Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 24. März 1993 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Der 1985 geborene Kläger ist durch seinen Vater bei der beklagten Krankenkasse (KK) familienversichert. Er leidet unter einem Down-Syndrom (Mongolismus). Nach dem Besuch eines Kindergartens für geistig behinderte Kinder ist der Kläger Schüler einer Sonderschule. Er ist als Schwerbehinderter mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 100 und den Merkzeichen G und H (hilflos) anerkannt. Den im Oktober 1990 gestellten Antrag auf Gewährung von Pflegegeld wegen Schwerpflegebedürftigkeit lehnte die Beklagte ab, nachdem zwei Gutachter des Medizinischen Dienstes der KKn (MDK) zu dem Ergebnis gekommen waren, daß die beim Kläger vorliegende geistige Behinderung im Vergleich zu einem normal entwickelten Kind zwar einen erhöhten Betreuungsaufwand verursache, dieser aber nicht so hoch einzuschätzen sei, daß er zur Annahme der Schwerpflegebedürftigkeit ausreiche (Bescheid vom 26. Februar 1991; Widerspruchsbescheid vom 29. Juli 1991). Klage und Berufung blieben erfolglos (Urteil des Sozialgerichts ≪SG≫ vom 29. Oktober 1992; Urteil des Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 24. März 1993).
Mit der vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen Revision rügt der Kläger, das Berufungsgericht habe den Begriff der Schwerpflegebedürftigkeit iS des § 53 Abs 1 Sozialgesetzbuch – Fünftes Buch – (SGB V) verkannt. Es habe einen falschen Maßstab zugrunde gelegt, indem es im wesentlichen auf die vorhandenen motorischen Fähigkeiten abgestellt und damit die Besonderheiten der geistigen Behinderung vernachlässigt habe. Der Kläger brauche zu allen Verrichtungen des täglichen Lebens eine Anleitung und Hilfe, wie sie etwa einem drei- bis vierjährigen Kind zuteil werden müsse. Bei einem Vergleich mit einem gesunden acht- bis neunjährigen Kind bedeute dies einen erheblich höheren Betreuungsaufwand.
Der Kläger beantragt,
die angefochtenen Urteile sowie die zugrundeliegenden Bescheide aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger ab 1. Januar 1991 Pflegegeld wegen Schwerpflegebedürftigkeit zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers ist iS der Aufhebung des angefochtenen Urteils und der Rückverweisung des Rechtsstreits an das LSG zu weiteren Tatsachenfeststellungen begründet. Mit der vom LSG gegebenen Begründung durfte der Anspruch des Klägers auf Gewährung von Pflegegeld wegen Schwerpflegebedürftigkeit nicht verneint werden. Die bisherigen Feststellungen reichen nicht aus, um in der Sache abschließend zu entscheiden.
Nach § 53 Abs 1 SGB V erhalten Versicherte, die nach ärztlicher Feststellung wegen einer Krankheit oder Behinderung so hilflos sind, daß sie für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer in sehr hohem Maße der Hilfe bedürfen (Schwerpflegebedürftige), häusliche Pflegehilfe. Anstelle der häuslichen Pflegehilfe kann nach § 57 Abs 1 SGB V die KK schwerpflegebedürftigen Versicherten auf ihren Antrag ein Pflegegeld von 400,00 DM je Kalendermonat zahlen, wenn die Pflege durch eine Pflegeperson in geeigneter Weise und in ausreichendem Umfang selbst sichergestellt werden kann. Das LSG hat von den gesetzlichen Anspruchsvoraussetzungen, zu denen nach § 54 SGB V auch die Erfüllung der notwendigen Anwartschaft gehört, lediglich das Vorliegen von Schwerpflegebedürftigkeit geprüft und verneint. Mangels weitergehender Feststellungen kann der Senat deshalb nicht entscheiden, ob sich das angefochtene Urteil aus anderen Gründen als richtig erweist, dem Kläger also wegen Fehlens sonstiger Voraussetzungen kein Anspruch auf Pflegegeld zusteht.
„Schwerpflegebedürftigkeit” ist, wie schon vom 1. und 4. Senat des BSG ausgeführt, ein gerichtlich voll überprüfbarer Rechtsbegriff. Die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit sind an den Inhalt von Richtlinien zur Abgrenzung des Personenkreises der Schwerpflegebedürftigkeit, wie sie etwa von den Spitzenverbänden der KKn erlassen worden sind (Richtlinien vom 9. August 1989 ≪BArbBl 1989, 43 = BKK 1989, 595≫; vom 8. Oktober 1990 ≪BKK 1990, 706 f≫; Rundschreiben vom 28. November 1990 ≪Die Leistungen 1991, 4 f≫), rechtlich nicht gebunden (BSGE 73, 146, 149 = SozR 3-2500 § 53 Nr 4; BSG SozR 3-2500 § 53 Nr 6 und Urteile vom 9. März 1994 – 3/1 RK 7/93 = Die Leistungen 1995, 35, und – 3/1 RK 44/93 = Die Leistungen 1995, 31). Das gilt auch für die von der Beklagten erwähnte „ergänzende Arbeitshilfe zur Begutachtung der Schwerpflegebedürftigkeit bei Kindern” (WzS 1993, 280), die von den Spitzenverbänden der KKn und dem MDK erarbeitet worden ist und die Schwerpflegebedürftigkeit von Kindern im Alter zwischen drei und acht Jahren danach beurteilt, ob das Entwicklungsalter nicht mehr als der Hälfte des biologischen Alters entspricht. Auch dieser Maßstab, den das LSG seiner Beurteilung indessen nicht zugrunde gelegt hat, ist nach Auffassung des Senats nicht geeignet, den Kreis der schwerpflegebedürftigen Kinder von dem Kreis der „einfach” pflegebedürftigen Kinder (ab 1. Januar 1995: Pflegebedürftige der Pflegestufe I gemäß § 15 Abs 1 Nr 1 Sozialgesetzbuch – Elftes Buch – ≪SGB XI≫) abzugrenzen. Dieser Maßstab ist zu pauschal und ungenau. Entscheidend ist der für die Pflegeperson konkret anfallende Pflegebedarf, der den normalen Pflegebedarf eines gesunden gleichaltrigen Kindes übersteigt. Dieser Bedarf ist konkret zu ermitteln.
Solche Ermittlungen sind nicht deshalb entbehrlich, weil dem Kläger das Merkzeichen H nach dem Schwerbehindertenrecht zuerkannt worden ist. § 53 Abs 1 SGB V setzt ein im Vergleich zu § 33b Einkommensteuergesetz, der den Begriff der Hilflosigkeit für den Nachteilsausgleich H definiert, gesteigertes Maß an Hilfebedürftigkeit voraus (BSG SozR 3-2500 § 53 Nr 2).
Auf solche Ermittlungen kann im Falle des Klägers auch nicht deswegen verzichtet werden, weil er zunächst einen Kindergarten der Lebenshilfe besucht hat und nun regelmäßig für mehrere Stunden des Tages an Werktagen in einer Sonderschule betreut wird. Für Erwachsene hat der Senat bereits entschieden, daß ein Behinderter, der wegen des regelmäßigen Aufenthaltes in einer Werkstatt für Behinderte (WfB) zumindest an Werktagen über mehrere Stunden im häuslichen Bereich keinen Pflegeaufwand verursacht, nicht schon aus diesem Grund als nicht schwerpflegebedürftig angesehen werden kann (Urteil vom 9. März 1994 – 3/1 RK 7/93). Dies gilt entsprechend für behinderte Kinder, die eine Schule besuchen. Die Leistungen wegen Schwerpflegebedürftigkeit verlangen keine Pflege „rund um die Uhr” und fallen deshalb nicht weg, wenn für einige Stunden des Tages kein Pflegebedarf besteht. Die Leistungen wegen Schwerpflegebedürftigkeit sind schon von ihrer Größenordnung her nicht geeignet, einen umfassenden Pflegebedarf abzudecken. Sie sollen lediglich den Pflegebedürftigen und die pflegenden Angehörigen entlasten und dadurch Heimeinweisungen vermeiden (BT-Drucks 11/2237 S 182). Auch bei Behinderten, die an Werktagen über mehrere Stunden Schulen besuchen, kann die Gewährung häuslicher Pflege ein gewichtiger Beitrag sein, um eine Heimunterbringung zu vermeiden. Daß ein Behinderter in der Lage ist, selbständig eine Schule aufzusuchen und am Unterricht – wenn auch für Lernbehinderte – teilzunehmen, ist zwar für die Beurteilung des Grades der Pflegebedürftigkeit von Bedeutung, schließt aber Schwerpflegebedürftigkeit nicht von vornherein aus.
Zur Beurteilung der Schwerpflegebedürftigkeit erwachsener Personen hat die Rechtsprechung in Anlehnung an die erwähnten Richtlinien der Spitzenverbände (aaO) einen Katalog von typischen Verrichtungen aufgestellt, für die zu prüfen ist, ob der Behinderte sie ohne fremde Hilfe verrichten kann (BSG SozR 3-2500 § 53 Nrn 5 und 6; Urteile vom 9. März 1994 – 3/1 RK 7/93 und 44/93). Anhand des nach dem bisherigen Erkenntnisstand 18 typische Verrichtungen umfassenden Katalogs ist Schwerpflegebedürftigkeit bei Erwachsenen ohne weiteres anzunehmen, wenn ein Hilfebedarf bei 14 oder mehr Verrichtungen gegeben ist oder bei einem Hilfebedarf für neun bis 13 Verrichtungen aufgrund besonderer Erschwernisse „Gleichstellungssachverhalte”) der Gesamtpflegebedarf dem gleichkommt. Von vornherein ist Schwerpflegebedürftigkeit dann zu verneinen, wenn der Hilfebedarf weniger als neun Verrichtungen des Katalogs betrifft.
Der Beklagten ist einzuräumen, daß dieser Katalog zur Feststellung von Schwerpflegebedürftigkeit bei Kindern nur bedingt geeignet ist. Dies liegt daran, daß Kinder altersbedingt einen natürlichen Pflegebedarf haben, der anfangs besonders hoch ist und mit zunehmendem Alter abnimmt. Für Säuglinge und Kleinkinder im Alter bis zu drei Jahren sind bei den Verrichtungen des Grundbedarfs regelmäßig Hilfeleistungen erforderlich; Verrichtungen des hauswirtschaftlichen Versorgungsbedarfs fallen auch bei älteren gesunden Kindern noch an. Für Kinder bis zu drei Jahren kann deshalb das Vorliegen von Schwerpflegebedürftigkeit sinnvollerweise nur so ermittelt werden, daß der konkrete Pflegeaufwand zeitlich festgestellt wird und mit dem Pflegeaufwand verglichen wird, den ein gesundes gleichaltriges Kind ohnehin verursacht. Erst wenn der Mehraufwand täglich etwa drei Stunden ausmacht, kann in Anlehnung an das bei Erwachsenen geltende Zeitmaß für den Pflegeaufwand im Rahmen der Gleichstellungssachverhalte von Schwerpflegebedürftigkeit ausgegangen werden (vgl Urteil des Senats vom 14. Dezember 1994 – 3 RK 7/94 – zur Veröffentlichung vorgesehen).
Der Kläger war allerdings zum Zeitpunkt der Antragstellung schon knapp sechs Jahre alt, also in einem Alter, in dem gesunde Kinder schulreif sind. Diese Kinder benötigen für die Verrichtungen des Grundbedarfs im allgemeinen keine Hilfe mehr; ihre noch vorhandene geistige Unreife macht es lediglich erforderlich, sie allgemein zu beaufsichtigen, zu ermahnen und auch zu einzelnen Verrichtungen anzuhalten. Anhand der für Verrichtungen des Grundbedarfs erforderlichen Hilfe kann deshalb auch bei Kindern dieses Alters das Maß der Pflegebedürftigkeit ermittelt werden.
Bei Kindern ist dieser Katalog jedoch zumindest bis zum Alter von acht Jahren (vgl Urteil vom 14. Dezember 1994 – 1/3 RK 65/93) insoweit zu modifizieren, als die Verrichtungen des hauswirtschaftlichen Bedarfs bei der Erfassung der Verrichtungen, bei denen ein krankheits- bzw behinderungsbedingter Pflegemehrbedarf besteht (erste Stufe der Ermittlung des Pflegebedarfs), unberücksichtigt bleiben.
Bei Erwachsenen hat die Erfassung der Katalogtätigkeiten, bei denen ein Pflegebedarf besteht, den Sinn, diejenigen Fälle von einer weiteren, ins Detail gehenden Ermittlung des Hilfebedarfs auszunehmen, bei denen entweder schon die große Zahl der hilfebedürftigen Verrichtungen den Schluß zuläßt, daß Schwerpflegebedürftigkeit in jedem Fall vorliegt, oder bei denen wegen der geringen Zahl solcher Verrichtungen die Notwendigkeit von Pflege „in sehr hohem Maße” von vornherein ausgeschlossen werden kann. Der Katalog nennt nur Verrichtungen, die von einem gesunden Erwachsenen ohne fremde Hilfe erbracht werden. Die Verrichtungen des hauswirtschaftlichen Bedarfs werden jedoch auch bei gesunden Kindern von den Betreuungspersonen und nicht von den Kindern selbst ausgeführt. Die Einbeziehung des hauswirtschaftlichen Bedarfs würde deshalb die Gewichtung zwischen den Verrichtungen, bei denen ein Mehrbedarf besteht und solchen, bei denen dies nicht der Fall ist, sachwidrig zu Lasten kranker bzw behinderter Kinder verschieben. Bei Kindern ist deshalb in der ersten Stufe zu prüfen, bei welchen der verbleibenden 14 Katalogtätigkeiten ein behinderungsbedingter Pflegemehrbedarf besteht. Ist bei Kindern behinderungsbedingt auch bei den vier Tätigkeiten des hauswirtschaftlichen Bereichs ein höherer Aufwand erforderlich als bei gleichaltrigen gesunden Kindern, so muß der entsprechende Zeitbedarf im Rahmen der Gleichstellungssachverhalte, also auf der zweiten Stufe der Ermittlung des gesamten Pflegebedarfs, berücksichtigt werden.
Auch bei Kindern kann der Hilfebedarf bzw der im Vergleich zu einem gesunden Kind erhöhte Betreuungs- und Pflegeaufwand nicht pauschal bewertet werden. Der Gesetzgeber hat in vergleichbaren Regelungsbereichen eine Differenzierung nach den gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen ausdrücklich auch für Kinder vorgesehen. Dies wird in den Arbeitshilfen des MDK der Spitzenverbände der KKn zur Begutachtung der Schwerpflegebedürftigkeit bei Kindern (WzS 1993, 280) verkannt, soweit dort die Empfehlung ausgesprochen wird, bei Kindern zwischen drei und acht Jahren könne auch – ohne konkrete Betrachtung des Hilfebedarfs in den einzelnen Bereichen – von Schwerpflegebedürftigkeit ausgegangen werden, wenn das Entwicklungsalter nicht mehr als der Hälfte des biologischen Alters entspreche. Angesichts der erheblichen Voraussetzungen, die an den erforderlichen Pflegemehraufwand gestellt werden, ist bei einer derart pauschalen Bewertung eine nicht gerechtfertigte Bevorzugung der genannten Altersgruppe zum einen gegenüber Kleinkindern und Säuglingen, zum anderen gegenüber Erwachsenen nicht auszuschließen; selbst wenn eine Beurteilung nach der Differenz von Entwicklungs- und Lebensalter nach ärztlicher Erfahrung häufig zu sachgerechten Ergebnissen führt. Dies folgt schon aus der Tatsache, daß auch bei einem Entwicklungsalter, das hinter dem Lebensalter zurückbleibt, nicht ohne weiteres ein die Schwerpflegebedürftigkeit begründender erhöhter Hilfebedarf angenommen werden kann. Eine erhebliche Differenz zwischen Entwicklungs- und biologischem Alter kann daher – ebenso wie deren Fehlen – allenfalls als Indiz angesehen werden.
Ein Hilfebedarf „in sehr hohem Maße”, wie ihn § 53 Abs 1 SGB V für den gegen den Träger der gesetzlichen Krankenversicherung gerichteten Anspruch auf häusliche Pflegehilfe voraussetzt, liegt – bei einer Fortentwicklung der von der Rechtsprechung aufgestellten Voraussetzungen – bei Kindern dann stets vor, wenn bei elf oder mehr (etwa 80 und mehr vH) Verrichtungen ein meßbarer zusätzlicher Hilfebedarf gegenüber gleichaltrigen gesunden Kindern besteht. Tritt ein derartiger Mehraufwand bei sieben bis zehn Verrichtungen (50 bis etwa 80 vH) auf, liegt ein Hilfebedarf in sehr hohem Maße nur dann vor, wenn besondere Gleichstellungssachverhalte erfüllt sind, die den Schluß zulassen, daß der Pflegeaufwand ebenso gewichtig ist wie bei einem eindeutig Schwerpflegebedürftigen. Als Gleichstellungssachverhalte kommen insbesondere in Betracht:
- der zeitliche Umfang des Pflegebedarfs sowie
- die körperliche und psychische Belastung der Pflegeperson.
Der zeitliche Mehraufwand für Pflegeleistungen kann in diesem Bereich die Annahme von Schwerpflegebedürftigkeit nur dann rechtfertigen, wenn er den täglichen Hilfebedarf gesunder Kinder um etwa drei Stunden übersteigt. In diesem Zusammenhang ist bei geistig behinderten Kindern auch der Zeitaufwand zu berücksichtigen, der dadurch entsteht, daß bei außer Haus durchgeführten therapeutischen Maßnahmen (zB logopädische oder krankengymnastische Behandlung) eine Begleitung des Kindes erforderlich ist. Zwar bedürfen auch gesunde Kinder während des hier maßgebenden Altersabschnitts grundsätzlich einer Begleitung, soweit Wege außerhalb des vertrauten Umfelds der elterlichen Wohnung zurückzulegen sind. Bei gesunden Kindern fallen Wege zu auswärtigen therapeutischen Maßnahmen jedoch nicht an.
Es fehlen Feststellungen zum Hilfebedarf bei den einzelnen Katalogtätigkeiten. Das LSG hat ausgeführt, der Kläger sei nicht in der Lage, Dinge, die er zwar motorisch verrichten könne, von ihrem Sinn und ihrer Notwendigkeit her zu verstehen. Es fehle ihm an zeitlicher und räumlicher Ordnung. Dies führe dazu, daß er bei einigen, nicht jedoch allen täglichen Verrichtungen Hilfe benötige: während er im Bereich der Mobilität recht eigenständig sei und insoweit nur wegen seiner Umtriebigkeit vermehrter Beaufsichtigung bedürfe, bestehe gerade im Hygienebereich und psychosozialen Bereich erhöhter Zuwendungsbedarf. Dieser Bedarf erreiche jedoch nicht den Grad einer Hilflosigkeit in besonderem Maße. Im Vergleich zu nicht behinderten Gleichaltrigen verbleibe nur ein geringer Mehraufwand an Pflegeleistungen. Der Kläger könne selbständig essen. Bei der Ernährung und bei der hauswirtschaftlichen Versorgung ergebe sich im Vergleich zu gleichaltrigen nicht behinderten Kindern kein Mehrbedarf. Die verzögerte Sprachentwicklung verursache ebenfalls keinen erhöhten Pflegeaufwand. Eine deutlich vermehrte Beaufsichtigung sei wegen der Selbstgefährdung des Klägers durch seine übermäßige psychomotorische Unruhe erforderlich. Diese Feststellungen enthalten zu Art und Umfang des (zusätzlichen) Hilfebedarfs nur pauschale Angaben, die insbesondere nicht erkennen lassen, ob bei mindestens elf der Verrichtungen ein Hilfebedarf besteht, oder ob Hilfe nur bei weniger als sieben Verrichtungen benötigt wird. Den Feststellungen kann allenfalls entnommen werden, daß bei sieben Positionen des Katalogs kein Hilfebedarf besteht, nämlich bei den Nrn 2, 3, 4, 9, 13 und 14. Da ein Hilfebedarf bei den restlichen sieben Positionen bei besonders großem Umfang ausreicht, lassen die Feststellungen des LSG eine nachvollziehbare Subsumtion unter den gesetzlichen Tatbestand der Schwerpflegebedürftigkeit bei Kindern nicht zu.
Es liegt nahe, zunächst den Kläger aufzufordern, die täglich tatsächlich erfolgten behinderungsbedingten zusätzlichen Pflegeleistungen nach Art und Zeitaufwand zu umschreiben. Besteht danach bei sieben oder mehr Verrichtungen ein zusätzlicher Pflegeaufwand und erreicht der dargelegte zusätzliche zeitliche Aufwand täglich drei Stunden, so ist dessen Erforderlichkeit vom LSG zu beurteilen.
Vom Kläger sind insoweit die zusätzlich notwendigen Pflegemaßnahmen zu beschreiben. Angaben, die den zusätzlichen Pflegebedarf ausschließlich nach dem Gegenstand oder Sinn solcher Maßnahmen kennzeichnen, also zB die Angabe: „Fortwährende Anleitung durch die Mutter”, sind zur Beschreibung unzureichend. Denn aus solchen Angaben wird nicht deutlich, inwieweit der Hilfebedarf über die altersgemäß ohnehin erforderliche Aufsicht und Anleitung des Kindes hinausgeht. Die Beschreibung muß vielmehr deutlich machen, bei welchen Verrichtungen ein erhöhter Aufwand nötig ist. Die zusätzliche zeitliche Belastung muß zumindest anhand exemplarischer Beispiele der im Tagesablauf wiederkehrenden Verrichtungen nachvollziehbar dargelegt werden.
Das LSG wird zum Hilfebedarf bei den Katalogtätigkeiten folgendes zu beachten haben: Ein zusätzlicher Pflegebedarf im Vergleich zu gleichaltrigen gesunden Kindern kann nicht nur durch körperliche, sondern auch durch geistige Defizite begründet sein (BSG SozR 3-2500 § 53 Nr 2 und 6). Zu berücksichtigen sind deshalb bei geistig behinderten Kindern neben denjenigen Verrichtungen, die im Gegensatz zu einem gleichaltrigen gesunden Kind noch gar nicht ausgeführt werden können, auch diejenigen, bei denen ein erheblich höheres Maß an Aufforderung, Anleitung und Kontrolle durch die Pflegeperson erforderlich ist. Dies muß jedoch mit einem nennenswerten zeitlichen Mehraufwand verbunden sein. Die Pflegeperson muß in ähnlicher Weise und in vergleichbarem Ausmaß wie bei einer körperlichen Behinderung zeitlich und örtlich erheblich stärker gebunden sein als es in bezug auf die jeweilige Verrichtung bei der Betreuung eines gleichaltrigen gesunden Kindes der Fall ist. Dies entspricht der Rechtsprechung des erkennenden Senats zur Beurteilung von Schwerpflegebedürftigkeit bei geistig Behinderten im Erwachsenenalter (BSG SozR 3-2500 § 53 Nr 6). Weist der jeweils erforderliche Betreuungs- und Pflegeaufwand erkennbare Unterschiede auf, so ist ein Hilfebedarf iS von § 53 Abs 1 SGB V anzunehmen.
Besondere Maßnahmen zur Förderung der Entwicklung geistig behinderter Kinder können iS des § 53 Abs 1 SGB V nicht ohne weiteres als zusätzlicher Hilfebedarf gewertet werden. Zielen derartige Maßnahmen allgemein darauf ab, die Fähigkeit zu eigenständiger Lebensführung zu stärken, so dienen sie vorrangig dem Ziel, den Pflegeaufwand in späteren Lebensabschnitten zu vermeiden oder geringer zu halten. Von daher sind sie dem Bereich der Rehabilitation zuzuordnen. Rehabilitive Maßnahmen zur Vermeidung von Pflege werden von den §§ 53 ff SGB V nicht erfaßt. Auch nach § 5 iVm § 31 SGB XI ist die Rehabilitation zur Vermeidung von Pflegebedürftigkeit nicht Aufgabe der Pflegeversicherung. Zuständig ist vielmehr derjenige Sozialleistungsträger, der im Einzelfall die Rehabilitationsmaßnahme durchzuführen hat. Dies ist vor allem die gesetzliche Krankenversicherung, zu deren Leistungen nach § 11 Abs 2 SGB V auch medizinische oder ergänzende Leistungen zur Rehabilitation zählen, die notwendig sind, um Pflegebedürftigkeit zu vermeiden oder zu mindern.
Maßnahmen der Rehabilitation sind jedoch abzugrenzen von solchen Hilfeleistungen, die den Charakter einer Anleitung haben. Die Anleitung hat zum Ziel, die Erledigung der täglich wiederkehrenden Verrichtungen durch den Pflegebedürftigen iS einer Motivation zur Selbsthilfe sicherzustellen. Anleitungen, die darauf abzielen, geistig behinderten Kindern die eigenständige Ausführung solcher Verrichtungen zu vermitteln, die von gleichaltrigen gesunden Kindern bereits ohne fremde Hilfe erbracht werden, zählen zum Pflegeaufwand iS von § 53 SGB V (so auch BT-Drucks 12/5262 S 96 zu den maßgebenden Hilfeleistungen iS der Pflegeversicherung). Hiervon gehen auch die ergänzenden Arbeitshilfen des MDK der Spitzenverbände der KKn zur Begutachtung der Schwerpflegebedürftigkeit bei Kindern (WzS 1993, 280) aus. Sie zählen zum (zusätzlichen) Hilfebedarf im Kindesalter auch Maßnahmen, die der Förderung des Erlernens von alterstypischen Fertigkeiten und Eigenschaften dienen. Dazu sollen im wesentlichen gehören:
im 1. Lebensjahr Entwicklung des Urvertrauens, Entwicklung der Grobmotorik,
im 2./3. Lebensjahr sichere Gehfähigkeit, Entwicklung der Feinmotorik, Sprachentwicklung, Reinlichkeitserziehung, beginnen-de Tolerenz von Verboten,
im 4./5. Lebensjahr vollständige Beherrschung der Grobmotorik, Reifung der Feinmotorik, selbständiges An- und Auskleiden, selbständiges Waschen, weitere Differenzierung der Sprache, Zusammenspiel mit Gleichaltrigen, Erkennen der Geschlechtlichkeit.
Die genannten notwendigen Förderungs- und therapeutischen Bemühungen sollen, soweit sie von der Pflegeperson erbracht werden, bei der Beurteilung von Schwerpflegebedürftigkeit dann berücksichtigt werden, wenn auch Hilfe und Anleitung bei den täglichen Verrichtungen in meßbarem Umfang erbracht wird.
Die Arbeitshilfen sind als verwaltungsinterne Gesetzeskonkretisierung zur Vermeidung von Ungleichbehandlungen für die Gerichte beachtlich, soweit sie mit dem Gesetz vereinbar und sachlich vertretbar sind. Dies ist hier nur insoweit der Fall, als die Empfehlungen nicht eine Einbeziehung rehabilitativer Maßnahmen in den maßgebenden Hilfebedarf zur Folge haben. Die aufgeführten Förderungsmaßnahmen können nur dann berücksichtigt werden, wenn sie von der Pflegeperson selbst erbracht werden und in unmittelbarem Zusammenhang mit einer nach § 53 SGB V maßgebenden Verrichtung stehen. Dies ist etwa bei der Förderung von folgenden Eigenschaften und Fertigkeiten der Fall: Gehfähigkeit, Grob- und Feinmotorik, Sprachentwicklung, Reinlichkeitserziehung sowie bei der Anleitung zu selbständigem An- und Auskleiden und Waschen. Insoweit können Maßnahmen, die die Pflegeperson einsetzt, um bei den wiederkehrenden Verrichtungen Hilfe zu leisten, anzuleiten oder zu kontrollieren, nicht von rehabilitativen Elementen getrennt werden, die der Verbesserung der eigenständigen Ausführung durch das Kind dienen.
Erfaßt werden zusätzliche Aufsichtsmaßnahmen und andere Hilfeleistungen grundsätzlich nur in der elterlichen Wohnung und in deren unmittelbarer Nähe mit den bereits erwähnten Ausnahmen, wozu etwa die Begleitung des Kindes auf Wegen gehört, die für seine Lebensführung von elementarer Bedeutung sind. Bei der Beurteilung von Schwerpflegebedürftigkeit kann dagegen nicht darauf abgestellt werden, ob das Kind in altersentsprechender Weise am gesellschaftlichen Leben teilnehmen und etwa der Obhut von Verwandten, Nachbarn, Freunden der Eltern oder einem Babysitter anvertraut werden kann. Die für die Eltern in diesem Lebensbereich auftretenden Einschränkungen ihrer Entfaltungsmöglichkeiten und die im Vergleich zu Eltern gesunder Kinder erheblich stärkere Bindung an die eigene Wohnung stellt keinen Hilfebedarf iS von § 53 Abs 1 SGB V dar.
Das LSG wird bei seiner abschließenden Entscheidung auch über die Kosten des Rechtsstreits zu befinden haben.
Fundstellen