Leitsatz (amtlich)
Geht das Gericht bei der Entscheidung über die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten (AVG § 23 Abs 2) von anderen "verweisbaren" Tätigkeit aus als das Gutachten, das nach SGG § 109 erstattet worden ist, so kann das Gericht verpflichtet sein, den Kläger auf die Möglichkeit hinzuweisen, den Antrag nach SGG § 109 zu ergänzen oder zu erneuern.
Normenkette
SGG § 106 Abs. 1 Fassung: 1958-06-25, § 109 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03; AVG § 23 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 6. Juli 1965 wird aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die Klägerin, geb. am 1. November 1909, war nach einer kaufmännischen Lehre von 1925 bis 1936 als Kassiererin und sodann bis November 1961 als Telefonistin tätig. Sie beantragte im September 1961, ihr eine Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren.
Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 1. Februar 1962 ab, weil die Klägerin nach dem Gutachten des Internisten Dr. R trotz ihrer Gesundheitsstörungen (vegetative Dystonie, Zustand nach Fersenbeinbruch, leichte Anämie) leichte bis mittelschwere Arbeiten zu ebener Erde, teils im Sitzen, teils im Stehen noch verrichten und auch als Kassiererin und Telefonistin noch 6 bis 8 Stunden täglich arbeiten könne. Mit der Klage legte die Klägerin eine Bescheinigung des prakt. Arztes Dr. de B vor; darin heißt es, die Klägerin leide zusätzlich an Wirbelsäulenbeschwerden, insbesondere im Schulterbereich und am Steißbein, sie sei deshalb zu einer längeren sitzenden Tätigkeit als Telefonistin oder Kassiererin nicht mehr in der Lage. Das Sozialgericht (SG) Frankfurt zog weitere ärztliche Unterlagen heran, ua ein Gutachten des Internisten Dr. M und einen Röntgenbefundbericht des Dr. Z. Die Klägerin wies besonders auf ihre Wirbelsäulenbeschwerden hin; sie beantragte, nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ein Gutachten des Orthopäden Prof. Dr. T einzuholen. Das SG holte ein Gutachten des Prof. Dr. T ein über die Frage, "ob die Klägerin als Telefonistin aufgrund der orthopädischen Befunde in Verbindung mit den von Dr. M internistischerseits erhobenen Befunden mehr als die Hälfte erwerbsgemindert ist und wieviel Stunden sie täglich (unter welchen Voraussetzungen) als Telefonistin noch tätig sein kann". Prof. Dr. T vertrat die Ansicht, daß die Klägerin "nur noch weniger als 50 v. H. von dem zu verdienen vermag, was ein Gesunder mit gleicher Ausbildung verdienen kann". Das SG zog darauf noch ein Gutachten des Facharztes für Orthopädie Dr. M bei; Dr. M war der Meinung, für einen nur gehenden oder stehenden Beruf sei Berufsunfähigkeit der Klägerin anzunehmen; den Beruf einer Kassiererin bzw. Telefonistin, in dem vorwiegend im Sitzen zu arbeiten sei, könne die Klägerin aber noch ausüben, zumal die Veränderungen an der Wirbelsäule nicht besonders schwer seien. Mit Urteil vom 26. November 1964 wies das SG die Klage ab; es hielt die Klägerin als Telefonistin oder Kassiererin noch nicht für berufsunfähig; es folgte den Gutachten der Ärzte Dr. M und Dr. M.
Mit der Berufung überreichte die Klägerin eine ergänzende Stellungnahme des Prof. Dr. T; darin ist ausgeführt, Dr. M habe die orthopädische Schädigung der Klägerin an der Wirbelsäule für eine sitzende Tätigkeit unterbewertet, beim Sitzen wirkten sich die Wirbelsäulenveränderungen der Klägerin besonders schmerzhaft und nachteilig aus.
Das Landessozialgericht (LSG) wies die Berufung mit Urteil vom 9. Juli 1965 zurück: Bei der Beurteilung der Berufsunfähigkeit sei entgegen der Ansicht der Klägerin nicht nur von den von ihr zuletzt ausgeübten Tätigkeiten einer Kassiererin oder Telefonistin auszugehen; zu dem Kreis der Tätigkeiten, auf die die Klägerin verwiesen werden könne, gehörten vielmehr alle Bürotätigkeiten einer kaufmännischen Angestellten; die Veränderungen an der Wirbelsäule beeinträchtigten die Klägerin in ihrem Beruf als kaufmännische Angestellte in anderen Tätigkeiten als denen einer Kassiererin und Telefonistin nur unwesentlich; das habe Dr. M überzeugend dargelegt; zudem sei eine Linderung der Wirbelsäulenbeschwerden durch das Tragen eines Stützmieders möglich. Das Gutachten von Prof. Dr. T sei hinsichtlich der Schlußfolgerungen nicht überzeugend, weil es auf diesen Umstand nicht eingehe, auch außer acht lasse, daß bei der Beurteilung der Berufsunfähigkeit der Klägerin nicht nur von den Tätigkeiten einer Kassiererin oder Telefonistin auszugehen sei und weiter nicht berücksichtige, auf welchen Kreis von Tätigkeiten die Klägerin zu verweisen sei.
Die Klägerin legte fristgemäß und formgerecht gegen das Urteil des LSG Revision ein.
Sie beantragte,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Klägerin rügte, das LSG habe die Verfahrensvorschriften der §§ 103, 128, 106 und 109 SGG verletzt.
Die Beklagte stellte keinen Antrag.
II
Die Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft. Die Klägerin rügt zu Recht, das Verfahren des LSG leide an einem wesentlichen Mangel.
Das LSG hat Berufsunfähigkeit der Klägerin im Sinne des § 23 Abs. 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) verneint; dabei ist es nicht nur von den von ihr zuletzt ausgeübten Tätigkeiten (Kassiererin, Telefonistin) ausgegangen, es hat vielmehr die Klägerin auf alle kaufmännischen Arbeiten (ohne besondere geistige Verantwortung) in Büros oder Registraturen verwiesen; es hat die Beurteilung der beruflichen Leistungsminderung der Klägerin durch ihr Wirbelsäulenleiden auf das - von dem SG eingeholten - Gutachten des Orthopäden Dr. M gestützt; das Gutachten des Orthopäden Prof. Dr. T - das vom SG auf Antrag der Klägerin (§ 109 SGG) eingeholt worden ist - hat es "hinsichtlich der gezogenen Schlußfolgerung", daß "die Klägerin nur noch weniger als 50 v. H. von dem zu verdienen vermag, was ein Gesunder mit gleicher Ausbildung verdienen kann", nicht für überzeugend gehalten, weil "es außer acht läßt, daß bei der Beurteilung der Berufsunfähigkeit der Klägerin nicht nur von der Tätigkeit einer Kassiererin oder Telefonistin auszugehen ist und weiter unberücksichtigt läßt, auf welchen Kreis der Tätigkeiten die Klägerin zu verweisen ist". Damit hat das LSG ein Gutachten, das nach § 109 SGG eingeholt worden ist, abschließend gewürdigt, obgleich Veranlassung bestanden hat, vor Abschluß der Beweisaufnahme nochmals den Antrag der Klägerin nach § 109 SGG zu erörtern. Prof. Dr. T ist nämlich in dem nach § 109 SGG eingeholten Gutachten bei der Beurteilung der Erwerbsfähigkeit der Klägerin von den Tätigkeiten einer Kassiererin oder Telefonistin ausgegangen, weil sich allein darauf die Frage des SG bezogen hat; das SG hat nicht erörtert, ob die Klägerin möglicherweise auch auf andere als die zuletzt ausgeübten Berufe verwiesen werden kann. Wenn das LSG - entgegen der Ansicht des SG - zu der Auffassung gekommen ist, die Klägerin sei nicht nur auf die sitzenden Tätigkeiten als Kassiererin und Telefonistin, sondern auch auf andere kaufmännische Tätigkeiten zu verweisen, die im Wechsel von Gehen und Sitzen zu verrichten sind, so hat sich daraus ergeben, daß dem Gutachter nach § 109 SGG - vom Standpunkt des LSG aus - eine (zu enge und damit) unrichtige Beweisfrage gestellt worden ist. Der Antrag der Klägerin nach § 109 SGG hat dadurch jedenfalls zum Teil sein Ziel verfehlt; das Gutachten nach § 109 SGG hat die Frage, auf die es nach der Rechtsauffassung des LSG angekommen ist, nur unvollständig beantwortet. Die Klägerin hat den Antrag nach § 109 SGG nicht nur gestellt, um zu beweisen, daß sie als Telefonistin oder Kassiererin berufsunfähig sei, sie hat vielmehr mit ihrem Antrag nach § 109 SGG begehrt, daß der Arzt ihres Vertrauens ihre gesundheitliche Leistungsminderung (auf orthopädischem Gebiete) hinsichtlich aller für sie in Betracht kommenden beruflichen Tätigkeiten beantworten solle. Das LSG hat dem Sachverständigen insoweit die Tatsachen, auf die es nach seiner - vom SG abweichenden - Auffassung bei der medizinischen Beurteilung angekommen ist, noch mitteilen müssen. Es hat kein Anhalt für die Annahme bestanden, der Antrag der Klägerin nach § 109 SGG beziehe sich nur auf die Tätigkeit in dem Beruf der Kassiererin oder Telefonistin; das LSG hat deshalb nicht daran vorbeigehen dürfen, daß auf den - beim SG gestellten - Antrag der Klägerin nach § 109 SGG bisher zwar ein Gutachten darüber eingeholt worden ist, inwieweit die Klägerin als Telefonistin oder Kassiererin in ihrer Erwerbsfähigkeit beeinträchtigt sei, daß aber ein Gutachten nach § 109 SGG zu der Frage, wie die Erwerbsfähigkeit der Klägerin für die - nach Ansicht des LSG - sonst noch in Betracht kommenden Tätigkeiten zu beurteilen sei, noch nicht vorgelegen hat, es hat, wenn es in der Frage der Verweisungsmöglichkeiten zu einer anderen Rechtsansicht gelangt ist als das SG, auch darauf achten müssen, daß das Recht der Klägerin aus § 109 SGG nicht geschmälert wird; es hat das Gutachten nach § 109 SGG nicht dadurch entwerten dürfen, daß es - für die Klägerin überraschend - von einer Verweisungsmöglichkeit ausgegangen ist, die das SG in seinen Gutachtenauftrag nicht einbezogen und zu der sich der Gutachter deshalb auch nicht geäußert hat. Das LSG hat daher, wenn es nicht von sich aus eine Ergänzung des Gutachtens des Prof. Dr. T hat veranlassen wollen, jedenfalls die Klägerin auf den "neuen rechtlichen Gesichtspunkt", daß sie nicht nur auf die zuletzt ausgeübten Tätigkeiten als Telefonistin und Kassiererin, sondern auch auf andere Tätigkeiten verwiesen werden könne und daß dies in der medizinischen Beurteilung des Prof. Dr. T über ihre Berufsfähigkeit bisher nicht berücksichtigt sei, hinweisen müssen; es hat klären müssen, ob die Klägerin unter diesen Umständen nicht eine ergänzende Anhörung des Prof. Dr. T oder die Anhörung eines anderen Arztes nach § 109 SGG über die richtige Beweisfrage begehrt; es hat einem solchen Antrag - falls keine Ablehnungsgründe nach § 109 Abs. 1 Satz 2 SGG und Abs. 2 SGG vorgelegen haben - auch entsprechen müssen. Da das LSG dies nicht getan hat, hat es seiner Klarstellungspflicht (§ 106 Abs. 1 SGG) nicht ausreichend genügt.
Zwar gehört es im allgemeinen nicht zu den Pflichten des Gerichts, nach § 106 Abs. 1 SGG die Beteiligten auf die Möglichkeiten eines Antrages nach § 109 SGG hinzuweisen; eine solche Pflicht kann aber durch die besonderen Verhältnisse geboten sein (vgl auch Beschl. des BSG vom 23.10.57, SozR Nr. 8 zu § 109 SGG). In vorliegenden Fall ist die erneute Erörterung des Antrages nach § 109 SGG durch die besonderen Verhältnisse geboten gewesen, weil der Antrag nach § 109 SGG, den die Klägerin vor dem SG gestellt hat, nach der Rechtsauffassung, von der das LSG bei seiner Entscheidung ausgegangen ist, nicht zweckdienlich und sachgerecht erledigt worden ist und die Klägerin dies nicht ohne weiteres hat erkennen können.
In diesem Verstoß gegen § 106 Abs. 1 SGG liegt ein wesentlicher Mangel des Verfahrens; die Klägerin hat diesen Mangel in der nach § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG gebotenen Form gerügt. Die Revision ist daher nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft und zulässig. Es kann dahingestellt bleiben, ob die weiteren Verfahrensrügen der Klägerin durchgreifen. Die Revision ist auch begründet. Es ist möglich, daß das LSG zu einem anderen Ergebnis kommt, wenn es seiner Klarstellungspflicht genügt und entweder das Gutachten nach § 109 SGG ergänzen läßt oder die Klägerin einen anderen Antrag nach § 109 SGG stellt und so die Beweisunterlagen ergänzt werden. Das Urteil des LSG ist daher aufzuheben; gleichzeitig ist die Sache zu neuer Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 2 SGG).
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen