Leitsatz (amtlich)

Der Verpflichtung, eine Verweisungstätigkeit konkret zu bezeichnen (BSG 1978-04-19 4 RJ 55/77 = SozR 2200 § 1246 Nr 30, BSG 1978-10-31 4 RJ 27/77 = SozR 2200 § 1246 Nr 33, BSG 1978-11-28 4 RJ 127/77 = SozR 2200 § 1246 Nr 35, BSG 1978-11-28 5 RKn 10/77 = SozR 2200 § 1246 Nr 36, BSG 1979-02-15 5 RJ 48/78 = SozR 2200 § 1246 Nr 38 und BSG 1979-06-28 4 RJ 70/78 = SozR 2200 § 1246 Nr 45), wird - jedenfalls zur Zeit noch - auch durch die Angabe einer Erwerbstätigkeit genügt, die in der Übersicht "Berufstätigkeiten in der Bundesrepublik Deutschland" (herausgegeben 1966 vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung) angeführt ist.

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs 2 S 2 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 26.06.1978; Aktenzeichen L 2 J 205/77)

SG Koblenz (Entscheidung vom 26.08.1977; Aktenzeichen S 1 J 581/76)

 

Tatbestand

Der im Jahr 1932 geborene Kläger arbeitete bis 1960 als gelernter Maler und anschließend bis Februar 1974 als Betonbauer. Wegen eines Wirbelsäulenleidens kann er jetzt nur noch leichte körperliche Arbeiten in geschlossenen und geheizten Räumen - unter weiteren Einschränkungen - ganztags verrichten.

Den im Juni 1975 gestellten Rentenantrag des Klägers lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 25. November 1975 ab. Das Sozialgericht Koblenz hat die Klage des Klägers abgewiesen (Urteil vom 26. August 1977). Das Landessozialgericht Rheinland-Pfalz (LSG) hat die Berufung als unbegründet zurückgewiesen (Urteil vom 26. Juni 1978). In den Entscheidungsgründen seines Urteils hat es ausgeführt: Der Kläger genieße den Berufsschutz eines Facharbeiters. Er könne jedoch auf alle Tätigkeiten auf dem weiten Feld der Revisions- und Überwachungsarbeiten, der Anlagenkontrolle, als Meßwart und bei Schalttafeln sowie bei mechanisierten Produktionsarbeiten mittels Bedienens von Apparaten, sowie auf die Arbeiten eines Verwiegers, Tafelführers, Schalttafel- und Apparatewärters oder eines einfachen Maschinisten verwiesen werden. Außerdem kämen für ihn die Tätigkeiten eines Lager- und Geräteverwalters in großen Bauunternehmungen oder Baustoffhandlungen in Frage, bei denen ihm für Grobarbeiten notfalls eine Hilfskraft zugeteilt werden könne. Diese Tätigkeiten erforderten, wie auch diejenige eines Pförtners, Verantwortungsbewußtsein und eine besondere Zuverlässigkeit; sie höben sich deshalb aus dem Kreis der ganz einfachen Beschäftigungen des allgemeinen Arbeitsmarktes hervor. Daß der Kläger durch diese Tätigkeiten könnens- und wissensmäßig überfordert würde, könne nicht festgestellt werden.

Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 1246 Abs 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) und trägt vor: Das LSG habe es unterlassen, die Qualität der früheren und der Verweisungstätigkeit auf der Grundlage von Dauer und Umfang der Ausbildung und der besonderen Anforderungen der Tätigkeiten zu vergleichen. Es hätte die besonderen Anforderungen der bisherigen Berufstätigkeit im Hinblick auf das Können, die Verantwortung und die Belastung, die der bisherige Beruf erforderte, bestimmen und die dem Kläger verbliebenen Kräfte und Fähigkeiten sowie seine beruflichen Kenntnisse und Fertigkeiten feststellen müssen.

Er beantragt,

die Urteile der Vorinstanzen sowie den Bescheid

der Beklagten vom 25. November 1975 aufzuheben

und die Beklagte zu verurteilen, ihm für die

Zeit vom 1. Juni 1975 an Rente wegen

Berufsunfähigkeit zu zahlen.

Die Beklagte stellt keinen Antrag.

Die Beteiligten haben sich damit einverstanden erklärt, daß der Senat ohne mündliche Verhandlung entscheidet.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist insoweit begründet, als die Sache zurückverwiesen werden muß. Die Feststellungen des LSG reichen für eine abschließende Entscheidung nicht aus.

Das LSG hat die Rente deshalb verweigert, weil der Kläger (noch) nicht berufsunfähig sei. Es ist der Meinung, die Erwerbsfähigkeit des Klägers sei, wenn man sie nach den im angefochtenen Urteil aufgeführten (Verweisungs-)Tätigkeiten beurteile (§ 1246 Abs 2 Satz 2 RVO), noch nicht auf die Hälfte derjenigen einer gesunden Vergleichsperson herabgesunken. Der Kläger hingegen ist der Auffassung, das LSG habe nicht in ausreichender Weise festgestellt, daß diese Tätigkeiten seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können.

Die vom LSG aufgeführten Verweisungstätigkeiten sind zum Teil so genau bezeichnet, wie das im Rahmen eines Leistungsfeststellungs- und anschließenden Gerichtsverfahrens erforderlich ist (vgl dazu BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 30, 33, 35, 36, 38 und 45; Baader, SGb 1980, 183 und Wiegand, SozSich 1980, 341). Das gilt jedenfalls für die Tätigkeiten, die in der Übersicht "Berufstätigkeiten in der Bundesrepublik Deutschland", herausgegeben 1966 vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, aufgeführt sind, nämlich den Apparatewärter (Berufsklasse 2811, 2511, 3745), den Schalttafelwärter (4351), den Verwieger (3816), den Lagerverwalter (3817) und den Geräteverwalter (3817). Zwar ist diese Übersicht durch das Berufsbildungsgesetz (BBiG) vom 14. August 1969 (BGBl I 1112), das die Möglichkeit geschaffen hat, "Ausbildungsberufe staatlich anzuerkennen", und die daraufhin schrittweise erfolgende Anerkennungspraxis zum Teil überholt. Mangels eines auf dem BBiG beruhenden vollständigen Berufssystems dient sie jedoch immer noch der Bezeichnung und Abgrenzung herkömmlicher Berufstätigkeiten, die durch das BBiG nicht abgeschafft worden sind (vgl § 108 Abs 1 BBiG). Werden Tätigkeiten dieser Übersicht entsprechend bezeichnet, sind sie jedenfalls zur Zeit noch "konkret" genug angegeben; denn diese Art der Bezeichnung eröffnet die Möglichkeit, sich über die Anforderungen und Voraussetzungen der jeweiligen Berufstätigkeit in großen Zügen zu unterrichten.

Der Kläger beanstandet aber mit Recht, daß das LSG nicht genau genug geprüft und festgestellt hat, ob die Verweisungstätigkeiten "seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen" (§ 1246 Abs 2 Satz 2 RVO). Mit der Erklärung des LSG, der Kläger sei "aus gesundheitlichen Gründen nicht gehindert, ..., zumindest eine leichte körperliche Beschäftigung ... in einem der ... Verweisungsberufe vollschichtig auszuüben", ist nichts darüber gesagt, ob die beruflichen Fähigkeiten des Klägers für die ins Auge gefaßten Tätigkeiten ausreichen. Ein Facharbeiter kann zwar auch auf diejenigen ungelernten Arbeiten verwiesen werden, die sich aufgrund besonderer Merkmale aus dem Kreis sonstiger einfacher Tätigkeiten deutlich herausheben (BSG, Urteil vom 19. März 1980 - 4 RJ 13/79 -; ähnlich Urteile vom 12. November 1980 - 1 RJ 104/79 und vom 15. Februar 1979 - 5 RJ 48/78 - SozR 2200 § 1246 Nr 38 S 116); dies bedeutet jedoch, daß die in Frage kommenden ungelernten Arbeiten sich in der Regel nicht, wie das LSG annimmt, in "einigen angelernten Handgriffen" erschöpfen können. Es wird deshalb erforderlich sein, die Kräfte und Fähigkeiten des Klägers im einzelnen mit den Anforderungen zu vergleichen, die die Verweisungstätigkeiten stellen. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß die Ausführungen im angefochtenen Urteil teilweise mißverständlich sind. Das LSG führt aus, es könne nicht feststellen, daß der Kläger bei den genannten Verweisungstätigkeiten könnens- oder wissensmäßig überfordert sei, da er durch seine über viele Jahre lang ausgeübte Tätigkeit als gelernter bzw angelernter Facharbeiter bewiesen habe, daß er über die erforderlichen charakterlichen Qualifikationen verfüge. Dabei hat das LSG verkannt, daß zwischen charakterlichen Qualifikationen und etwaigen könnens- und wissensmäßigen Überforderungen keine zwingenden Zusammenhänge bestehen. Ein 46 Jahre alter Betonbauer mag sehr wohl die charakterlichen Voraussetzungen für eine Vertrauensstellung erfüllen, damit ist aber noch nicht gesagt, daß ihm auch die Umstellung von der schweren Arbeit im Freien zu einer Tätigkeit im geschlossenen Raum mit Anforderungen an geistige Wendigkeit, Aufmerksamkeit und Konzentration gelingt. Schließlich wird das LSG auch klären müssen, ob die in Aussicht genommenen Verweisungstätigkeiten ihrer tariflichen Einstufung nach dem Kläger zumutbar sind.

Da die tatsächlichen Ermittlungen über die Leistungsfähigkeit des Klägers und die Anforderungen der Verweisungstätigkeiten nicht vom erkennenden Senat vorgenommen werden können, war die Sache an das LSG zurückzuverweisen. Dieses wird auch über die Kosten zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1658215

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