Entscheidungsstichwort (Thema)
Abbruch der kieferorthopädischen Behandlung. Zulässigkeit der Berufung
Leitsatz (amtlich)
Der Anspruch nach einer Satzungsbestimmung auf Grund des § 182e S 2 Buchst a RVO auf Zuzahlung zu den Kosten einer kieferorthopädischen Behandlung setzt kein Verschulden des Versicherten am Abbruch der Behandlung voraus.
Orientierungssatz
Nicht mit jeder Verzögerung oder jeder Versäumung eines Termins wird sogleich die Behandlung abgebrochen; ein Abbruch liegt aber grundsätzlich dann vor, wenn Verzögerungen oder Versäumungen dazu geführt haben, daß die Behandlung - insbesondere aus medizinischen Gründen - nicht mehr fortgesetzt werden kann. Liegt der Grund dafür allerdings im Verantwortungsbereich des Zahnarztes, etwa weil dieser eine Weiterbehandlung aus Gründen, die er zu vertreten hat, verweigert oder weil er die Behandlung für den Patienten unzumutbar macht, wird man nicht von einem Abbruch sprechen können. Eine Behandlung, deren Fortsetzung unmöglich geworden ist - etwa weil der Patient wegen einer längeren Erkrankung nicht in der Lage war, den Zahnarzt aufzusuchen - wird nicht abgebrochen.
Normenkette
RVO § 182e S 2 Buchst a, § 205 Abs 1 S 1
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 24.05.1984; Aktenzeichen L 4 Kr 20/83) |
SG Augsburg (Entscheidung vom 02.02.1983; Aktenzeichen S 6 Kr 72/82) |
Tatbestand
Streitig ist, ob die Beklagte mit Recht vom Kläger eine Zuzahlung zu den Kosten der kieferorthopädischen Behandlung seines Sohnes verlangen kann.
Der Kläger ist Mitglied der Beklagten und hat Anspruch auf Familienkrankenhilfe für seinen Sohn Peter (P.), geboren am 2. Juli 1966. Im Frühjahr 1980 billigte die Beklagte den kieferorthopädischen Behandlungsplan des Fachzahnarztes für Kieferorthopädie Dr. F. (F.) für P. Sie wies den Kläger dabei auf § 38 Abs 2 ihrer Satzung hin. In dieser heißt es: Wird die Behandlung abgebrochen, bevor sie in dem durch den Behandlungsplan bestimmten medizinisch erforderlichen Umfang abgeschlossen ist, hat das Mitglied 20 % der entstandenen Kosten, höchstens jedoch einen Betrag in Höhe eines Viertels der monatlichen Bezugsgröße je Leistungsfall an die Kasse zu zahlen. Am 1. Juli 1981 teilte Dr. F. der Beklagten mit, daß P. trotz schriftlicher Aufforderung seit dem 23. Oktober 1980 nicht mehr zu den angesetzten Kontrollbehandlungen erschienen sei; die Behandlung werde als abgebrochen angesehen. Die Beklagte forderte den Kläger mit Schreiben vom 15. Juli 1981 zur Stellungnahme auf. Im Januar 1982 schrieb ihr der Kläger, er habe von Dr. F. keine Mitteilung über den Abbruch der Behandlung erhalten; sowohl P. als auch er selbst hätten versucht, Dr. F. umzustimmen, eine Kostenbeteiligung lehne er ab. Die Beklagte verlangte mit Bescheid vom 29. Januar 1982 eine anteilige Kostenerstattung in Höhe von 250,80 DM. Mit dem Widerspruch hatte der Kläger keinen Erfolg. Das Sozialgericht (SG) hat die angefochtenen Bescheide aufgehoben. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen und ausgeführt, die Berufung sei zulässig, denn es handele sich nicht um eine Rückerstattung von Leistungen; vielmehr mache die Beklagte einen Zuzahlungsanspruch geltend. Obwohl das Gesetz und die Satzung nur vom Abbruch der Behandlung sprächen, könne diese Tatsache nicht alleiniger Anknüpfungspunkt für die Fälligkeit des Eigenanteils sein. Dagegen spreche schon, daß der Gesetzgeber in Satz 1 des § 182e der Reichsversicherungsordnung (RVO) einen generellen Eigenanteil an den Kosten der kieferorthopädischen Behandlung ohne Rückzahlungsverpflichtung der Kasse als mögliche Satzungsregelung zugelassen habe. In § 182e Satz 2 Buchst b RVO werde als dritte zulässige Satzungsregelung die laufende Zuzahlung eines Eigenanteils während der Behandlung mit Rückzahlung (Erstattung) für den Fall des ordnungsmäßigen Behandlungsabschlusses geregelt; es könne nicht Sinn und Zweck des Gesetzes sein, zwischen dieser außerordentlich verwaltungsintensiven Möglichkeit und der schlichten Satzungsvariante wählen zu lassen, bei der die bloße Feststellung