Leitsatz (amtlich)

Die Voraussetzungen für die Gewährung einer Zusatzrente an sogenannte "Grenzgänger" sind in ArVNG Art 2 § 53 Abs 1 erschöpfend geregelt. Daneben brauchen nicht zusätzlich die für die Regelleistungen des ArVNG Art 1 vorgeschriebenen Voraussetzungen erfüllt zu sein.

 

Normenkette

ArVNG Art. 2 § 53 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1960-02-25, Art. 1 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

LSG Berlin (Entscheidung vom 11.08.1976; Aktenzeichen L 6 J 26/76)

SG Berlin (Entscheidung vom 04.12.1975; Aktenzeichen S 26 J 1085/74)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 11. August 1976 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin deren außergerichtliche Kosten auch für das Revisionsverfahren zu erstatten.

 

Gründe

I

Der Rechtsstreit geht um die Gewährung einer Zusatzrente nach Art 2 § 55 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG).

Die ... 1913 geborene Klägerin wohnt in Ost-Berlin. Von 1957 bis zum 13. August 1961 war sie mit Unterbrechungen als sogen. "Grenzgängerin" in Berlin (West) versicherungspflichtig beschäftigt. Während dieses Zeitraums wurden für sie für 46 Monate Pflichtbeiträge an die Beklagte abgeführt. Nach dem 13. August 1961 betätigte sich die Klägerin nur noch als mithelfende Familienangehörige in der chemischen Reinigung ihres Ehemannes.

Ab 1. Februar 1975 wurde ihr eine ohne Berücksichtigung der in Berlin (West) entrichteten Pflichtbeiträge errechnete Altersrente von damals MDN 200,-- zuerkannt (Bescheid der Verwaltung der Sozialversicherung des FDGB-Kreisvorstandes Berlin-Treptow vom 19. Januar 1973). Die Klägerin beantragte daraufhin bei der Beklagten die Gewährung einer Zusatzrente nach Art 2 § 55 ArVNG. Durch Bescheid vom 19. Oktober 1973 lehnte die Beklagte den Antrag im wesentlichen mit der Begründung ab, nach § 1248 Abs 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) werde Altersruhegeld an weibliche Versicherte nach Vollendung des 60. Lebensjahres nur dann gezahlt, wenn die Versicherte in den letzten 20 Jahren vor Vollendung des 60. Lebensjahres überwiegend versicherungspflichtig beschäftigt gewesen sei; für die Klägerin seien in dem erforderlichen Zeitraum jedoch nicht 121 Pflichtbeiträge entrichtet worden. Der Widerspruch der Klägerin blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 25. Februar 1974).

Das Sozialgericht (SG) Berlin hat unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide die Beklagte verurteilt, die Klägerin neu zu bescheiden (Urteil vom 4. Dezember 1975). Das Landessozialgericht (LSG) Berlin (Urteil vom 11. August 1976) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen; es hat die Revision zugelassen. Zur Begründung hat es ausgeführt:

Für die beantragte Zusatzrente brauchten die beitragsrechtlichen Voraussetzungen des § 1248 RVO nicht erfüllt zu sein. Nach dem Wortlaut des Art 2 § 53 ArVNG reiche es aus, wenn der Versicherte wenigstens 12 nach dem 31. März 1949 in Berlin (West) aufgrund der Versicherungspflicht entrichtete Monatsbeiträge nachweise und eine Rente vom Versicherungsträger seines Wohnsitzes erhalte. Der Gesetzgeber habe mit Rücksicht auf die besondere Lage der vor dem 13. August 1961 in Berlin (West) arbeitenden sogen. "Grenzgänger" bewußt auf weitere Nachweise verzichtet und die Rentengewährung durch den FDGB als hinreichenden Anknüpfungspunkt für eine zusätzliche Unterstützung aufgrund der in Berlin (West) gezahlten Beiträge angesehen. Auch aus den "Richtlinien des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung (BMA) für die Gewährung von Leistungen aus der Rentenversicherung der Arbeiter und der Rentenversicherung der Angestellten an Bewohner des Währungsgebietes der Deutschen Notenbank" vom 2. April 1958 (BAnz Nr 70 vom 12. April 1958; BABl 1958, 189) (im folgenden: Richtlinien) ergebe sich nichts anderes. Durch sie seien lediglich die Art der Leistung (Rente) und deren Berechnung entsprechend der RVO vorgeschrieben, nicht hingegen bestimmt worden, daß entsprechend den Vorschriften der RVO die Wartezeit erfüllt und der Versicherungsfall eingetreten sein müsse.

Mit ihrer Revision bringt die Beklagte vor: In Abschnitt I der Richtlinien komme zum Ausdruck, daß die allgemeinen Vorschriften der Rentenversicherungsgesetze dem Sonderrecht des Art 2 ArVNG vorgehen sollten; demzufolge müßten für die Zusatzleistung aus Art 2 § 53 ArVNG die für die Regelleistungen vorgeschriebenen Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sein. Dafür spreche auch die Entstehungsgeschichte der Richtlinien. Sie zeige, daß grundsätzlich die Wartezeit für einen Rentenanspruch erfüllt sein müsse, diese Erfüllung jedoch durch die Gewährung einer Rente im anderen Teil Deutschlands dargetan sei, weil seinerzeit noch in beiden Teilen Deutschlands insoweit gleiche Anspruchsvoraussetzungen bestanden hätten. Dies sei heute nicht mehr der Fall. Sehe man die Rente nach Art 2 § 53 ArVNG als reine Zusatzleistung an, deren Gewährung ohne Rücksicht darauf, ob nach dem Recht der RVO die Wartezeit erfüllt, ein Versicherungsfall eingetreten sei oder sonstige beitragsmäßige oder persönliche Voraussetzungen erfüllt seien, allein vor den in Abschnitt II der Richtlinien genannten Voraussetzungen abhängig sei, so dürfe die Zusatzleistung nicht als Rente iS der Rentenarten der RVO qualifiziert werden. Vielmehr müsse sie dann neutral als Zusatzrente zur Invalidenrente oder Altersinvalidenrente aus der Sozialversicherung der DDR festgestellt und grundsätzlich nach den Vorschriften für die Berechnung der Rente wegen Berufsunfähigkeit berechnet werden, sofern nicht der Berechtigte erwerbsunfähig sei oder das 65. Lebensjahr vollendet und die Wartezeit von 180 Monaten erfüllt habe. Dann sei es aber nicht folgerichtig, bei Erfüllung der Voraussetzungen des § 1248 Abs 3 RVO ein entsprechend berechnetes Altersruhegeld als Zusatzleistung zu gewähren, weil dann doch wieder die Elemente Wartezeit, Versicherungsfall und sonstige Voraussetzungen beitragsmäßiger oder persönlicher Art für die Gewährung der Zusatzrente zugrunde gelegt würden und nicht mehr allein die Voraussetzungen des Abschnitts II der Richtlinien.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 4. Dezember 1975 und das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 11. August 1976 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Nach ihrer Auffassung bestätigen die Richtlinien, daß die Gewährung der Zusatzrente nur von den in Art 2 § 53 ArVNG genannten Voraussetzungen abhängig sei.

II

Die durch Zulassung statthafte Revision der Beklagten ist zulässig, aber nicht begründet.

Die Vorinstanzen haben die Beklagte zu Recht verpflichtet, der Klägerin einen neuen Bescheid über die Gewährung einer Zusatzrente zu erteilen.

Rechtsgrundlage hierfür ist Art 2 § 53 Abs 1 ArVNG idF des Art 2 Nr 9 des Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetzes (FANG) vom 25. Februar 1960 (BGBl I S. 93). Hiernach können Versicherten, die ihren Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt im Währungsgebiet der Deutschen Notenbank haben und auf die während ihrer Beschäftigung oder Tätigkeit die Vorschriften über den Lohnausgleich nach der Dritten Verordnung zur Neuordnung des Geldwesens (Währungsergänzungsverordnung) vom 20. März 1949 (Verordnungsblatt für Groß-Berlin Teil I S. 86) iVm den dazu ergangenen und noch ergehenden Durchführungsbestimmungen Anwendung fanden oder finden, widerruflich, wenn nach dem 31. März 1949 während der Zeit, in der sie in dem genannten Gebiet ihren Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt hatten, für mindestens 12 Monate Beiträge der Pflichtversicherung an den Träger der Rentenversicherung der Arbeiter geleistet sind, aus diesen Beiträgen und den hierzu entrichteten Beiträgen der Höherversicherung die Regelleistungen nach Art 1 des ArVNG gewährt werden. Die Leistungen werden zusätzlich zu den Leistungen des Trägers der Sozialversicherung im Währungsgebiet der Deutschen Notenbank gewährt.

Wie sich aus der Verwendung des Wortes "können" ergibt, ist die Gewährung der Zusatzleistung in das Ermessen des Versicherungsträgers gestellt. Diese Ermessensentscheidung kann im gerichtlichen Verfahren nur daraufhin überprüft werden, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten worden sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist (§ 54 Abs 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-). Das Ermessen ist dem Versicherungsträger jedoch nicht voraussetzungslos eingeräumt worden. Vielmehr ist die Gewährung der Zusatzrente nur unter bestimmten persönlichen und sachlichen Voraussetzungen zulässig. Ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, unterliegt im gerichtlichen Verfahren der uneingeschränkten Nachprüfung.

Zu den persönlichen Voraussetzungen gehört, daß der Versicherte seinen Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt im Währungsgebiet der Deutschen Notenbank hat und daß auf ihn während seiner Beschäftigung oder Tätigkeit die Vorschriften über den Lohnausgleich nach der Währungsergänzungsverordnung nebst Durchführungsbestimmungen Anwendung fanden oder finden. Hinsichtlich der ersteren Voraussetzung hat das Berufungsgericht festgestellt, daß die Klägerin sei mindestens 1945 ihren Wohnsitz in Ost-Berlin habe; diese Feststellung ist für das Revisionsgericht bindend (§ 163 SGG). Zu der Frage, ob auf die Klägerin während ihrer Beschäftigung in Berlin (West) die Vorschriften über den Lohnausgleich nach der Währungsergänzungsverordnung vom 20. März 1949 nebst Durchführungsbestimmungen Anwendung gefunden haben, erhält das angefochtene Urteil keine ausdrücklichen Feststellungen. Das Berufungsgericht hat jedoch ausgeführt (S. 8 des Urteils), daß die Klägerin die tatbestandlichen Voraussetzungen des Art 2 § 53 Abs 1 Satz 1 ArVNG erfüllt habe; es hat damit inzidenter die Anwendbarkeit der Vorschriften über den Lohnausgleich nach der Währungsergänzungsverordnung (vgl insbesondere Ziff 9 b) auf das damalige Beschäftigungsverhältnis der Klägerin bejaht. Dies ist von der Revision nicht angegriffen worden.

Zu den sachlichen Voraussetzungen des Anspruchs auf die Gewährung einer Zusatzrente gehört nach dem Wortlaut des Art 2 § 53 Abs 1 ArVNG, daß in der Zeit nach dem 31. März 1949 für mindestens 12 Monate Pflichtbeiträge an den Träger der Rentenversicherung der Arbeiter (in Berlin-West) geleistet worden sind, daß der Versicherte während der Zeit der Beitragsentrichtung seinen Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt im Währungsgebiet der Deutschen Notenbank gehabt hat und daß - wie sich aus dem Wort "zusätzlich" in Art 2 § 53 Abs 1 Satz 2 ArVNG ergibt - ihm von einem Träger der Sozialversicherung in diesem Währungsgebiet eine Leistung gewährt wird. Gegen die Feststellung des Berufungsgerichts, daß auch diese Voraussetzungen erfüllt seien, hat die Revision ebenfalls keine Rügen vorgebracht.

Die Beklagte ist jedoch der Ansicht, daß zusätzlich die für die Regelleistungen (§ 1235 RVO) gesetzlich vorgeschriebenen Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sein müßten und damit die Klägerin die Zusatzrente nur beanspruchen könne, wenn sie eine Versicherungszeit von 180 Kalendermonaten zurückgelegt und in den letzten 20 Jahren überwiegend eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt habe (§ 1248 Abs 7 Satz 2 und Abs 3 RVO, hier maßgebend in der Fassung des Rentenreformgesetzes -RRG- vom 16. Oktober 1972; BGBl I S. 1965). Diese Ansicht ist unzutreffend.

Sie widerspricht schon dem Wortlaut des Art 2 § 53 Abs 1 ArVNG. Zwar können hiernach dem durch die Vorschrift begünstigten Personenkreis "Regelleistungen nach Art 1 dieses Gesetzes" gewährt werden. Diese Bezugnahme betrifft jedoch ersichtlich nur die Rechtsfolgeseite der Vorschrift und bringt zum Ausdruck, daß die zusätzlichen Leistungen ihrer Art und den Modalitäten ihrer Berechnung nach den Regelleistungen entsprechen sollen. Auf der Tatbestandsseite hingegen, also bezüglich der Voraussetzungen für die Gewährung der zusätzlichen Leistung, enthält Art 2 § 53 Abs 1 ArVNG eine eigenständige, in sich geschlossene und erschöpfende Regelung. Insofern fehlt nicht nur jegliche Bezugnahme auf die Vorschriften des Art 1 ArVNG; vielmehr werden darüber hinaus in Art 2 § 53 Abs 1 ArVNG die Voraussetzungen selbst positiv aufgezählt. Daß daneben für die Gewährung der zusätzlichen Leistungen noch weitere und insbesondere diejenigen Voraussetzungen erfüllt sein müssen, welche für die Bewilligung einer Regelleistung erforderlich sind, ist dem Wortlaut der Vorschrift nicht zu entnehmen.

Dasselbe ergibt ein Vergleich mit dem Wortlaut derjenigen Vorschriften, welche die Voraussetzungen für die Gewährung einer Versichertenrente regeln. Hierin sind das Erfordernis des Eintritts eines Versicherungsfalles durchgehend in Form eines auf den Versicherten bezogenen Relativsatzes (vgl zB § 1246 Abs 1 RVO: "Der Versicherte, der berufsunfähig ist") und die Voraussetzung der Wartezeiterfüllung entweder in derselben Form (vgl § 1248 Abs 2, 3 und 5 RVO) oder durch den Satz "wenn die Wartezeit erfüllt ist" geregelt worden (vgl § 1246 Abs 1, § 1247 Abs 1, § 1248 Abs 1 RVO). Dem entspricht die Formulierung des Art 2 § 53 Abs 1 Satz 1 ArVNG. Auch hierin sind die Anspruchsvoraussetzungen einmal in der Form des Relativsatzes (Wohnsitz im Währungsgebiet der Deutschen Notenbank, Anwendbarkeit der Wahrungsergänzungsverordnung) und zum anderen in einem durch das Wort "wenn" eingeleiteten Nebensatz (Entrichtung von mindestens 12 Pflichtbeiträgen nach dem 31. März 1949 bei Wohnsitz im Währungsgebiet der Deutschen Notenbank) festgelegt worden. Dabei sind aber weder in dem Relativsatz ein Versicherungsfall noch in dem Nebensatz das Erfordernis einer Wartezeiterfüllung erwähnt worden. Hieraus muß geschlossen werden, daß der Gesetzgeber die Gewährung der Zusatzleistung bewußt und gewollt nicht von diesen Voraussetzungen hat abhängig machen wollen.

Diese Auslegung entspricht auch dem Sinn und Zweck der Vorschrift. Wie sich bereits aus ihrer systematischen Einordnung in den Abschnitt der "Sondervorschriften" (vgl Überschrift vor Art 2 § 53 ArVNG) innerhalb der Übergangsvorschriften des Art 2 ArVNG ergibt, stellt sie eine Sonderregelung zu Gunsten eines begrenzten Kreises von Versicherten dar, die den besonderen staatsrechtlichen Verhältnissen Berlins in der Nachkriegszeit Rechnung tragen und die Gewährung von Leistungen an sogen. "Grenzgänger" unter erleichterten Voraussetzungen ermöglichen soll. Diesem Ziel würde die nach Auffassung der Beklagten gebotene Auslegung der Vorschrift widersprechen. Sie würde dazu führen, daß die Voraussetzungen für die Gewährung der Zusatzleistung insbesondere insofern erschwert würden, als nicht nur ein Versicherungsfall eingetreten und die Wartezeit erfüllt, sondern als weitere Voraussetzung auch noch die Leistung eines Trägers der Sozialversicherung im Währungsgebiet der Deutschen Notenbank bewilligt worden sein muß. Davon abgesehen würde sich bei dieser Auslegung der Regelungsgehalt des Art 2 § 53 Abs 1 ArVNG darin erschöpfen, die Gewährung von Leistungen an einen begrenzten Kreis von Versicherten mit Wohnsitz oder ständigem Aufenthalt in einem bestimmten Gebiet (Währungsgebiet der Deutschen Notenbank) außerhalb des Geltungsbereiches des Gesetzes zu ermöglichen. Aus der Sicht des Gesetzgebers hat jedoch für eine solche Regelung im Zeitpunkt des Inkrafttretens des ArVNG keine Veranlassung bestanden.

Zwar haben auch schon im damaligen Zeitpunkt einem im Gebiet der heutigen DDR oder in Ost-Berlin wohnenden Versicherten keine Leistungsansprüche aus dem Versicherungsverhältnis mit einem im Bundesgebiet einschließlich Berlin (West) bestehenden Versicherungsträger zugestanden. Dies hat sich jedoch ausschließlich aus der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ergeben (vgl ua BSGE 3, 286, 290 ff; 5, 60, 63; 11, 271, 272 f; 17, 144, 143); eine entsprechende gesetzliche Regelung hat bis zum Inkrafttreten des FANG (vgl nunmehr § 1317 RVO idF des FANG) weder die RVO noch das Fremdrenten- und Auslandsrentengesetz (FAG) vom 7. August 1953 (BGBl I S. 848) enthalten (vgl BSGE 3, 286, 290). Hat aber der Gesetzgeber des ArVNG eine solche Regelung nicht getroffen, so besteht kein Grund zu der Annahme, daß er mit Art 2 § 53 ArVNG eine davon abweichende Übergangs- oder Sondervorschrift hat schaffen wollen. Gesetzessystematisch ist für eine solche Vorschrift nur dann Raum, wenn auch der ihr zugrunde liegende Tatbestand, dem gegenüber eine abweichende Regelung getroffen werden soll, gesetzlich geregelt worden ist. Dies ist bis zum Erlaß des FANG nicht geschehen. Art 2 § 53 ArVNG muß somit einen anderen als den ihm von der Beklagten beigelegten Regelungsgehalt haben. Dieser besteht darin, den begünstigten Versicherten für den Fall der Gewährung einer Leistung eines Trägers der Sozialversicherung im Währungsgebiet der Deutschen Notenbank unter erleichterten Voraussetzungen eine zusätzliche Leistung aufgrund der von ihnen in Berlin (West) entrichteten Pflichtbeiträge zu verschaffen. Auch von daher gesehen kann die Bestimmung nicht dahin ausgelegt werden, daß über ihren Wortlaut hinaus ein Versicherungsfall iS des § 1246 ff RVO eingetreten und die hierfür erforderliche Wartezeit erfüllt sein muß.

Dies wird durch die Entstehungsgeschichte der Vorschrift bestätigt. In dem von der Fraktion der SPD und von der Bundesregierung jeweils eingebrachten Entwurf eines Rentenversicherungsgesetzes (BT-Drucks II/2314 und 2437) war eine entsprechende Bestimmung noch nicht enthalten. Sie ist erst auf Vorschlag des Ausschusses für Sozialpolitik in das Gesetz aufgenommen worden (vgl BT-Drucks II/3080, S. 190) mit der Begründung, die Vorschrift sehe eine Sonderregelung für diejenigen Personen vor, die ihren Wohnsitz im Währungsgebiet der Deutschen Notenbank hätten, jedoch im Lande Berlin beschäftigt seien und auf die deshalb die Vorschriften über den Lohnausgleich Anwendung fänden. Diese Personen, die aus ihrem Beschäftigungsverhältnis in Berlin (West) Beiträge an einen Versicherungsträger in Berlin (West) entrichtet hätten, könnten Leistungen aus diesen Beiträgen erhalten, wenn sie nach dem 31. März 1949 für mindestens 12 Monate Pflichtbeiträge entrichtet hätten. Die Leistungen würden als zusätzliche Leistungen zu den Leistungen des Trägers der Sozialversicherung im Währungsgebiet der Deutschen Notenbank gewährt (vgl Bericht des Abgeordneten Schüttler, zu BT-Drucks II/3080, S. 25 f). Die Vorschrift ist mit einer geringfügigen Änderung (vgl Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 2. Wahlperiode, 186. Sitzung am 18. Januar 1957, S. 10494 A) bei der zweiten Lesung des Gesetzes vom Bundestag ohne Aussprache angenommen worden (aaO, S. 10461 A) und im weiteren Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens nicht mehr Gegenstand von Erörterungen gewesen. Auch die Gesetzesmotive ergeben somit keine Anhaltspunkte dafür, daß für die Bewilligung der Zusatzrente über den Wortlaut des Art 2 § 53 ArVNG hinaus weitere Voraussetzungen erfüllt sein müssen.

Dies läßt sich entgegen der Auffassung der Beklagten auch den Richtlinien des BMA vom 2. April 1958 nicht entnehmen. Dabei kann dahinstehen, ob diese Richtlinien den Charakter von Rechtsnormen haben und damit jedenfalls insoweit, als sie sich im Rahmen der ihnen zugrunde liegenden Ermächtigung (Art 2 § 55 Abs 3 ArVNG) halten, auch für die Gerichte bindend sind (zur Rechtsnormqualität von Richtlinien vgl BSGE 34, 115, 117; BSG SozR 4720 Allg Nrn 1 und 2; Urt vom 22. November 1977 - 7 RAr 88/76 -), oder ob ihnen ähnlich wie Verwaltungsvorschriften (vgl dazu ua BSGE 10, 108, 112; 11, 190, 191; 15, 137, 140 ff; BSG SozR 3100 § 35 Nr 5 S. 18) lediglich verwaltungsinterne Bedeutung ohne normative Wirkung und damit ohne Verbindlichkeit für die Auslegung des zugrunde liegenden Gesetzes durch die Gerichte zukommt und sie allenfalls eine Selbstbindung der Verwaltung bewirken können (vgl Urt des Senats vom 7. Dezember 1977 - 1 RA 7/77). In dem einem wie in dem anderen Falle stützen die Richtlinien vom 2. April 1958 die Meinung der Beklagten nicht. Nach Ziffer I 1 gelten für die Gewährung der Zusatzleistung ua die Vorschriften der RVO, soweit nicht in Art 2 § 53 ArVNG oder in den Richtlinien selbst etwas anderes bestimmt ist. Bezüglich der Voraussetzungen der Zusatzleistung ist eine solche anderweitige Bestimmung getroffen worden. Dies ist zunächst - wie bereits erörtert - in Art 2 § 53 Abs 1 ArVNG und überdies auch in den Richtlinien geschehenen. In deren Ziffer II 1 bis 3 sind nämlich als Voraussetzungen der Leistung an Versicherte ebenfalls nur der Wohnsitz im Währungsgebiet der Deutschen Notenbank, die Entrichtung von Beiträgen der Pflichtversicherung an einen Versicherungsträger im Lande Berlin für mindestens 12 Monate nach dem 31. März 1949 und der Bezug einer Rente von einem Träger der Sozialversicherung im Währungsgebiet der Deutschen Notenbank aufgeführt worden. Hingegen erfordern auch die Richtlinien nicht, daß ein Versicherungsfall iS der §§ 1246 ff RVO eingetreten und die jeweils maßgebende Wartezeit erfüllt sein muß. Dies wird bestätigt durch Ziffer IV 1. Danach sind die Versicherungsfälle der Erwerbsunfähigkeit und der Vollendung des 65. Lebensjahres sowie im letzteren Falle die Erfüllung der großen Wartezeit lediglich für die Höhe der Zusatzrente von Bedeutung, nicht aber für die Frage, ob diese Leistung dem Grunde nach zu gewähren ist. Soweit die Beklagte aus der Entstehungsgeschichte der Richtlinien etwas anderes herzuleiten versucht, steht dem schon entgegen, daß in den Richtlinien selbst entsprechendes nicht zum Ausdruck kommt; überdies würde eine solche Auslegung wiederum die Rechtswirksamkeit der Richtlinien in Frage stellen.

Nach alledem ist die Gewährung der Zusatzrente nicht von dem Eintritt eines Versicherungsfalles iS der §§ 1246 ff RVO und von der Erfüllung einer Wartezeit sowie etwaiger weiterer beitragsrechtlichen Voraussetzungen abhängig (ebenso LSG Berlin Breithaupt 1961, 45, 47; Gesamtkommentar zur RVO, Art 2 § 53 ArVNG, Anm 4; Jantz-Zweng, Das neue Recht der Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten, 1957, Anm zu Art 2 § 53 ArVNG, S. 340). Die Beklagte hat zu Unrecht die Voraussetzungen für eine Ermessensentscheidung darüber, ob der Klägerin eine Zusatzrente gewährt werden kann, als nicht erfüllt angesehen. Ihre Verpflichtung zur Erteilung eines neuen Bescheides muß daher Bestand haben und ihre Revision zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 61

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