dem SG erteilte Auskunft der Herstellerfirma, daß der Kläger mit dem Inhalt des Reservetanks noch mindestens 70 km hätte zurücklegen können, rechtfertigt entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts keine andere Entscheidung. Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG hat der Kläger dies nicht gewußt. Daß ein Mokick mit dem Reservetank noch ca 70 km fahren können soll, hat sich dem Kläger nach der allgemeinen Lebenserfahrung auch nicht aufdrängen müssen.
Die Voraussetzungen für den Erlaß eines Grundurteils gemäß § 130 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) sind nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG über die Art der Verletzung des Klägers und die Dauer der Arbeitsunfähigkeit erfüllt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen