Leitsatz (amtlich)
1. Eine unterschiedslose, pauschale Verweisung von Facharbeitern auf "Überwachungs- und Kontrollarbeiten" genügt nicht für die Verneinung der Berufsunfähigkeit (RVO § 1246 Abs 2).
2. Die Zumutbarkeit der für einen gelernten Arbeiter in Erwägung gezogenen Verweisungstätigkeiten iS von RVO § 1246 Abs 2 S 2 ist vielmehr grundsätzlich konkret anhand von tarifvertraglichen Lohngruppen und bezogen auf die geistige und körperliche Leistungsfähigkeit des Versicherten zu prüfen (Anschluß an und Bestätigung von BSG 1978-11-28 5 RKn 10/77 und BSG 1978-12-20 4 RJ 23/78).
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 13.03.1978; Aktenzeichen L 2 J 143/77) |
SG Koblenz (Entscheidung vom 08.06.1977; Aktenzeichen S 6 J 357/76) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 13. März 1978 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob dem Kläger Rente wegen Berufsunfähigkeit zusteht (§ 1246 der Reichsversicherungsordnung - RVO -).
Von 1946 bis Oktober 1974 war der im Jahre 1927 geborene Kläger als Maurer versicherungspflichtig beschäftigt. Anschließend erhielt er Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung und von April bis Juli 1975 war er arbeitsunfähig krank. Seinen Rentenantrag vom 7. Mai 1976 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 29. Juni 1976 ab, weil der Kläger noch in der Lage sei, seiner Tätigkeit als Maurer nachzugehen, wenn er sein linkes Bein wickele, eine ganztägige Stehbelastung nicht erforderlich werde und er die Arbeit im Wechsel zwischen Gehen, Stehen und Sitzen verrichte.
Klage und Berufung des Klägers sind ohne Erfolg geblieben (Urteile des Sozialgerichts - SG - vom 8. Juni 1977 und des Landessozialgerichts - LSG - vom 13. März 1978). Das LSG ist von einem Hauptberuf des Klägers als gelernter Maurer ausgegangen, den er nicht mehr verrichten könne. Für die Verweisung genüge es, die Art der zumutbaren Tätigkeit so allgemein und doch so hinreichend bestimmt zu bezeichnen, wie es das Bundessozialgericht (BSG) in der Entscheidung vom 6. Februar 1976 (- 4 RJ 125/75 -, Die Sozialversicherung 1976, 188) getan habe. Das Berufungsgericht hat die Revision zugelassen, weil es sich um eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung handele, ob die einem Facharbeiter zumutbare Verweisungstätigkeit aufgrund von Nachforschungen in Tarifverträgen konkret bezeichnet und ermittelt werden müsse.
Der Kläger hat dieses Urteil mit der Revision angefochten. Er beruft sich auf die Rechtsprechung des Senats, wonach ein Facharbeiter in der Regel nur auf diejenigen ungelernten Tätigkeiten verwiesen werden könne, die wie Anlerntätigkeiten eingestuft seien.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 13. März 1978, das Urteil des SG Koblenz vom 8. Juni 1977 sowie den Bescheid der Beklagten vom 29. Juni 1976 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm Rente wegen Berufsunfähigkeit ab 1. Juni 1976 zu gewähren;
hilfsweise,
die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 13. März 1978 zurückzuweisen.
Sie ist der Ansicht, bei der Verweisung des Klägers auf ungelernte Tätigkeiten seien keine konkreten Feststellungen erforderlich. Vielmehr genüge es, wie vom LSG dargetan, ihn auf das weite Feld der Revisions- und Überwachungstätigkeiten, der Anlagenkontrollen, der Meßwart- und Schalttafeltätigkeiten und dergleichen zu verweisen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision des Klägers hat insofern Erfolg, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen wird. Die festgestellten Tatsachen reichen zur abschließenden Entscheidung nicht aus.
Das Berufungsgericht hat unangegriffen festgestellt, "bisheriger Beruf" im Sinne des § 1246 Abs 2 RVO sei die Tätigkeit des Klägers als gelernter Maurer gewesen, die er aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr verrichten könne. Leichte und mittelschwere Arbeiten ohne ständige Stehbelastung könne er in vollen Schichten verrichten. Die Verweisung des Klägers durch das LSG ganz allgemein auf Überwachungs- und Kontrollarbeiten, Apparatebedienung, Tätigkeiten als Lager- und Geräteverwalter in großen Bauunternehmungen und Baustoffhandlungen, in denen ihm erforderlichenfalls eine Hilfskraft zugeteilt werden könne, sowie als Bauhofaufseher, Platzverwalter oder Platzmeister ist von der Revision zu Recht gerügt worden, weil sie in dieser pauschalen Form nach der ständigen Rechtsprechung des BSG eine Verletzung des § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO beinhaltet.
Der erkennende Senat hat wiederholt ausgeführt (zuletzt im Urteil vom 28. November 1978 - 5 RKn 10/77 - mit weiteren Nachweisen), daß ein Facharbeiter - wie der Kläger - nur auf Tätigkeiten verwiesen werden kann, die entweder in die Gruppe der Facharbeitertätigkeiten (Ausbildungsberufe mit einer Lehrzeit von mindestens zwei bis drei Jahren) oder in die Gruppe der Anlernberufe (sonstige Ausbildungsberufe) gehören. Darüber hinaus ist die Verweisbarkeit eines Facharbeiters nur dann auch auf ungelernte Tätigkeiten zulässig, wenn diese infolge besonderer Qualifikationsmerkmale tariflich wie angelernte Tätigkeiten eingestuft sind.
Der Senat hat in dem genannten Urteil vom 28. November 1978 betont, daß bei der Prüfung der zumutbaren Verweisung eines Facharbeiters auf derartig herausgehobene ungelernte Tätigkeiten keine allgemeinen und pauschalen Ausführungen ausreichen, die leicht zu ständig wiederholbaren Leerformeln werden können. Es genügt insbesondere nicht, bestimmte Tätigkeiten zusammengefaßt als beruflich zumutbar zu benennen. Auch der 4. Senat des BSG fordert - so im Urteil vom 19. April 1978 = SozR 2200 § 1240 Nr 30 und in jüngster Zeit noch in den Entscheidungen vom 31. Oktober und 20. Dezember 1978 - 4 RJ 27/77 und 4 RJ 23/78 - grundsätzlich die konkrete Bezeichnung der Verweisungstätigkeit. Auf die Ausnahmen von diesem Grundsatz, die der 4. Senat aufgezeigt hat, braucht hier nicht eingegangen zu werden, weil es bei der Gruppe der Facharbeiter stets der Bezeichnung einer konkreten Verweisungstätigkeit bedarf (vgl Urteil vom 31. Oktober 1978 aaO). Unter Beachtung dieser Rechtsprechung hat das LSG konkret bezogen auf den Einzelfall substantiiert zu prüfen, welche berufliche Tätigkeiten nach ihren Anforderungen und ihren tariflichen Einstufungen für den Kläger nach seiner gesundheitlichen Einsatzfähigkeit sowie unter Berücksichtigung seiner Kenntnisse und Fähigkeiten in Betracht kommen.
Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts ist somit die Zumutbarkeit der für einen Facharbeiter in Erwägung gezogenen Verweisungstätigkeiten im Sinne des § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO grundsätzlich konkret anhand von tarifvertraglichen Lohngruppen in dem im Urteil des Senats vom 22. September 1977 (BSGE 44, 288, 291 = SozR 2200 § 1246 Nr 23) aufgezeigten Umfang zu prüfen. Der erkennende Senat sieht keine Veranlassung, insoweit seine ständige Rechtsprechung (vgl SozR Nr 103 zu § 1246 RVO und SozR 2200 § 1246 Nrn 4, 11, 17, 21 und 23) aufzugeben, zumal sich dieser nicht nur der 1. Senat des BSG mit Urteil vom 15. März 1978 (SozR 2200 § 1246 Nr 29) ausdrücklich angeschlossen hat, sondern ihr auch der 4. Senat des BSG nach seinem Urteil vom 6. Februar 1976 (Az.: 4 RJ 125/75), auf das sich das LSG stützt, jedenfalls im Prinzip in ständiger Rechtsprechung gefolgt ist (vgl ua die Entscheidungen des 4. Senats vom 19. Januar 1978 in SozR 2200 § 1246 Nr 27, 31. August 1978 - 4 RJ 113/77 -, 31. Oktober 1978 - 4 RJ 27/77 -, 28. November 1978 - 4 RJ 123/77 -, 28. November 1978 - 4 RJ 127/77 - und 20. Dezember 1978 - 4 RJ 23/78 -).
Im übrigen ist der 4. Senat des BSG in dem zuletzt genannten Urteil vom 20. Dezember 1978 der Auffassung des LSG, die Entscheidung des 4. Senats vom 6. Februar 1976 aaO rechtfertige im Anschluß an die Entscheidung des 12. Senats des BSG vom 30. November 1972 (SozR Nr 107 zu § 1246 RVO) eine unterschiedslose, pauschale Verweisung von Facharbeitern auf "Überwachungs- und Kontrollarbeiten", selbst entgegengetreten und hat die subjektive Zumutbarkeit solcher Tätigkeiten für Facharbeiter nur dann bejaht, wenn im einzelnen konkret festgestellt ist, daß sie "tariflich den Tätigkeiten des Leitberufs des angelernten Arbeiters (SozR 2200 § 1246 Nr 29) entsprechen". In diesem Zusammenhang hat der 4. Senat - ebenso wie der erkennende Senat bereits im Urteil vom 31. Mai 1978, - 5 RJ 28/77 - darauf hingewiesen, daß die vom LSG genannten Revisions- und Überwachungsarbeiten unterschiedlicher Art sein können. Die Verweisung eines Facharbeiters darauf kann bereits daran scheitern, daß die insoweit in Betracht gezogenen Tätigkeiten nicht den sonstigen Ausbildungsberufen (angelernte Tätigkeiten) gleichstehen und wie diese tariflich eingestuft sind. Genügen sie diesen Anforderungen, so hängt die zulässige Verweisbarkeit eines Facharbeiters hierauf nach dem Urteil des erkennenden Senats vom 22. September 1977 aaO gleichwohl weiter davon ab, daß sie keine längere betriebliche Einweisungs- und Einarbeitungszeit als drei Monate voraussetzt. Anderenfalls ist die Verweisung grundsätzlich erst möglich, wenn die Einweisung und Einarbeitung abgeschlossen ist. Des weiteren ist zu prüfen, ob der Versicherte einer entsprechenden Einweisung und Einarbeitung geistig und körperlich gewachsen ist (vgl zu alledem auch die eingehenden Ausführungen im Urteil des 4. Senats des BSG vom 31. Oktober 1978 aaO). Auch zu diesen Erfordernissen enthält das angefochtene Urteil keine konkreten Feststellungen bezogen auf eine einzelne berufliche Tätigkeit.
Da das Urteil des LSG zu den übrigen für den Kläger angegebenen Verweisungsmöglichkeiten ebenfalls nur allgemeine Behauptungen und globale Ausführungen enthält, die eine Nachprüfung der Verweisbarkeit des Klägers nicht zulassen, sind auch insoweit zu einer abschließenden Entscheidung noch die aufgezeigten konkreten Tatsachenfeststellungen erforderlich, die das LSG zu treffen haben wird.
Die Kostenentscheidung bleibt dem Endurteil vorbehalten.
Fundstellen