die Eigenbeteiligung auslösen solle, die dem Behandlungsplan entsprechende Behandlung sei abgebrochen. Bei einer Satzungsregelung, wie sie die Beklagte getroffen habe, sei vielmehr die Kostenbeteiligung nur gerechtfertigt, wenn der Abbruch der Behandlung dem Versicherten zuzurechnen sei. Ein ausreichender Schuldvorwurf gegen den Kläger sei im vorliegenden Fall nicht ersichtlich, die Behandlung sei auch nicht ohne verständigen Grund abgebrochen worden. Wenn das Kind des Versicherten der kieferorthopädischen Behandlung bedürfe, könne der Abbruch der Behandlung dem Versicherten nur bei einer Verletzung seiner Aufsichtspflicht zugerechnet werden. Der Kläger sei seiner Aufsichtspflicht durch regelmäßige Kontrollen nachgekommen. Er habe bis zur Benachrichtigung durch die Beklagte nicht um die Versäumnisse seines Sohnes und den dadurch verursachten Abbruch der Behandlung gewußt. Unmittelbar nach Empfang des Schreibens vom 15. Juli 1981 habe sich der Kläger bemüht, die Behandlung fortsetzen zu lassen. Es habe sich herausgestellt, daß P. trotz aller zumutbaren Einflußnahme der Erziehungsberechtigten nicht zu einer Fortsetzung der kieferorthopädischen Behandlung bewegt werden konnte. Durch das Verhalten des P. hätten weder der Kläger noch Dr. F. erreichen können, die begonnene Behandlung fortzusetzen.
Die Beklagte hat die vom Senat zugelassene Revision eingelegt und macht geltend, das LSG habe § 182e RVO unrichtig ausgelegt. Dem Gesetz sei nicht zu entnehmen, daß ein rechtfertigender Grund für den Abbruch zu berücksichtigen sei. Darüber hinaus habe der Kläger den Abbruch der Behandlung zu vertreten.
Die Beklagte beantragt, die Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts vom 24.Mai 1984 - L 4/Kr 20/83 - und des Sozialgerichts Augsburg vom 2. Februar 1983 - S 6 Kr 72/82 - aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist im Sinn der Zurückverweisung der Sache an das LSG zu neuer Verhandlung und Entscheidung begründet.
Zutreffend hat das LSG die Zulässigkeit der Berufung angenommen. Die von der Beklagten verlangte Zuzahlung ist weder eine einmalige Leistung iS des § 144 Abs 1 Ziffer 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), denn darunter sind nur Sozialleistungen des Staates oder der öffentlichen Körperschaften, die dem einzelnen gewährt werden, zu verstehen (BSGE 42, 212, 213 = SozR 1500 § 144 SGG Nr 5 mwN), noch handelt es sich um eine Rückerstattung von Leistungen iS des § 149 SGG.
Anhand der Feststellungen des LSG kann der Senat nicht abschließend entscheiden, ob die angefochtenen Bescheide rechtmäßig sind und der Kläger der Beklagten den geforderten Betrag von 250,80 DM zu zahlen hat. Der Forderung der Beklagten liegt die Bestimmung des § 38 Abs 2 ihrer Satzung zugrunde. Die Bestimmung gilt auch bei der kieferorthopädischen Behandlung von Kindern, für die der Versicherte Anspruch auf Familienkrankenhilfe hat. Gemäß § 205 RVO erhält der Versicherte für die familienhilfeberechtigten Angehörigen Krankenhilfe unter den gleichen Voraussetzungen und in gleichem Umfang wie Versicherte. Er hat damit Anspruch auf die kieferorthopädische Behandlung für die familienhilfeberechtigten Kinder. In § 38 Abs 2 der Satzung wird der Umfang dieses Anspruchs bestimmt.
Der Tatbestand eines vorzeitigen Abbruchs der Behandlung gemäß § 38 Abs 2 der Satzung der Beklagten kann im vorliegenden Fall erfüllt sein. Für eine Entscheidung darüber enthält das Urteil des LSG aber keine ausreichenden Feststellungen. Das LSG hat das klagabweisende Urteil deshalb bestätigt, weil nach seiner Meinung der Zuzahlungsanspruch nach der Satzung nur gerechtfertigt ist, wenn dem Versicherten ein ausreichender Schuldvorwurf gemacht werden kann oder wenn er die Behandlung ohne verständigen Grund abgebrochen hat. Vom Abbruch geht das LSG aus und hat dazu - von seinem Rechtsstandpunkt aus mit Recht - keine Tatsachen festgestellt. Die Feststellung, der Kläger und Dr. F. hätten nicht erreichen können, daß die begonnene kieferorthopädische Behandlung fortgesetzt wurde, genügt dafür nicht.
Aus den Gründen des LSG-Urteils ergibt sich nicht, daß der angefochtene Bescheid rechtswidrig ist.
Der Anspruch auf Zuzahlung nach § 38 Abs 2 der Satzung der Beklagten setzt nicht voraus, daß den Versicherten ein Verschulden an dem vorzeitigen Abbruch der Behandlung trifft oder daß ein verständiger Grund für den Abbruch fehlt. Aus dem Wortlaut des § 38 Abs 2 der Satzung und des § 182e RVO ergibt sich - wovon auch das LSG ausgeht - kein Anhaltspunkt für eine derartige zusätzliche Anspruchsvoraussetzung. Der Vergleich mit den anderen Tatbeständen des § 182e RVO spricht entgegen der Meinung des LSG nicht für, sondern vielmehr gerade gegen die Notwendigkeit des Schuldvorwurfs und gegen die Möglichkeit, der Forderung mit dem Nachweis eines verständigen Grunds für den Abbruch zu begegnen. Nach § 182e Satz 1 RVO kann die Satzung bei kieferorthopädischen Behandlungen eine generelle Zuzahlungspflicht regeln. Bei dieser Gestaltungsmöglichkeit wird die Zuzahlungspflicht nicht von weiteren Bedingungen oder Voraussetzungen abhängig gemacht, insbesondere auch nicht davon, ob die Behandlung in dem durch den Behandlungsplan bestimmten medizinisch erforderlichen Umfang abgeschlossen oder vorzeitig abgebrochen wird. Die Zuzahlung hängt mithin nicht vom Verhalten des Leistungsempfängers ab. Auch nach § 182e Satz 2 Buchst b RVO ist für jede kieferorthopädische Behandlung eine Zuzahlung zu leisten. Die Pflicht trifft den Versicherten selbst dann, wenn sich der Leistungsempfänger gewissenhaft der Behandlung unterzieht. Ihm wird die Zuzahlung nur nach ordnungsgemäßem Abschluß erstattet. Für die endgültige Belastung des Versicherten mit einem Anteil der Kosten für die kieferorthopädische Behandlung ist es weder im Fall des § 182e Satz 1 noch im Fall des § 182e Satz 2 Buchst b RVO von Bedeutung, aus welchen Gründen die Behandlung etwa abgebrochen worden ist. Das LSG weist zur Begründung seiner Ansicht darauf hin, daß die Gestaltungsmöglichkeit nach Satz 2 Buchst b des § 182e RVO sehr verwaltungsintensiv sei. Die Kasse muß nämlich die Zuzahlung auf die Behandlungszeit umlegen, während der Behandlung laufend einziehen, den Abschluß der Behandlung feststellen und dann dem Versicherten gegebenenfalls den Betrag erstatten. Daraus darf aber nicht gefolgert werden, daß bei der Zuzahlung nur verwaltungsaufwendige Verfahren zugelassen werden sollten. Es kann auch nicht Sinn der Vorschrift des § 182c Satz 2 Buchst a RVO sein, etwa zum Ausgleich für den Verwaltungsaufwand bei der Regelungsmöglichkeit nach Buchstabe b weitergehende und gewichtigere materielle Voraussetzungen für den Zuzahlungsanspruch zu bestimmen, wie zB ein Verschulden des Versicherten.
Die Forderung, daß ein Behandlungsabbruch die Rechtsfolge des § 182e Satz 2 Buchst a RVO nur auslösen dürfe, wenn er ohne verständigen Grund und mit Verschulden vorgenommen wurde, ist nicht nach dem Zweck des Gesetzes begründet. Mit Satzungsregelungen nach § 182e RVO soll der Versicherte veranlaßt werden, für eine ordnungsgemäße Durchführung der Behandlung Sorge zu tragen. Die Vorschrift des § 182e Satz 2 RVO zielt nur mittelbar auch auf die Kostendämpfung. Vielmehr wird an dieser Vorschrift der Zweck des § 182e RVO deutlich, nämlich das Eigeninteresse des Versicherten an der Durchführung der Behandlung bis zum ordnungsgemäßen Abschluß zu wecken (BT-Drucks 8/166 S 25). Die Kasse, die in ihrer Satzung eine solche Regelung trifft, entspricht damit dem Auftrag, die Gesundheit zu sichern (§ 181 RVO) und Krankheiten zu behandeln (§ 182 Abs 1 RVO), sie erfüllt nicht nur die Ansprüche der Versicherten, sondern hat selbst auf die Sicherung der Gesundheit und eine erfolgreiche Behandlung hinzuwirken. Zu ihrem gesetzlichen Auftrag gehört es, auch für den Abschluß einer Behandlung im medizinisch erforderlichen Umfang zu sorgen. Die Zuzahlungsregelungen nach § 182e RVO geben der Kasse die Möglichkeit, mittelbar aktiv auf die Herbeiführung des Behandlungserfolgs hinzuwirken. Deshalb geht es auch nicht darum, daß sich der Versicherte entscheiden kann, ob er die Behandlung bis zum Ende durchführen lassen oder ob er sie abbrechen und die Zuzahlung in Kauf nehmen will (aM SG Kiel, Breithaupt 1983, 14). Nach ihrem gesetzlichen Auftrag darf die Kasse nur auf die erste dieser möglichen Entscheidungen hinwirken.
Dem Zweck des § 38 Abs 2 der Satzung der Beklagten entnimmt das LSG, daß ein Abbruch ohne Schuld des Versicherten oder mit verständigem Grund unschädlich sei. Es leitet dies daraus her, daß das Eigeninteresse nur sinnvoll mit Erfolg geweckt werden könne, wenn die Möglichkeit der Einflußnahme auf die Durchführung der Behandlung bestehe. Dem kann der Senat nicht folgen. Bei jedem Versicherten, der die Behandlung bis zum Abschluß durchführen oder für die Durchführung sorgen will, wird das Interesse an der Fortführung der Behandlung durch die hier streitige Regelung gefördert. In dem Willen, die Behandlung bis zum Abschluß durchführen zu lassen, wird er mindestens bestärkt. Dieser Erfolg hängt nicht davon ab, ob der Versicherte ausreichende Möglichkeiten der Einflußnahme auf die Durchführung hat. Gerade die Begründung des LSG macht deutlich, daß es im vorliegenden Fall darum ging, ob der Kläger das bestehende Interesse an der Fortführung der Behandlung in die Tat umsetzen konnte.
Das Urteil des LSG ist aus diesen Gründen aufzuheben. In der neuen Verhandlung wird das LSG folgendes zu beachten haben: Ein Abbruch der Behandlung iS des § 38 Abs 2 der Satzung der Beklagten (§ 182e Satz 2 Buchst a RVO) setzt weder eine auf deren Beendigung gerichtete bewußte Entscheidung des Familienhilfeberechtigten oder des Versicherten noch etwa eine darauf gerichtete Willenserklärung oder Feststellung voraus. Schon nach dem Sinn des Wortes Abbruch handelt es sich um eine Unterlassung insoweit, als die Behandlung nicht bis zum bestimmten Abschluß fortgesetzt wird. Der Abbruch bezieht sich auf die Behandlung, die entsprechend dem Behandlungsplan fortgesetzt werden sollte. Daher setzt ein Anspruch der Beklagten aus § 38 Abs 2 ihrer Satzung voraus, daß bestimmte, für das Behandlungsziel erforderliche Maßnahmen unterblieben sind. Welche Maßnahmen erforderlich sind, richtet sich nach dem Behandlungsplan. Dieser wird regelmäßig noch einer Konkretisierung in der Weise bedürfen, daß Zahnarzt und Patient einzelne Behandlungstermine vereinbaren. Allerdings wird nicht mit jeder Verzögerung oder jeder Versäumung eines Termins sogleich die Behandlung abgebrochen; ein Abbruch liegt aber grundsätzlich dann vor, wenn Verzögerungen oder Versäumungen dazu geführt haben, daß die Behandlung - insbesondere aus medizinischen Gründen - nicht mehr fortgesetzt werden kann. Liegt der Grund dafür allerdings im Verantwortungsbereich des Zahnarztes, etwa weil dieser eine Weiterbehandlung aus Gründen, die er zu vertreten hat, verweigert oder weil er die Behandlung für den Patienten unzumutbar macht, wird man nicht von einem Abbruch sprechen können. Eine Behandlung, deren Fortsetzung unmöglich geworden ist - etwa weil der Patient wegen einer längeren Erkrankung nicht in der Lage war, den Zahnarzt aufzusuchen - wird nicht abgebrochen.
Bei seiner erneuten Entscheidung wird das LSG auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen
Haufe-Index 1661830 |
BSGE, 272 |