Entscheidungsstichwort (Thema)
Ersatzzeit
Orientierungssatz
Automatischer Arrest - Kriegsgefangenschaft - Internierung.
Normenkette
AVG § 28 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 22.03.1973; Aktenzeichen L 10 An 9/73) |
SG Hannover (Entscheidung vom 13.10.1972; Aktenzeichen S 1 An 463/71) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten werden die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 22. März 1973 und des Sozialgerichts Hannover vom 13. Oktober 1972 aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Streitig ist, ob der sog. automatische Arrest als Kriegsgefangenschaft eine Ersatzzeit ist.
Nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) gehörte der 1910 geborene Kläger seit 1. Mai 1930 der NSDAP und seit 1. Februar 1932 der allgemeinen SS an und befand sich seit 15. April 1937 im hauptamtlichen Dienst des SS-Verwaltungsamtes. Am 1. März 1940 wurde er zur Waffen-SS übernommen und geriet Anfang Mai 1945 in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Aus dieser wurde er mit Entlassungsschein D 2 am 27. September 1945 formell entlassen, blieb jedoch aus politischen Gründen im Gebiet der heutigen Bundesrepublik Deutschland (BRD) weiterhin in Haft. Seine Entlassung aus dieser Internierung erfolgte erst am 30. Oktober 1947. Die Beklagte berücksichtigte bei Berechnung der ihm wegen Erwerbsunfähigkeit gewährten Rente als Ersatzzeit lediglich die Zeit bis 27. September 1945. Das Sozialgericht (SG) verurteilte sie, auch die anschließende Internierungszeit als Ersatzzeit anzurechnen. Ihre Berufung hatte keinen Erfolg. Das LSG meint, auch die Zeit des sog. automatischen Arrestes des Klägers sei im Sinne des § 28 Abs. 1 Nr. 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) eine Zeit der Kriegsgefangenschaft; diese sei nach völkerrechtlichen Grundsätzen auch dann nicht beendet, wenn der weitere Gewahrsam nicht mehr auf die Zugehörigkeit zu einem militärischen Verband zurückzuführen sei.
Mit der zugelassenen Revision beantragt die Beklagte,
die vorinstanzlichen Urteile aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Sie rügt eine Verletzung materiellen Rechts. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) bestehe zwischen der Kriegsgefangenschaft des Klägers und seiner anschließenden, aus politischen Gründen erfolgten Internierung keine innere Beziehung. Diese Internierung sei deshalb nicht als Kriegsgefangenschaft ersatzzeitmäßig anrechenbar.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Beide Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet.
Der sog. automatische Arrest, d. h. die Zeit, in der ein Versicherter durch die Besatzungsmacht aus politischen Gründen in Gewahrsam gehalten wurde, ist nicht als Zeit der Kriegsgefangenschaft Ersatzzeit im Sinne von § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG (= § 1251 Abs. 1 Nr. 1 RVO). Dies gilt auch dann, wenn sich der Arrest - wie hier - unmittelbar an eine Kriegsgefangenschaft anschloß, aus der der Versicherte nur "formell" entlassen worden ist. Entscheidend ist insoweit, daß zwischen der Gefangennahme des Klägers als Angehörigen eines militärischen Verbandes und seiner aus politischen Gründen erfolgten weiteren Inhaftierung keine innere Beziehung bestand; diese Inhaftierung stützte sich allein auf die Entnazifizierungsvorschriften, nicht aber - wie die Kriegsgefangenschaft - auf die völkerrechtlichen Vorschriften über die Behandlung von Kriegsgefangenen. Daß die Entlassung des Klägers aus der Kriegsgefangenschaft tatsächlich nicht zu seiner sofortigen Freilassung geführt hat, ändert nichts; ob ein Kriegsgefangener nach seiner Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft von der Besatzungsmacht aus politischen Gründen sofort weiter festgehalten oder erst einige Zeit später wieder festgenommen wurde, ist ein rein äußerlicher Unterschied. In beiden Fällen war der Grund des weiteren Freiheitsentzugs ausschließlich politischer Natur; es bestand kein innerer Zusammenhang mit der gegen die frühere Feindmacht ausgeübten militärischen Tätigkeit, die Anlaß für die Festnahme und Entlassung als Kriegsgefangener war. Auch eine analoge Anwendung der Ersatzzeitvorschriften kommt hier nicht in Betracht, weil insoweit keine Gesetzeslücke besteht. All das hat das BSG bereits mit ausführlicher Begründung entschieden SozR Nr. 47 zu § 1251 RVO und Urteil vom 1.12.1971 - 12 RJ 170/71 -). Entgegen der Auffassung des LSG besteht kein Anlaß, von dieser Rechtsprechung abzuweichen.
Selbst wenn die Zeit des automatischen Arrestes - wie der Kläger meint - völkerrechtlich noch als Kriegsgefangenschaft anzusehen wäre, würde daraus im übrigen nicht folgen, daß diese Zeit auch im Sinne von § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG als Kriegsgefangenschaft zu werten ist. Wie der Senat schon früher entschieden hat (Urteil vom 20.9.1973 - 11 RA 6/73 -, abgedruckt SozR Nr. 70 zu § 1251 RVO), hat der Gesetzgeber in § 28 Abs. 1 Nr. 2 AVG Inlandsinternierungen bewußt von der Anerkennung als Ersatzzeiten aus geschlossen, weil er nicht auch die Fälle des automatischen Arrestes erfassen wollte. Es wäre deshalb nicht gerechtfertigt, Zeiten des automatischen Arrestes dann ausnahmsweise doch als Ersatzzeiten anzurechnen, wenn sie - wie beim Kläger - der Kriegsgefangenschaft unmittelbar gefolgt sind. Eine derartige einschränkende Auslegung des Begriffs der "Kriegsgefangenschaft" in § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG würde auch weder durch Art. 3 noch durch Art. 25 des Grundgesetzes (GG) ausgeschlossen, weil der Gesetzgeber nicht genötigt war, bei der Frage, inwieweit er Zeiten der Kriegsgefangenschaft als Ersatzzeiten anerkennen will, den völkerrechtlichen Begriff der Kriegsgefangenschaft uneingeschränkt zugrundezulegen.
Nach alledem ist der automatische Arrest des Klägers vom 28. September 1945 bis 30. Oktober 1947 entgegen der Auffassung des LSG nicht als Ersatzzeit anrechenbar. Auf die Revision der Beklagten müssen deshalb die vorinstanzlichen Urteile aufgehoben werden; die Klage ist abzuweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen