Leitsatz (amtlich)

1. ArVNG Art 2 § 17 Abs 1 S 2 macht keine Ausnahme von der herkömmlichen Regel, daß die Wartezeit nur mit solchen Beitragszeiten erfüllt wird, aus denen die Anwartschaft erhalten ist.

2. 1. VereinfV Art 19 vom 1945-03-17 findet nur Anwendung, "sofern nicht der Versicherungsfall vor dem 1945-04-01 eingetreten ist". Nicht gilt hingegen Art 26 aaO, soweit er im Gegensatz zu Art 19 die Anwendung dieses Artikels auf "alle Versicherungsfälle" vorschreibt, "für die am 1945-03-31 ein das Versicherungsverhältnis abschließender rechtskräftiger Bescheid noch nicht ergangen ist".

 

Normenkette

SVVereinfV 1 Art. 26 Fassung: 1945-03-17; ArVNG Art. 2 § 17 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1945-03-17; SVVereinfV 1 Art. 19 Fassung: 1945-03-17

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 31. März 1960 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Die Klägerin beantragte im April 1956 die Bewilligung der Witwenrente aus der Invalidenversicherung ihres am 13. Oktober 1939 verstorbenen Ehemannes. Diesen Antrag lehnte die beklagte Landesversicherungsanstalt (LVA) mit Bescheid vom 20. September 1956 ab, weil der erhobene Leistungsanspruch nicht bestehe, da bei Eintritt des Versicherungsfalles die Anwartschaft erloschen gewesen sei. Die gegen den ablehnenden Verwaltungsakt erhobene Aufhebungs- und Leistungsklage hatte weder im ersten noch im zweiten Rechtszug Erfolg (Urteil des Sozialgerichts - SG - Nürnberg vom 31. Januar 1958; Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts - LSG - vom 31. Mai 1960).

Das Berufungsgericht stellte in tatsächlicher Hinsicht fest, daß für den Versicherten von November 1911 bis 13. Dezember 1924 zur Invalidenversicherung 389 Wochenbeiträge nachgewiesen und ferner bis April 1927 weitere 52 Wochenbeiträge glaubhaft gemacht seien. Daran knüpfte es rechtlich im Hinblick auf die §§ 1280 ff der Reichsversicherungsordnung (RVO) in der ursprünglichen Fassung und auf § 1265 RVO in der bis 1937 gültigen Fassung die Folgerung, daß die Versicherung nicht aufrechterhalten gewesen sei. Da zudem Ersatztatsachen für die Erhaltung der Anwartschaft nicht in dem nötigen Umfang dargetan und die Gesamtversicherungszeit nicht zur Hälfte mit Beiträgen belegt war - dazu hätte es einer Anzahl von 601 Wochenbeiträgen bedurft -, verneinte das Berufungsgericht ferner die Erfüllung der sogenannten Halbdeckung des § 1265 RVO (in der bis zum 31. Dezember 1956 geltenden Fassung). Selbst die seit Beginn des zweiten Weltkrieges wiederholt erleichterten Anwartschaftsbedingungen kamen nach Ansicht des Berufungsgerichts für die Klägerin nicht in Betracht. Dies erschien dem LSG in zwei Punkten zweifelsfrei: a) § 3 des Gesetzes über die Verbesserung der Leistungen in der Rentenversicherung vom 24. Juli 1941 (RGBl I 443) begünstige nur diejenigen Versicherungsverhältnisse, in denen seit dem 1. Januar 1924 wenigstens die Anzahl von Beiträgen aufgebracht worden sei, mit der die Wartezeit zurückgelegt werde; hier seien hingegen für den Versicherten höchstens 102 Wochenbeiträge seit 1923 aufgewendet worden. b) Zum anderen komme § 4 Abs. 2 des Sozialversicherungs-Anpassungsgesetzes (SVAG) nicht in Frage, weil der zeitliche Geltungsbereich dieses Rechtssatzes nicht über den 1. Januar 1949 hinaus in die Vergangenheit, also nicht auf einen Versicherungsfall des Jahres 1939 zurückreiche. Als weniger durchsichtig betrachtete das Berufungsgericht die Rechtslage nach Art. 19 der Ersten Verordnung zur Vereinfachung des Leistungs- und Beitragsrechts in der Sozialversicherung (VereinfVO) vom 17. März 1945 (RGBl I 41). Auch hier glaubte das Gericht aber, annehmen zu müssen, daß die Anwendung der genannten Vorschrift an ihrer begrenzten Rückwirkung scheitere. Obgleich der Versicherte sein Versicherungsverhältnis nicht schon vor dem 1. Januar 1924 habe einschlafen lassen und die tatbestandlichen Erfordernisse des Art. 19 VereinfVO sonach verwirklicht seien, verhelfe diese Bestimmung der Klägerin nicht zur Anspruchsberechtigung, weil der Versicherungsfall vor dem 1. April 1945 eingetreten sei.

Dagegen wendet sich die Revision der Klägerin. Sie hat das ihr am 12. Juli 1960 zugestellte Urteil, das die Revision zugelassen hat, mit dem am 3. August 1960 eingelegten und nach Verlängerung der Frist am 22. September 1960 begründeten Rechtsmittel angefochten. Sie beruft sich auf Art. 26 VereinfVO, wo es heißt, daß die Art. 17 bis 19 auf "alle Versicherungsfälle anzuwenden" seien, "für die am 31. März 1945 ein das Versicherungsverhältnis abschließender rechtskräftiger Bescheid noch nicht ergangen" sei. Aus dieser Formulierung will die Revision hergeleitet wissen, daß Art. 19 VereinfVO nicht nur dann zu beachten sei, wenn sich der Versicherungsfall nach dem genannten Stichtag ereignet habe, sondern auch dann, wenn dieses Ereignis zeitlich zwar früher liege, aber einer sachlichen Entscheidung des Versicherungsträgers nicht der Gesichtspunkt der Rechtskraft entgegenstehe.

Die Klägerin beantragt,

das angefochtene Urteil, das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 31. Januar 1958 sowie den Bescheid der Beklagten vom 20. September 1956 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr vom 1. Mai 1956 ab Witwenrente aus der Rentenversicherung ihres verstorbenen Ehemannes Georg M zu gewähren, gegebenenfalls die Witwenrente vom 1. Januar 1957 ab zuzusprechen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die kraft Zulassung statthafte, in rechter Form und Frist eingelegte und begründete Revision hat keinen Erfolg.

Die Klägerin erhebt einen Anspruch auf Hinterbliebenenrente, deren Beginn sie für eine Zeit vor Inkrafttreten des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) festgesetzt wissen will. Die Rechtsgrundlage ihres Anspruchs ist deshalb entsprechend Art. 2 §§ 5, 8, 17 ArVNG dem bis zum 31. Dezember 1956 geltenden Recht zu entnehmen. Da der Versicherte im Oktober 1939 gestorben ist, richtet sich die rechtliche Beurteilung der Sache gemäß Art. 2 § 17 Abs. 1 Satz 2 ArVNG u.a. danach, ob zur Zeit des Todes die Anwartschaft nach den zu diesem Zeitpunkt geltenden Vorschriften erhalten war. An dieser Stelle ist vorab einzuschalten: Der Zusatz "nach den zu diesem Zeitpunkt geltenden Vorschriften" kann hinweggedacht werden, ohne daß sich deshalb am Sinne der Vorschrift etwas ändert. Die erwähnten Worte können irreführen. Aus ihnen ließe sich die Absicht herauslesen, das ArVNG habe nur auf diejenigen Anwartschaften Rücksicht nehmen wollen, die "normalerweise", kraft der bereits bei Eintritt des Versicherungsfalls erlassenen Vorschriften Bestand hatten, und habe nicht diejenigen Anwartschaften respektieren wollen, die kraft Rückwirkung begünstigender Vorschriften nachträglich (wieder) hergestellt wurden. Später in Kraft getretene entgegenkommende Anwartschaftsregelungen seien demnach nicht mehr anwendbar, auch dann nicht, wenn sie sich auf zuvor entstandene Tatbestände zurückbezogen haben sollten. So ist die Übergangsvorschrift des Art. 2 § 17 ArVNG jedoch nicht zu verstehen. Sie will nicht die Rechtsvorteile, die früher einmal durch Änderungen des Anwartschaftsrechts mit Wirkung für zurückliegende Fälle begründet worden waren, wieder beseitigen. Daran war nach der mit § 17 aaO verfolgten gesetzgeberischen Absicht nicht gedacht.

Für die Anspruchsberechtigung der Klägerin bedeutet dies, daß die Anwartschaft aus dem Versicherungsverhältnis ihres verstorbenen Ehemannes nicht verfallen wäre, wenn man von der materiellen Regelung des Art. 19 VereinfVO vom 17. März 1945 ausgehen dürfte.

Nun setzt die Anwendung des Art. 19 aaO schlechthin und ein für allemal voraus, daß der Versicherungsfall nicht vor dem 1. April 1945 eingetreten sein darf. Demgegenüber ist in Art. 26 aaO eine abwandelnde, ja sogar gegenläufige Regelung getroffen worden, indem dort bestimmt wird, daß Art. 19 aaO auch für "alle" Versicherungsfälle der vorhergehenden Zeit gelte, wenn nur am 31. März 1945 "ein das Versicherungsverhältnis abschließender rechtskräftiger Bescheid noch nicht ergangen" sei. Etwas vereinfacht ausgedrückt: Art. 19 unterwirft selbst nur künftige Versicherungsfälle seiner Herrschaft; Art. 26 gebietet das Gegenteil; für das, was nach Art. 19 ohnehin rechtens ist - frühere Versicherungsfälle bleiben außer Betracht -, verlangt Art. 26 eine zusätzliche Voraussetzung: einen unanfechtbaren Verwaltungsakt mit näher bezeichnetem Inhalt. Während einerseits die Anwartschaftsgebote durch Art.19 bloß mit Wirkung für die Folgezeit weiter abgebaut werden, wird auf der anderen Seite der nämlichen Rechtsfolgeanordnung durch Art. 26 Rückwirkung beigelegt. Ein und derselbe Rechtssatz soll zugleich gelten und nicht gelten. In Art. 19 trifft man auf die Entschiedenheit einer zeitlichen Grenzziehung; der neuen Anwartschaftsordnung wird ein Anfang gesetzt. In Art. 26 stößt man hingegen auf den Willen, den Leistungsanspruch auch solchen Personen offenzuhalten, die eine Versicherungsleistung nicht mehr zu erwarten hatten, weil das hierfür auslösende Ereignis bereits in der Vergangenheit lag. Lediglich endgültige rechtskräftige Entscheidungen sollten nicht nachträglich wieder umgestoßen werden. Die VereinfVO trifft demnach zwei Regelungen, die unversöhnlich auseinanderstreben. Man vermag sich nicht vorzustellen, daß Art. 19, der es für den Beginn seiner Rechtsfolgeanordnungen auf einen Geschehensablauf nach dem Stichtag des 1. April 1945 abhebt, noch irgendwie Raum läßt für das Wirksamwerden des Art. 26. Jedes Bemühen, den Art. 26 etwa als Ergänzung zu Art. 19 aufzufassen, führt zu einer Mißachtung der in Art. 19 gezogenen Zeitgrenze. Der Versuch, die Disharmonie beider Vorschriften durch Auslegung - durch ein Ausgleichen oder ein Zusammenpassen der Normen - zu überwinden, ist zum Scheitern verurteilt (vgl. darüber die kritische Anmerkung zu der Entscheidung des LSG NRW vom 3. Dezember 1957, Breithaupt 1959, 129 ff auf S. 133, Fußn. 1).

