Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufsunfähigkeit. Verweisbarkeit eines Facharbeiters (Bäckers)
Orientierungssatz
1. Ein Facharbeiter kann grundsätzlich nur auf Tätigkeiten eines "angelernten" Arbeiters verwiesen werden, wobei darunter nicht nur die - seltenen - Ausbildungsberufe zu verstehen sind, die eine Regelungsausbildungszeit von weniger als zwei Jahren (mindestens aber ein Jahr) voraussetzen, sondern auch Tätigkeiten, die eine echte betriebliche Ausbildung erfordern, sofern diese eindeutig das Stadium der bloßen Einweisung und Einarbeitung überschreitet (vgl BSG 1977-03-30 5 RJ 98/76 = BSGE 43, 243, 245). Darüber hinaus gehören zum Verweisungsbereich bisheriger Facharbeiter ausnahmsweise auch ungelernte Tätigkeiten, wenn sie sich aufgrund besonderer Merkmale - etwa durch eine Vertrauensstellung oder besondere Verantwortung - aus dem Kreis anderer ungelernter Arbeiten deutlich herausheben; das gilt jedenfalls für diejenigen Tätigkeiten, die wegen ihrer Qualität - nicht wegen mit ihnen verbundener Nachteile oder Erschwernisse - tariflich wie sonstige Ausbildungsberufe eingestuft sind (vgl BSG 1980-11-12 1 RJ 104/79).
2. Die Verweisungstätigkeit muß konkret bezeichnet werden; eine pauschalierende Benennung genügt nicht (vgl BSG 1979-06-28 4 RJ 70/78 = SozR 2200 § 1246 Nr 45).
Normenkette
RVO § 1246 Abs 2 S 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 13.03.1979; Aktenzeichen L 18 J 115/78) |
SG Dortmund (Entscheidung vom 14.04.1978; Aktenzeichen S 8 J 155/76) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Gewährung einer Berufsunfähigkeitsrente.
Der 1922 geborene Kläger lebt als italienischer Staatsbürger seit 1940 in Deutschland. Bis 1967 übte er den erlernten Bäckerberuf aus. Nachdem sich seit 1965 wegen einer rezidivierenden Harnblasenpapillomatose Krankheitszeiten gehäuft hatten, wurde er von seiner Arbeitgeberin, einer Großbäckerei und Konditorei, entlassen. Dann war er teils krank, teils arbeitslos und ist seit Februar 1970 bei seiner früheren Arbeitgeberfirma als Versandarbeiter beschäftigt. Neben dem Blasenleiden wird der Kläger ua durch eine linkskonvexe Torsionsskoliose der Lendenwirbelsäule und arthrotische Veränderungen an den Fingergelenken in seiner Leistungsfähigkeit beeinträchtigt. Er kann noch vollschichtig körperlich leichte Arbeiten, die keine besondere Feinfühligkeit der Hände erfordern, in geschlossenen, durchwärmten Räumen verrichten, jedoch muß er die Möglichkeit haben, häufiger als üblich die Toilette aufzusuchen.
Den im Mai 1972 gestellten Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 16. Juli 1976 ab. Das Sozialgericht (SG) Dortmund verpflichtete die Beklagte, ab Mai 1972 Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren (Urteil vom 14. April 1978). Das Landessozialgericht (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen wies die Klage ab. Es hat im Urteil vom 13. März 1979 ausgeführt:
Zwar habe der Kläger seinen Hauptberuf als Bäcker aus zwingenden gesundheitlichen Gründen, nämlich wegen der bei der Berufsausübung auftretenden starken Temperaturschwankungen, aufgeben müssen; es gebe aber für ihn zumutbare Verweisungstätigkeiten, die wie anerkannte Anlernberufe oder sonstige Ausbildungsberufe bewertet seien. Bereits die derzeitige Tätigkeit als Versandarbeiter genüge möglicherweise diesen Anforderungen, da sie nach der Aussage des Zeugen B ein gewisses Maß an Zuverlässigkeit, Genauigkeit und Verantwortungsbewußtsein voraussetze. Dies könne jedoch letztlich dahingestellt bleiben, da der Kläger auch die Fähigkeit besitze, qualifiziertere Tätigkeiten wie die eines Versandleiters in einer Großbäckerei oder Brotfabrik auszuüben; die geistigen Voraussetzungen dafür bringe er mit; weil er nach der Auskunft seines Arbeitgebers vor seiner Erkrankung für den Einsatz als zweiter Backmeister vorgesehen gewesen sei. Darüber hinaus könne er auf die tariflich entsprechend eingestuften Tätigkeiten außerhalb der Backindustrie als Abnahme- und Funktionskontrolleur in der chemischen-, Metall- und Kunststoffindustrie verwiesen werden.
Der Kläger hat die vom Senat zugelassene Revision eingelegt. Er rügt, daß ihn das LSG auf die Tätigkeit eines Versandleiters verwiesen habe, ohne zu untersuchen, wo und wie eine solche Tätigkeit tariflich eingestuft sei, welche beruflichen und leistungsmäßigen Anforderungen diese stelle sowie ob er der Tätigkeit gewachsen sei. Auch hinsichtlich der erwähnten Tätigkeiten als Abnahme- und Funktionskontrolleur in verschiedenen Industriezweigen fehle die vom Bundessozialgericht (BSG) geforderte Konkretisierung.
Der Kläger beantragt,
das Berufungsurteil vom 13. Mai 1979 aufzuheben
und die Sache zur nochmaligen Verhandlung Entscheidung
an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen,
hilfsweise,
die Sache zur nochmaligen Verhandlung und
Entscheidung an das Berufungsgericht
zurückzuverweisen.
Sie meint, die vom LSG genannten Verweisungstätigkeiten seien hinreichend konkretisiert, und es könne angenommen werden, daß der Kläger über die entsprechenden Kenntnisse und Fähigkeiten verfüge.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist zulässig. Sie ist auch begründet. Der Rechtsstreit muß an das LSG zurückverwiesen werden, da dessen Feststellungen nicht ausreichen, um entscheiden zu können, ob der Kläger berufsunfähig ist. Dies beurteilt sich danach, welche (objektiv) seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechenden Tätigkeiten ihm (subjektiv) "unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung ... und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit" zugemutet werden können (§ 1246 Abs 2 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung -RVO-). Das LSG hat unwidersprochen und daher für den Senat bindend festgestellt, daß der Kläger den "erlernten Beruf des Bäckers" nicht mehr ausüben kann. Es spricht in diesem Zusammenhang vom Hauptberuf des Klägers. Dies macht deutlich, von welchem bisherigen Beruf iS von § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO das Berufungsgericht ausgegangen ist.
Die Verweisbarkeit eines Facharbeiters unterliegt Beschränkungen. Er kann grundsätzlich nur auf Tätigkeiten eines "angelernten" Arbeiters verwiesen werden, wobei darunter nicht nur die - seltenen - Ausbildungsberufe zu verstehen sind, die eine Regelausbildungszeit von weniger als zwei Jahren (mindestens aber ein Jahr) voraussetzen, sondern auch Tätigkeiten, die eine echte betriebliche Ausbildung erfordern, sofern diese eindeutig das Stadium der bloßen Einweisung und Einarbeitung überschreitet (zB BSG, Urteil vom 30. März 1977 - 5 RJ 98/76 - = BSGE 43, 243, 245 = SozR 2200 § 1246 Nr 16). Darüber hinaus gehören zum Verweisungsbereich bisheriger Facharbeiter ausnahmsweise auch ungelernte Tätigkeiten, wenn sie sich aufgrund besonderer Merkmale - etwa durch eine Vertrauensstellung oder besondere Verantwortung - aus dem Kreis anderer ungelernter Arbeiten deutlich herausheben; das gilt jedenfalls für diejenigen Tätigkeiten, die wegen ihrer Qualität - nicht wegen mit ihnen verbundener Nachteile oder Erschwernisse - tariflich wie sonstige Ausbildungsberufe eingestuft sind (so Urteil des 1. Senats des BSG vom 12. November 1980 - 1 RJ 104/79 - und die dort zitierte weitere Rechtsprechung).
Auch das Berufungsgericht ist von diesen Grundsätzen ausgegangen. Soweit es eine Verweisung auf die vom Kläger jetzt ausgeübte Versandarbeitertätigkeit (die nach dem regional geltenden Lohn- und Gehaltstarifvertrag für das Bäckerhandwerk nach der zweituntersten Gruppe für ungelernte Kräfte abgegolten wird) erwogen hat, enthält das Urteil keine Entscheidung; dies blieb vielmehr dahingestellt. Als Verweisungstätigkeit ist aber die des Versandleiters in einer Großbäckerei oder Brotfabrik angegeben worden. Es mag zutreffen, daß ein solcher Arbeitsplatz dem Kläger (sozial) zumutbar wäre. Mit dem Hinweis auf die Branche und bestimmte Betriebsformen hat das LSG den ins Auge gefaßten Verweisungsberuf auch zusätzlich eingegrenzt. Gleichwohl ist es seiner Konkretisierungs- und Prüfungspflicht nicht nachgekommen. Im angefochtenen Urteil fehlen nämlich Ausführungen darüber, wo und wie die Tätigkeit tariflich bewertet ist, vor allem aber, welche beruflichen und überhaupt wissens- und könnensmäßigen Anforderungen gestellt werden. Erst wenn diese Feststellungen getroffen sind, kann des weiteren untersucht werden, ob der Kläger die objektiven Voraussetzungen zur Ausübung der ihm angesonnenen Verweisungstätigkeit erfüllt, also über die erforderlichen Kenntnisse und Fertigkeiten, das körperliche Leistungsvermögen und die geistige Befähigung verfügt; dabei bleibt zu beachten, daß nur eine notwendige Einweisungs- und Einarbeitungszeit bis zu drei Monaten der Verweisung nicht entgegensteht (vgl BSG, Urteil vom 15. Februar 1979 - 5 RJ 48/78 = SozR 2200 § 1246 Nr 38). Im Gegensatz zur Auffassung der Vorinstanz kann es nicht genügen, die "geistigen Voraussetzungen" beim Kläger deshalb zu bejahen, weil er von seiner Arbeitgeberfirma vor seiner Erkrankung für den Einsatz als zweiter Backmeister vorgesehen gewesen war. Abgesehen davon, daß weder von vornherein einsichtig noch im LSG-Urteil umschrieben ist, welche Anforderungen an einen zweiten Backmeister (überhaupt oder bei der Arbeitgeberfirma des Klägers) gestellt werden, müßte dann dargelegt werden, ob und weshalb - auch bei Ausklammerung des körperlichen Leistungsvermögens - von der Befähigung für die eine auf die Einsatzfähigkeit in der anderen Tätigkeit geschlossen werden kann, zumal von einem Versandleiter auch kaufmännische Kenntnisse verlangt werden dürften.
Die hiernach noch erforderlichen Ermittlungen kann nicht das Revisionsgericht, sondern muß die Tatsacheninstanz durchführen. Der Rechtsstreit ist deshalb gemäß § 170 Abs 2 Satz 2 SGG an das LSG zurückzuverweisen.
Soweit das Berufungsgericht eine Verweisbarkeit des Klägers auf die Tätigkeit des Abnahme- und Funktionskontrolleurs in verschiedenen Industriezweigen angenommen hat, fehlt es an der "konkreten Bezeichnung"; eine pauschalierende Benennung genügt nicht (vgl hierzu 5. Senat, Urteil vom 15. Februar 1979 - 5 RJ 48/78 - = SozR 2200 § 1246 Nr 38 mit weiterer Rechtsprechung; Urteile des erkennenden Senats vom 19. April 1978 - 4 RJ 55/77 - und 28. Juni 1979 - 4 RJ 70/78 - = SozR aaO Nrn 30 und 45 ebenfalls mit weiteren Hinweisen). Dies bedeutet allerdings nicht, daß völlig spezifiziert oder gar der einzelne Arbeitsplatz geschildert werden müßte; es reicht aber andererseits nicht aus, ohne nähere Bestimmung eine Tätigkeit zu nennen, die in verschiedenen Wirtschaftsbereichen vorkommt und überdies selbst innerhalb desselben Bereichs von sehr unterschiedlichen Merkmalen geprägt sein kann, so daß sich nicht erkennen läßt, welche Art von Tätigkeit tatsächlich gemeint ist. Das Berufungsgericht müßte also zunächst - zweckmäßigerweise anhand eines Tarifvertrags - dartun, auf welche Kontrolltätigkeit es den Kläger verweisen möchte, damit die Frage der (subjektiven) Verweisbarkeit überprüfbar wird. Anschließend wäre zu untersuchen, ob und weshalb der Kläger die Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten mitbringt, eine solche Tätigkeit auszuüben. Bei seinen weiteren Ermittlungen wird das LSG auch beachten müssen, daß es gerichtskundige Tatsachen, um einen Verstoß gegen §§ 62, 128 Abs 2 SGG zu vermeiden, in gehöriger Form in den Prozeß einführen und zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung machen muß.
Die Kostenentscheidung bleibt dem das Verfahren abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen