Leitsatz (amtlich)
1. Wird als berufsfördernde Maßnahme ein Zuschuß zum Erwerb eines Kfz beantragt und das Kfz noch während des Verwaltungsverfahrens erworben, so kann die Rehabilitationsnotwendigkeit spätestens nach den im Zeitpunkt des Kfz-Erwerbs bestehenden Verhältnissen beurteilt werden.
2. Daß die von der BfA zu AVG § 13 Abs 1 (= RVO § 1236 Abs 1) erlassenen "Richtlinien für die Hilfe zur Beschaffung von Kfz für behinderte Versicherte" vom 1974-05-16 (DAngVers 1974, 362) in Nr 8.2 einen Zuschuß nur für das erste Ersatz-Kfz vorsehen, ist als Grundsatz nicht zu beanstanden; für ein Abweichen im Einzelfall dürfte allerdings - entgegen der engeren Formulierung in Nr 10 der Richtlinien - das Vorliegen eines begründeten Ausnahmefalles genügen.
3. Die Gerichte haben nicht Begriffe auszulegen, welche die Verwaltung im Rahmen einer aufgrund eigener Richtlinien entwickelten Verwaltungsübung anwendet.
Normenkette
AVG § 13 Abs. 1 Fassung: 1974-08-07, § 14a Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1974-08-07; RVO § 1236 Abs. 1 Fassung: 1974-08-07, § 1237a Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1974-08-07
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 18.04.1978; Aktenzeichen L 16 An 34/77) |
SG Bayreuth (Entscheidung vom 11.01.1977; Aktenzeichen S 10 An 115/75) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 18. April 1978 wird zurückgewiesen.
Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Der 1918 geborene Kläger ist seit 1954 als Buchhalter bei einer Firma in ... beschäftigt. Er ist durch ein 1935 aufgetretenes Hüftleiden stark geh- und stehbehindert; seinen Arbeitsplatz kann er nur mit einem Kraftfahrzeug (Kfz) erreichen. Deshalb hat die Beklagte dem Kläger im Dezember 1964 einen Zuschuß von 1500,- DM für die Anschaffung eines Kfz und im April 1970 einen Zuschuß von 2100,- DM zu einem Ersatz-Kfz gegeben.
Im Dezember 1974 beantragte der Kläger, ihm zum zweiten Mal einen Zuschuß zum Erwerb eines neuen Kfz mit automatischem Getriebe zu gewähren. Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 14. März 1975 ab; sie verwies auf Ziff 8.2 ihrer Richtlinien vom 16. 5. 1974 (AnV 1974, S. 362), wonach Hilfe zur Beschaffung eines Ersatz-Kfz nur einmal gewährt werden könne; eine Ausnahme nach Ziff 10 wegen unbilliger Härte könne nicht erfolgen. Das Widerspruchsverfahren blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 25. Juni 1975), weil die Art und Schwere der Behinderung des Klägers nicht der von Querschnittsgelähmten oder Doppeloberschenkelamputierten gleichzusetzen sei.
Das Sozialgericht (SG) hat ein orthopädisches Gutachten vom 28. Oktober 1976 eingeholt, das die Gesundheitsstörungen des Klägers im einzelnen festgestellt hat. Auch hiernach ist die Beklagte bei ihrem Standpunkt verblieben. Daraufhin hat das SG die Klage abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die - zugelassene - Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 18. April 1978). Es nahm für die Zeit seit November 1976 eine gewisse Gesamtverschlechterung im Befinden des Klägers an; laut einem Bescheid des Versorgungsamtes B betrage die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) für die Behinderung seitdem 100 v.H. Gleichwohl sei der Beklagten kein Ermessensfehlgebrauch, auch nicht für die Zeit ab November 1976 vorzuwerfen; sie habe sich an ihre ordnungsgemäß zustande gekommenen und mit dem Gesetz in Einklang stehenden Richtlinien halten dürfen. Bei der Rehabilitation nach §§ 13 ff Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) sei es vertretbar, die Anschaffung eines Ersatz-Kfz nur einmal zu unterstützen. Die Härteklausel könne der Kläger nicht beanspruchen. Er verrichte die gleiche Arbeit wie 1970 und müsse keine außergewöhnliche Energie zur Erhaltung seines Arbeitsplatzes aufwenden. Es sei nicht ermessenswidrig, wenn die Beklagte zu den Härtefällen nur Schwerstbehinderte rechne; der Kläger sei nicht als solcher Schwerstbehinderter anzusehen. Das LSG hat die Revision zugelassen, weil der Streitfall wegen der Auslegung des Begriffs Schwerstbehinderter grundsätzliche Bedeutung habe.
Im Revisionsverfahren hat sich die Beklagte bereiterklärt, dem Kläger die Kosten für das automatische Getriebe zu erstatten. Der Kläger hat das Anerkenntnis angenommen; er beantragt nur noch
die Urteile der Vorinstanzen und die Bescheide der Beklagten aufzuheben, soweit sie einen Zuschuß zur Anschaffung des Ersatz-Kfz versagt haben und die Beklagte zu verurteilen, insoweit einen neuen Bescheid zu erteilen,
hilfsweise,
den Rechtsstreit insoweit an das LSG zurückzuverweisen.
Zur Begründung der Revision rügt er eine unrichtige Anwendung der Ziff 10 der Richtlinien sowie eine Verletzung der §§ 103, 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Eine "unbillige Härte" gem Ziff 10 bestehe für ihn bereits darin, daß er ohne das Ersatz-Kfz seinen Arbeitsplatz nicht erreichen könne und erwerbsunfähig würde. Davon abgesehen habe die Beklagte, was das LSG nicht erkannt habe, in ihren Bescheiden seine Behinderungen nicht aufgeführt und demnach nur die Behinderungen am linken Bein berücksichtigt. Schließlich habe man ihn zu Unrecht nicht zu den Schwerstbehinderten gerechnet; insoweit hätte das LSG den Sachverhalt weiter aufklären müssen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist nicht begründet.
Streitig ist nur noch das Begehren um einen Zuschuß zur Anschaffung eines Ersatz-Kfz. Rechtsgrundlage hierfür sind die §§ 13 Abs 1, 14a Abs 1 Nr 1 AVG (idF des Rehabilitations-Angleichungsgesetzes - Reha-AnglG -). Danach kann die Beklagte berufsfördernde Leistungen zur Rehabilitation gewähren; sie umfassen Hilfen zur Erhaltung eines Arbeitsplatzes. Hierzu gehören Zuschüsse zum Erwerb eines Kfz, obgleich volle Rehabilitation in diesem Zusammenhang die Gestellung eines Kfz bedeuten würde (SozR 2200 § 1236 Nr 3).
Bei solchen geldlichen Zuschüssen ist freilich im Auge zu behalten, daß auch sie final ausgerichtete Leistungen sind (SozR aaO, vgl ferner SozR Nr 5 zu § 1237 RVO für Zuschüsse zu Zahnersatzkosten). Sie sind wie andere Rehabilitationsleistungen zur Rehabilitation, hier im besonderen zur Erhaltung des Arbeitsplatzes bestimmt; demzufolge dürfen sie nach Erreichen der Rehabilitation, hier: nach der Beschaffung des Kfz grundsätzlich nicht gewährt werden. Im vorliegenden Falle hat der Kläger das bei der Beantragung des Zuschusses im Dezember 1974 für die Rehabilitation in Aussicht genommene Fahrzeug am 4. Juni 1975 gekauft (nach seinem Vorbringen hat er inzwischen das Fahrzeug sogar wieder verkauft). Dennoch darf er das Zuschußbegehren weiterverfolgen. Er hat den Antrag noch vor dem Fahrzeugkauf gestellt. Da Rehabilitation regelmäßig keinen Aufschub zuläßt, darf es ihm nicht zum Nachteil gereichen, wenn er sich inzwischen ohne Zutun der Beklagten selbst geholfen, also selbst rehabilitiert hat. In einem solchen Fall ist ein Versicherter bei begründetem Antrag so zu stellen, als ob er die beantragte Leistung (Geldleistung) rechtzeitig erhalten hätte.
Indes liegt hier kein Fall eines begründeten Antrages vor. Die - zwingenden - Voraussetzungen des § 13 Abs 1 AVG waren beim Kläger zwar gegeben; denn ohne die Neubeschaffung eines Kfz war seine Erwerbsfähigkeit gefährdet; sie konnte mit Hilfe des begehrten Zuschusses erhalten werden. Die Beklagte hat jedoch die Leistung ermessensfehlerfrei abgelehnt (vgl § 54 Abs 2 Satz 2 SGG).
Bei ihrer Entscheidung hat die Beklagte ihre "Richtlinien für die Hilfe zur Beschaffung von Kraftfahrzeugen für behinderte Versicherte" vom 16. Mai 1974 angewandt. Soweit der Inhalt hier in Betracht kommt, widerspricht er nicht dem Gesetz, insoweit stimmt er vielmehr mit dem Zweck der der Beklagten in § 13 Abs 1 AVG erteilten Ermächtigung überein. Die berufliche Rehabilitation nach den §§ 13 ff AVG bezweckt, den Versicherten beruflich möglichst auf Dauer einzugliedern (§ 14a Abs 2 AVG). Hierzu können wiederholte Maßnahmen erforderlich werden (SozR 2200 § 1236 Nr 5; § 1237a Nr 3). Dem tragen die Richtlinien der Beklagten bei den Fahrzeugzuschüssen durchaus Rechnung. Sie sehen in Ziff 8.1 Hilfen bei der Beschaffung eines Ersatz-Kfz vor. Nach Ziff 8.2 kann eine solche Hilfe zwar nur einmal gewährt werden. Diese Regel gilt jedoch, wie noch darzutun, nicht ausnahmslos. Als Grundsatz ist sie nicht zu beanstanden. Bei der Durchführung der Rehabilitation ist nämlich zu beachten, daß der Versicherungsträger mit den ihm anvertrauten Mitteln sparsam und wirtschaftlich zu verfahren hat (SozR Nrn 3 und 9 zu § 1236 RVO; SozR 2200 § 1237a Nr 3). Er kann daher im Interesse der Versichertengemeinschaft zumutbare Selbsthilfen der Versicherten erwarten. Eine solche kommt insbesondere bei der Ersatzbeschaffung von Kfz'en für den Weg zur und von der Arbeit in Betracht, zumal diese ebenfalls für private Fahrten verwendet werden. Auch Nichtbehinderte benutzen seit langem in großer Zahl eigene Kfz für diesen Weg. Sie müssen den Erwerb und die Ersatzbeschaffung aus eigenen Mitteln finanzieren. Im Hinblick hierauf ist es Behinderten zuzumuten, jedenfalls ab der zweiten Ersatzbeschaffung grundsätzlich ohne Zuschüsse des Versicherungsträgers auszukommen.
Der Kläger, der sich im Grunde nicht gegen diese allgemeine Praxis wendet, kann demgegenüber nicht geltend machen, die Beklagte hätte in seinem Falle eine Ausnahme machen müssen. Die Möglichkeit für Ausnahmen hat sich die Beklagte in Ziff 10 ihrer Richtlinien in einer "Härteklausel" eröffnet; danach kann von den sonst geltenden Grundsätzen "in begründeten Ausnahmefällen" abgewichen werden, wenn ihre Einhaltung "eine unbillige Härte" für den Betreuten bedeuten würde. Damit hat die Beklagte die Forderung der Rechtsprechung berücksichtigt, sich bei bestehender Verwaltungspraxis ein Abweichen im Einzelfalle aufgrund besonderer Umstände offenzuhalten (vgl SozR Nrn 1 und 5 zu § 1236 RVO); es fragt sich nur, ob sie mit der in Ziff 10 gefundenen Formulierung dafür nicht zu enge Grenzen gesetzt hat. Für die Möglichkeit der Abweichung dürfte genügen, daß ein begründeter Ausnahmefall vorliegt. Ein solcher kommt insbesondere dann in Betracht, wenn die bei einem Versicherten gegebenen wirtschaftlichen Verhältnisse es ihm im besonderen Maße erschweren, bei der zweiten Ersatzbeschaffung des Kfz nun die Mittel dafür allein aufzubringen. Dieser Gesichtspunkt braucht hier indessen nicht weiter erörtert zu werden, weil sich in den Feststellungen des LSG keine Anhaltspunkte für eine schlechte wirtschaftliche Lage des Klägers finden; die Beklagte hat im Gegenteil ohne Widerspruch des Klägers vorgetragen, er habe seit mehr als zehn Jahren Einkünfte nahezu in Höhe der jeweiligen Beitragsbemessungsgrenze erzielt.
Die übrigen vom Kläger vorgebrachten Gründe für die Anwendung der Härteklausel rechtfertigen es aber nicht, der Beklagten einen Ermessensmißbrauch vorzuwerfen.
Mit seinem ersten Einwand, eine unbillige Härte bestehe für ihn bereits darin, daß er ohne die Beschaffung eines weiteren Ersatz-Kfz seinen Arbeitsplatz nicht mehr erreichen könne, spricht der Kläger nur die allgemeine Voraussetzung für die Rehabilitation überhaupt an; wäre eine dahingehende Einschränkung seiner Beweglichkeit nicht gegeben, dann könnte er berufsfördernde Leistungen nach § 14a Abs 1 Ziff 1 AVG von vornherein nicht beanspruchen.
Nicht durchdringen kann der Kläger auch mit dem Einwand, die Beklagte habe in ihren Bescheiden nicht den gesamten Leidenszustand berücksichtigt. Dabei ist zunächst klarzustellen, daß es hier nur auf den Gesundheitszustand im Zeitpunkt des Fahrzeugkaufes ankommen kann; da der Kläger das Kfz am 4. Juni 1975 gekauft hat, kann für die Beurteilung der Rehabilitationsnotwendigkeit lediglich der damalige Zeitpunkt maßgebend sein (vgl SozR 2200 § 1236 Nr 3). Richtig ist zwar, daß die Beklagte in ihren Bescheiden die beim Kläger bestehenden Gesundheitsstörungen nicht im einzelnen dargestellt hat. Es kann jedoch dahingestellt bleiben, ob sie das in den Gründen ihrer Bescheide hätte tun müssen; auch braucht nicht geprüft zu werden, ob sie damals den im Juni 1975 bestehenden Leidenszustand voll erfaßt hat. Nach Vorliegen des orthopädischen Sachverständigengutachtens mit der vollen Leidensbeschreibung hat sie jedenfalls an der Zuschußablehnung festgehalten. Dieses "nachgeschobene" Vorbringen ist bei der Beurteilung des Verwaltungsermessens mitzuberücksichtigen (SozR Nr 9 zu § 1236 RVO, Aa 9 mit weiteren Nachweisen), es zeigt, daß die Beklagte ihre Meinung aufgrund der medizinischen Begutachtung nicht geändert hat. Selbst wenn im Verwaltungsverfahren das gesamte Ausmaß der Gesundheitseinschränkungen noch nicht erkannt gewesen sein sollte, hat die Beklagte sonach bei Berücksichtigung aller im Juni 1975 bestehenden Leiden gleichwohl nicht anders entschieden. Hiernach kann das LSG insoweit nicht § 128 SGG verletzt haben; es mußte nicht "erkennen", daß die Beklagte den Leidenszustand des Klägers unzureichend gewürdigt habe.
Wenn der Kläger schließlich meint, er rechne zu den Schwerstbehinderten, auf die die Beklagte die Härteklausel anwende, so kann dahingestellt bleiben, ob das Ausmaß der Behinderungen ein triftiger Grund für ein Abweichen von der Verwaltungsübung im Einzelfalle sein kann; denn an sich wird für jeden Fall die Notwendigkeit der Rehabilitation aufgrund der Behinderung voraussetzt. Auf eine Verwaltungsübung der Anwendung der Härteklausel auf Schwerstbehinderte könnte der Kläger sich jedenfalls nur dann berufen, wenn die Beklagte ihn willkürlich aus der Gruppe der Schwerstbehinderten ausnähme. Die Beklagte konnte jedoch aufgrund des festgestellten Sachverhalts der Meinung sein, daß der Kläger Schwerstbehinderten wie Querschnittsgelähmten und Doppeloberschenkelamputierten nicht gleichzustellen sei. Da es sich um keinen gesetzlichen Begriff im Rahmen der §§ 13 ff AVG handelt, ist es nicht Sache der Gerichte, in diesem Zusammenhang einen Rechtsbegriff "Schwerstbehinderter" klarzustellen; die Gerichte haben nicht Begriffe auszulegen, welche die Verwaltung im Rahmen einer aufgrund eigener Richtlinien entwickelten Verwaltungsübung anwendet. Das LSG war daher insoweit auch nicht zu einer weiteren Sachaufklärung gedrängt.
Nach alledem war die Revision zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1653866 |
BSGE, 88 |