Das hat das Berufungsgericht richtig erkannt. Es glaubte, den Normwiderspruch dadurch lösen zu können, daß es dem Art. 19 aaO den Vorzug gab. Dazu sah es sich angesichts der von ihm angenommenen Rangfolge der einschlägigen Vorschriften befugt. Diese Rangfolge leitete es aus dem systematischen Zusammenhang ab, in den die fraglichen Rechtssätze durch ihre Einordnung in die VereinfVO hineingestellt sind. Daraus folgerte das LSG: Art. 19 müsse kraft seiner Eigenart als "Hauptbestimmung", die eine materielle Regelung betreffe, dem Art. 26 als einer "Übergangs- und Schlußvorschrift" vorgehen; oder umgekehrt formuliert: eine Schlußbestimmung, wie die des Art. 26 vermöge schon wegen der ihr innewohnenden nach- und untergeordneten Funktion eine Hauptbestimmung nicht für null und nichtig zu erklären (zu "annullieren"). - An dieser Erwägung ist zutreffend, daß sich die Aufgabe einer reinen Übergangsvorschrift darin erschöpft, das reibungslose Ineinandergreifen von alter und neuer Ordnung zu gewährleisten. Im Abgrenzen von vergehendem zu kommendem Recht und im Zueinanderfügen gleitender Übergänge erweist sich der akzessorisch dienende Charakter der zwischenzeitlichen Regel. Indessen ist diese Eigenschaft nicht allein für Art. 26, sondern ebenso für Art. 19 kennzeichnend, und zwar in dem hier in Betracht kommenden Teil. - Das muß auch so sein, denn sonst läge der angenommene Normwiderspruch in Wirklichkeit nicht vor. - Durch die Textstelle in Art. 19 aaO "sofern nicht der Versicherungsfall vor dem 1. April 1945 eingetreten ist" wird gerade der Einschnitt markiert, nach dem es sich entscheidet, ob der Rechtssatz nach seinem zeitlichen Geltungswillen das streitige Rechtsverhältnis erfaßt. Also auch dem Art. 19 kommt in der erwähnten Hinsicht die Eigentümlichkeit einer "bescheidenen" Übergangsregel zu.

Freilich kann es nicht völlig belanglos sein, daß die zitierte Übergangsklausel unmittelbar in Art. 19 hineinverwoben ist. Ihre örtliche Nähe zum eigentlichen materiellen Kern der Vorschrift verleiht ihr ein stärkeres Gewicht als dem Art. 26. Es drängt sich die Vermutung auf, daß der Verordnungsgeber das erste und nicht das zweite gewollt habe. Verstärkt wird dieses Argument - wie das Berufungsgericht ebenfalls mit Recht aufgezeigt hat - durch die Entstehungsgeschichte. Im Entwurf des damaligen Reichsarbeitsministers zu einer "Verordnung zur Vereinfachung des Leistungs- und Beitragsrechts in der Sozialversicherung" aus dem Jahre 1944 (Gesch.Z.: Zu II 578/443) war eine Auflockerung des Anwartschaftsrechts in dem Ausmaß, wie sie Art. 19 aaO schließlich brachte, noch nicht geplant. Zunächst war daran gedacht, die sogenannte Halbdeckung zum alleinigen Grundprinzip für die Anwartschaftserhaltung zu machen, und es darüber hinaus - ersatzweise - in Fortbildung des § 3 des Leistungsverbesserungsgesetzes genügen zu lassen, wenn 260 Wochenbeiträge oder 60 Monatsbeiträge nach dem 1. Januar 1924 entrichtet worden wären. Dazu war in Art. 36 des Entwurfs eine Übergangsbestimmung ins Auge gefaßt, die im wesentlichen bereits die Fassung des Art. 26 der Verordnung hatte. Als aber später die im Entwurf niedergelegten Absichten nicht verwirklicht wurden, vielmehr das Anspruchselement der Anwartschaft fast völlig seines Inhalts entleert wurde, mochte es naheliegen, die zeitliche Reichweite der betreffenden Norm - d.i. Art. 19 aaO - nicht auf vorher unwiederbringlich abgelaufene Versicherungsverhältnisse zu erstrecken. Dieses Ziel wäre erreicht worden, würde Art. 19 nicht mehr in Art. 26 erwähnt worden sein. Daß die Bezugnahme dennoch nicht unterblieb, hält das Berufungsgericht für ein Redaktionsversehen, für einen Fehler, der als solcher offen zutage trete. Es habe den Anschein, als habe der Verordnungsgeber bei der Neuformulierung des Art. 19 die Antinomie zu der schon im Entwurf vorhandenen Schlußvorschrift des Art. 26 nicht bemerkt.

Der erkennende Senat hat keine Bedenken, dem Berufungsgericht beizupflichten und anzuerkennen, daß man es bei dem Gegeneinander der Verordnung mit einem Redaktionsversehen zu tun hat.

Dem bliebe dann nur noch hinzuzufügen, daß der Mangel in der Verlautbarung allein den Art. 26 beträfe. Daher enthielte denn lediglich Art. 19 die ausschlaggebende Übergangsbestimmung.

Diesem Vorschlag des LSG ist sicher im Ergebnis und weitgehend auch in den Einzelheiten der Begründung zu folgen. Gewisse Bedenken stellen sich allerdings der Annahme eines - zur Berichtigung ermächtigenden - offensichtlichen Redaktionsversehens entgegen. Immerhin hat der Verordnungsgeber doch bei der endgültigen Abfassung der VereinfVO nicht bloß die Numerierung der einzelnen Artikel geändert, sondern auch die inhaltliche Regelung einheitlich auf einen gemeinsamen Stichtag abgestellt. In dieser Beziehung will ferner bedacht sein, daß dieser Stichtag nicht mit dem Tage des Inkrafttretens der VereinfVO oder auch nur des Art. 19 zusammenfällt. Für das letztere wird vielmehr in Art. 25 Abs. 1 der 1. Mai 1945 festgesetzt. Erst von da ab sollte Art. 19 als positives Recht gelten und befolgt werden. Lediglich für das nach Art. 19 rechtlich Genormte, für die der Sachverhaltsbeurteilung zugrunde zu legenden versicherungsrechtlichen Maßstäbe, erhielt der Stichtag des 1. April 1945 seine Bedeutung. Stellt man diese Unterschiede in der Zeit des Inkrafttretens und des Gültigkeitsbeginns in Rechnung und bedenkt man, daß auch diese Differenzierungen nicht schon im Entwurf der Verordnung vorgesehen waren, sondern erst später vorgenommen worden sind, dann ist es nicht mehr völlig von der Hand zu weisen, daß der Verordnungsgeber sowohl die Aussage des Art. 19 als auch das in Art. 26 Niedergelegte ernstlich gemeint hat. Ein oberflächlicher, dem wirklichen oder auch nur mutmaßlichen Willen widerstreitender Fehlgriff muß nicht allein die Ursache des festgestellten Normwiderspruchs sein. Hat aber die mangelnde Folgerichtigkeit der Verordnung ihre Wurzel in einer tieferen Schicht der Bewußtseins- und Willensbildung, hat der Verordnungsgeber gar die einander zuwiderlaufenden Normen beide tatsächlich gewollt, dann kann von einer augenfälligen Unrichtigkeit nicht die Rede sein. Von einem offensichtlichen Redaktionsversehen, wie es das Berufungsgericht unterstellt, kann nach dem Tatbestand dieses Begriffs nur ausgegangen werden, wo Klarheit und Gewißheit über die Gebotsvorstellungen des Gesetzgebers bestehen. Daran fehlt es hier.

Zwar spricht die größere Wahrscheinlichkeit dafür, daß der Vorteil des neuen Anwartschaftsrechts nur bei denjenigen Verhältnissen eingreifen sollte, bei denen am 1. April 1945 das Ereignis noch nicht stattgefunden hatte, dessen nachteiligen Folgen die Versicherung entgegenwirkt. Daß es so sein muß, ist gleichwohl nicht mit zureichender Sicherheit auszumachen. Zwei einander unverträgliche Rechtsgebote in einer und derselben Verordnung können nicht nebeneinander bestehen bleiben. Geht keine Norm der anderen vor - etwa aus Gründen der Priorität, der Spezialität, der Subsidiarität -, so heben sie einander auf. Es entsteht infolgedessen eine "Kollisionslücke", die der Richter im Rahmen anerkannter Prinzipien und bewährter Lehrsätze auszufüllen hat (vgl. statt vieler: Engisch Einheit der Rechtsordnung, Heidelberg 1935, S. 41 ff, 42, 50). Das Resultat, das hierbei herausspringt, läuft im vorliegenden Falle darauf hinaus, daß die eine der miteinander unvereinbaren Normen wenigstens dem Inhalt nach doch aufrechterhalten bleibt. Dafür ist auf den allgemeinen Leitgedanken zurückzugehen, daß der Gesetzgeber bei Rechtsänderungen im Zweifel nur diejenigen Rechtsverhältnisse der Herrschaft des neuen Rechts hat unterwerfen wollen, die ihrem Wesen nach dem zeitlichen Geltungsbereich dieses Rechts angehören (RGZ 99, 225; 104, 30). Das Bestehen eines Leistungsanspruchs hängt regelmäßig davon ab, daß die Voraussetzungen für den Anspruchserwerb bereits zur Zeit ihrer Verwirklichung rechtlich normiert waren (vgl. Kaskel-Sitzler, Grundriß des sozialen Versicherungsrechts, 1912, 30 f; Enneccerus-Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts I, 1952, § 58 I 3). Neue Vorschriften beeinflussen die bei ihrem Erlaß nicht mehr fortbestehenden, ja völlig der Vergangenheit angehörenden Rechtsbeziehungen nur, wenn dies unmißverständlich angeordnet ist (vgl. Grundsätzliche Entscheidung des RVA 2794 An 1924, 114; BSG 1, 55; 6, 115; RGZ 104, 30). - Wie man sieht, kommt schon Art. 19 den Angehörigen der gesetzlichen Rentenversicherung außerordentlich weit entgegen; längst abgerissene Anwartschaftsfäden werden wieder aufgenommen; durch Beitragsversäumnisse untergegangene Rechtspositionen leben wieder auf. Daß dies nur laufenden Versicherungen zugute kommen sollte, war, wie gesagt, durchaus natürlich. Doch dies ist der sachliche Kern der Vorschrift. Übergangsrechtlich - mit der Formel "sofern nicht der Versicherungsfall vor dem 1. April 1945 eingetreten ist" - wiederholt Art. 19 bloß eine allgemeine Richtlinie. Im Vergleich dazu postuliert Art. 26 das Besondere, das nicht ohne weiteres zu Erwartende. Diese Ausnahme vermöchte sich lediglich dann durchzusetzen, wenn sie unwidersprochen Geltung hätte. Wogegen der Gedanke des Art. 19 auch gilt, wenn über sein Wirksamwerden nichts bestimmt ist. Daran muß man sich in dieser Sache halten.

Ist nun schließlich zwischen dem in Art. 19 bezeichneten Datum des 1. April 1945 und dem Termin des Inkrafttretens (Art. 25 Abs. 1 VereinfVO: 1. Mai 1945) zu wählen, so ist dem - insoweit in Art. 19 und Art. 26 gleichgerichteten - Willen des Verordnungsgebers zu folgen. Dieses Ergebnis wird durch das ArVNG (Art. 2 §§ 8, 17) als richtig bestätigt. Darin geht der Gesetzgeber des Reformgesetzes aus dem Jahre 1957 ebenfalls von der Erwägung aus, daß der grundlegende Rechtswandel der Anwartschaftsvorschriften auf den Zeitpunkt des 1. April 1945 zu beziehen sei.

Aus Art. 2 § 17 Abs. 1 Satz 2 ArVNG ist fernerhin abzuleiten, daß der Klägerin die Hinterbliebenenrente auch nicht für die Zeit ab 1. Januar 1957 zu gewähren ist. Die Rentenrechtsreform hat die dargestellte Rechtslage unverändert gelassen, soweit ein Versicherter vor dem 1. April 1945 verstorben war. In bezug auf diese Gegebenheit ist es bei der Forderung geblieben, daß die Anwartschaft nach den bei dem Tod des Versicherten vorherrschenden Vorschriften erhalten gewesen sein müsse.

Diese Voraussetzung ist im vorliegenden Falle bestenfalls - gemäß § 3 des Leistungsverbesserungsgesetzes vom 24. Juli 1941 - mit den nach dem 1. Januar 1924 bewirkten 102 Wochenbeiträgen verwirklicht. Die für die Wartezeiterfüllung benötigte Beitragsmenge von 260 Beitragswochen liegt sonach nicht vor. Denn die außerdem in einer größeren Zahl vor dem 1. Januar 1924 aufgewendeten Beiträge sind nicht allein anwartschaftlich, sondern schlechthin für die Anspruchsberechtigung wertlos. Ist doch als Beitragswoche im Sinne des Art. 2 § 17 Abs. 2 ArVNG nicht jede Woche zu verstehen, für die irgend einmal ein rechtmäßiger Beitrag erlegt worden ist, sondern nur diejenige Woche, welcher zur Zeit des Versicherungsfalls ein gegenwärtig rechtsgültiger Beitrag entspricht. Dies folgt aus der Wirkungsweise des Rechtsinstituts der Anwartschaft. Daran hält § 17 Abs. 1 Satz 2 aaO - entgegen einer in der sozialgerichtlichen Rechtsprechung vertretenen Meinung - fest. Aus der Funktion der Anwartschaft ergibt sich ihre enge Verquickung mit der Wartezeitbedingung. Die Kriterien der Anwartschaft und Wartezeit sind ineinander verzahnt, gleichsam die zwei Seiten ein und desselben Gebildes. Die Anwartschaft ist das anfängliche, die Wartezeit erzeugende, fördernde und erhaltende Element (vgl. Gérard, Die Bedeutung der Anwartschaft in der sozialen Gesetzgebung des Deutschen Reiches, Karlsruhe 1914, 25; Rosin, Das Recht der Arbeiterversicherung I 1893, 440; II 1905, 556). Von dieser Eigentümlichkeit werden der Aufbau und die Gestaltung des Rentenanspruchs bestimmt. Davon geht ebenfalls § 17 Abs. 1 Satz 2 aaO aus.

Freilich verhält sich der Wortlaut des Gesetzes zu diesem Punkt scheinbar unentschieden. Die verschiedenen Zeitformen, die das Gesetz verwendet, indem es sagt, daß "Hinterbliebenenrente gewährt (werde), wenn ... die Anwartschaft erhalten war und die Wartezeit nach Abs. 2 als erfüllt gilt", dürfen gleichwohl nicht irreleiten. Daß das Gesetz sich einmal der Vergangenheitsform ("war") und das andere Mal der Gegenwartsform ("gilt") bedient, hat nicht die Bewandtnis, das Institut der Anwartschaft über die Auflockerungen der bisherigen gesetzlichen Maßnahmen hinaus zu verselbständigen und es seiner eigentlichen Aufgabe zu entkleiden, die es als Bindeglied zwischen der Gesamtheit der anrechenbaren und damit für die Wartezeitvollendung erheblichen Beiträge wahrzunehmen hat. Die Gesetzesfassung - der Wechsel vom "war" zum "gilt" - rührt daher, daß mit § 17 Abs. 2 aaO über den Umfang der Wartezeit neue, für die Vergangenheit gegebene Regelungen getroffen worden sind: daß es auf dem Boden des ArVNG als Wartezeiterfüllung "gilt", wenn diesen Regeln - in rückschauender Besicht - genügt ist, und zwar ungeachtet der Frage, ob die Wartezeit nach bisherigem Recht als erfüllt anzusehen gewesen wäre oder nicht. Dem Gesetzgeber war darum zu tun, das verwickelte gewordene Wartezeitrecht zu vereinheitlichen, zu vereinfachen und übersichtlich zu ordnen. Der Wille, für die hier in Betracht zu ziehenden Altfälle das Rechtsgebilde der Wartezeit aus seiner inneren Abhängigkeit und Umklammerung von der Erscheinungsform der Anwartschaft zu lösen, kommt hingegen im Gesetz nicht zum Ausdruck. Vielmehr schreibt § 17 Abs. 1 Satz 2 aaO gerade ausdrücklich vor - und dies sollte der wesentliche Gesichtspunkt sein -, daß die Anwartschaft "zur Zeit des Todes des Versicherten nach den zu diesem Zeitpunkt geltenden Vorschriften" erhalten gewesen sein müsse. An der vollen Reichweite der herkömmlichen Anwartschaftsstruktur und damit an den Merkmalen für die Zugehörigkeit des einzelnen Versicherten zur Versicherung wurde nicht gerüttelt.

Überdies besteht kein Anhalt dafür, daß ein solches Vorhaben während der Gesetzesberatungen erörtert worden sei. Im Gegenteil, dem § 17 liegen offenbar die gleichen oder ähnliche Erwägungen zugrunde wie dem § 8 desselben Artikels (Deutscher Bundestag, 1953, Schriftlicher Bericht des Ausschusses für Sozialpolitik, Drucksache 3080, zu § 16 des Art. 2 des Entwurfs). So wie dort, sollte oben auch hier für Ansprüche auf Rente aus älteren Versicherungsfällen der "Grundsatz der Unverfallbarkeit der Beiträge" nicht durchgeführt werden (so der Bericht des Ausschusses für Sozialpolitik). Damit stimmen die im gleichen Zusammenhang geschaffenen Bestimmungen des Angestellten- und des Knappschaftsversicherungsrechts überein (Art. 2 § 17 AnVNG; Art. 2 § 13 KnVNG). Beide Reformgesetze geben für das Verständnis der hier einschlägigen Vorschrift einen bedeutsamen Fingerzeig, weil sich der Inhalt der miteinander verglichenen drei Normen nahezu vollständig deckt und weil ihnen dieselben Interessenbewertungen und Zielvorstellungen des Gesetzgebers gemeinsam sind. Deshalb ist nicht nur der angestellte Vergleich, sondern auch die Einsicht gerechtfertigt, daß die Anwartschaftsfrage in allen Übergangsbestimmungen gleichlautend beantwortet worden ist. Anderenfalls wäre es schwer verständlich, daß das Gesetz in Satz 2 des § 17 Abs. 1 aaO überhaupt die Anwartschaftserhaltung verlangt und nicht einfach ganz generell, ohne Rücksicht auf den Stichtag des 1. April 1945 die Ordnung des Satzes 1 der genannten Bestimmung, nämlich die Verweisung auf Art. 2 § 8 ArVNG und damit auf § 1249 RVO nF, gelten läßt.

Aus diesen Gründen hat das LSG zutreffend erkannt, daß für die Wartezeiterfüllung nur solche Beitragszeiten berücksichtigt werden können, die durch eine ununterbrochene Anwartschaftskette miteinander verbunden sind. Da im Falle der Klägerin diesem Tatbestandserfordernis nicht entsprochen wird, konnte ihr die Rente auch nicht zugesprochen werden.

Die Vorinstanzen haben sonach die Klage zu Recht abgewiesen. Auch die Revision war mit der aus § 193 Abs. 4 SGG folgenden Kostenentscheidung zurückzuweisen.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2530028

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