Entscheidungsstichwort (Thema)
Gutachten in Gemeinschaftsarbeit. medizinische Hilfskraft. Übertragung des Gutachtenauftrags. mehrere Sachverständige
Orientierungssatz
Ein Sachverständigengutachten darf als Beweismittel nur verwertet werden, wenn es der vom Gericht beauftragte Sachverständige persönlich erstattet hat (§ 118 Abs 1 S 1 SGG, § 404 Abs 1, §§ 407, 410, 411 Abs 1 ZPO). Es ist nicht Aufgabe des Betroffenen, mehr als Bedenken hinsichtlich der gebotenen Mitwirkung des gerichtlich beauftragten Sachverständigen zu äußern, wenn nach den objektiven Gegebenheiten diese Mitwirkung an keiner Stelle belegt wird. Solche Zweifel auszuräumen ist Sache des Gerichts, das sich auf ein Sachverständigengutachten stützen will. In Fällen, in denen Zweifel an der Urheberschaft bestehen - wenn nämlich neben dem beauftragten Sachverständigen andere Personen mitgewirkt haben - muß verlangt werden, daß der Sachverständige ausdrücklich erklärt, daß er die volle Verantwortung für das Gutachten übernimmt. Diese Zweifel können nicht durch Auslegung, durch Vermutungen, durch Gerichtskunde über den Ablauf im Regelfall ersetzt werden, weil es auf die konkreten Umstände des Einzelfalles ankommt, es liegt nahe, in solchen Fällen den beauftragten Sachverständigen durch eine Rückfrage in die Pflicht zu nehmen (vgl BSG vom 25.5.1988 - 9/9a RV 40/85 = SozR 1500 § 128 Nr 33).
Normenkette
SGG § 128 Abs 2 S 1, § 118 Abs 1 S 1; ZPO § 404 Abs 1, §§ 407, 410, 411 Abs 1
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 15.12.1987; Aktenzeichen L 6 V 153/87) |
SG Detmold (Entscheidung vom 31.07.1987; Aktenzeichen S 18 V 251/85) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger wegen einer urologischen Erkrankung das Merkzeichen "RF" zusteht.
Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers gegen das klageabweisende Urteil des Sozialgerichts (SG) zurückgewiesen und sich hierfür - wie schon das SG - auf das in erster Instanz eingeholte Gutachten des Chefarztes einer Urologischen Klinik, Prof. Dr. E., gestützt, das von diesem sowie von dessen Assistenzarzt Dr. L. unterschrieben worden ist. Der Kläger hat sowohl vor dem SG als auch mit der Berufung gerügt, daß Prof. Dr. E. ihn weder untersucht noch an der Begutachtung mitgewirkt habe. Das LSG hat dazu ausgeführt, der Vortrag des Klägers lasse nicht den begründeten Schluß zu, daß der gerichtlich bestellte Sachverständige den Auftrag nicht ordnungsgemäß erfüllt habe. Das Gutachten beruhe weitgehend auf apparativ erhobenen Befunden, die üblicherweise von medizinischen Hilfskräften erhoben würden. Der Kläger habe nicht ausreichend dargelegt, worauf er seine Bedenken stütze, daß der Sachverständige sich nicht ausreichend an der Begutachtung beteiligt habe.
Der Kläger hat die - vom Senat zugelassene - Revision eingelegt und zur Begründung ausgeführt: Das Gutachten von Prof. Dr. E. habe im Rechtsstreit nicht verwertet werden dürfen, weil es nicht von ihm, als dem vom Gericht bestellten Sachverständigen, sondern von Dr. L. erstattet worden sei. Prof. Dr. E. habe nicht in der nach der Beweisanordnung gebotenen Form beurkundet, daß er aufgrund eigener Überprüfung und Urteilsbildung die volle Verantwortung übernehme. Der Sachverhalt sei auf der Grundlage früherer Gutachten abschließend zu entscheiden oder durch ein verwertbares Sachverständigengutachten weiter aufzuklären.
Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil abzuändern und nach den zweitinstanzlichen Anträgen zu erkennen, hilfsweise, den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision im Hauptantrag zurückzuweisen.
Hinsichtlich des Hilfsantrages ist kein Gegenantrag gestellt worden.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist insoweit erfolgreich, als das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist. Für die Entscheidung über den geltend gemachten Anspruch fehlen ausreichende Tatsachenfeststellungen. Die gegen die Feststellungen des LSG vom Kläger erhobene Revisionsrüge greift durch (§§ 163, 164 Abs 2 Satz 3 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).
Das Berufungsgericht hat seine Überzeugung über den für den Klageanspruch maßgeblichen Gesundheitszustand des Klägers nicht aufgrund eines ordnungsgemäßen Beweisverfahrens gewonnen (§ 153 Abs 1, §§ 155, 103, 106 Abs 3 Nr 5 und Abs 4, § 118 Abs 1, § 128 Abs 2 Satz 1 SGG). Denn das Urteil stützt sich entscheidend auf die schriftliche Ausarbeitung, die in erster Instanz von Prof. Dr. E. und Dr. L. verfaßt worden ist. Dieses Beweismittel durfte nicht als Sachverständigengutachten - nur als solches hat es das LSG gewürdigt - verwertet werden. Die schon vor dem SG und im Berufungsverfahren erneut geäußerten Einwendungen des Klägers gegen das Gutachten sind berechtigt. Der Kläger hat sie rechtzeitig vorgebracht und bis zum Abschluß des Berufungsverfahrens auch nicht auf sie verzichtet (vgl hierzu Beschluß des BSG SozR 1500 § 160a Nr 61).
Als Sachverständigengutachten hätte dieses Beweismittel nur verwertet werden dürfen, wenn es der vom Gericht beauftragte Sachverständige persönlich erstattet hätte (§ 118 Abs 1 Satz 1 SGG, § 404 Abs 1, §§ 407, 410, 411 Abs 1 Zivilprozeßordnung -ZPO-). Ersichtlich war dies dem LSG bewußt; es behandelt Dr. L. lediglich als eine medizinische Hilfskraft, zu deren Hinzuziehung Prof. Dr. E. berechtigt gewesen sei. Ob diese Annahme zutrifft, läßt sich weder den Entscheidungsgründen noch dem Akteninhalt entnehmen.
Das Gutachten selbst legt wegen der beiden Unterschriften nicht offen, daß der Klinikleiter Prof. Dr. E. persönlich die volle fachliche und auch die zivil- und strafrechtliche Verantwortung für das Gutachten übernommen hat, daß er unter der Strafdrohung der §§ 153 ff Strafgesetzbuch steht und vereidigt werden kann (§ 410 Abs 1 Satz 2 ZPO). Denn der gerichtlich bestellte Sachverständige darf weder den Auftrag einem anderen Arzt übertragen noch sich eigenmächtig die Verantwortung für ein Gutachten mit einem Mitarbeiter teilen. Aus der Tatsache, daß sich die Sachverständigen üblicherweise und auch zulässigerweise medizinischer Hilfskräfte bedienen, kann gerade nicht auf Gemeinschaftsarbeit geschlossen werden, für die jeder der beiden Gutachter die volle Verantwortung übernimmt. Denn die medizinischen Hilfskräfte treten im allgemeinen nicht durch Unterschrift in Erscheinung.
Die Beweisanordnung des SG enthielt den Zusatz: Soweit der gerichtliche Sachverständige verhindert sei, zumindest die wesentlichen Untersuchungen und die entscheidende Beurteilung persönlich vorzunehmen, solle er das Gericht benachrichtigen, damit der Gutachtenauftrag auf den vom Sachverständigen evtl zu benennenden Arzt übertragen werden könne. Ob hier die Übertragung des Gutachtenauftrags an Dr. L. intern stattgefunden hat oder ob Prof. Dr. E. mit der Unterschrift tatsächlich aufgrund eigener Überprüfung und Urteilsbildung das Gutachten unterzeichnet und damit die volle Verantwortung übernommen hat (vgl BSG SozR 1500 § 128 Nrn 24 und 33), ist vom Berufungsgericht nicht aufgeklärt worden. Die insoweit durch den Vortrag des Klägers sich aufdrängende Ungewißheit darüber, welche Beurteilung vom Sachverständigen persönlich vorgenommen worden ist und inwieweit er die Verantwortung übernimmt, konnte nicht durch Auslegung beseitigt werden, nachdem der Kläger darauf hingewiesen hatte, daß der Sachverständige selbst zu keiner Zeit irgendwie in Erscheinung getreten ist; auch das Diktatzeichen weist lediglich auf den Assistenzarzt hin. Dem Briefkopf kommt demgegenüber kaum ein Beweiswert zu. Auch die - vom Kläger in das Verfahren eingeführte - hinhaltende Bemerkung des Assistenzarztes ist ein zur Beseitigung der Ungewißheit ungeeignetes Erkenntnismittel: Wenn ein Gutachter sich vor Abfassung des schriftlichen Gutachtens zu Fragen des Untersuchten, der zugleich Beteiligter in einem Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren ist, nicht präzise äußert, sondern mit der Gegenfrage antwortet: "Was soll ich dazu sagen?", ist damit nicht klargestellt, daß eine andere, vom Gericht zum Sachverständigen ernannte Person die volle persönliche Verantwortung für das in Vorbereitung befindliche schriftliche Gutachten übernehmen wird, also den untersuchenden Arzt von der Verantwortung befreien wird.
Es kann nicht Aufgabe der Betroffenen sein, mehr als Bedenken hinsichtlich der gebotenen Mitwirkung des gerichtlich beauftragten Sachverständigen zu äußern, wenn nach den objektiven Gegebenheiten diese Mitwirkung an keiner Stelle belegt wird. Solche Zweifel auszuräumen ist Sache des Gerichts, das sich auf ein Sachverständigengutachten stützen will. In Fällen, in denen Zweifel an der Urheberschaft bestehen - wenn nämlich neben dem beauftragten Sachverständigen andere Personen mitgewirkt haben - muß verlangt werden, daß der Sachverständige ausdrücklich erklärt, daß er die volle Verantwortung für das Gutachten übernimmt. Diese Zweifel können nicht durch Auslegung, durch Vermutungen, durch Gerichtskunde über den Ablauf im Regelfall ersetzt werden, weil es auf die konkreten Umstände des Einzelfalles ankommt, es liegt nahe, in solchen Fällen den beauftragten Sachverständigen durch eine Rückfrage in die Pflicht zu nehmen (BSG SozR 1500 § 128 Nr 33).
Ob das Gutachten im Sinne einer Urkunde hätte verwertet werden können, bedarf hier keiner Erörterung, weil das LSG davon ausdrücklich abgesehen hat. Den Verfahrensfehler zu beheben, stehen dem LSG verschiedene Mittel zu Gebote. Auch eine weitere Sachaufklärung im Hinblick auf neurologisch-psychiatrische Ursachen für die vom Kläger geschilderten Symptome könnte angezeigt erscheinen, wie sich durch eine Rückfrage beim urologischen Sachverständigen wird klären lassen. Selbst wenn ein Kläger insoweit nur laienhafte Vorstellungen äußert, kann zu weiterer medizinischer Sachaufklärung vor abschließender Beweiswürdigung Anlaß bestehen.
Bei seiner erneuten Entscheidung wird das LSG auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.
Fundstellen