Entscheidungsstichwort (Thema)

Begriff des Unfalls

 

Orientierungssatz

1. Soweit für das Vorliegen eines Unfalls iS von RVO § 548 auch gefordert wird, das Ereignis müsse "von außen" auf den Menschen einwirken, soll damit lediglich ausgedrückt werden, daß ein aus innerer Ursache, aus dem Menschen selbst kommendes Ereignis, nicht als Unfall anzusehen ist. Für eine Einwirkung von außen genügt es zudem, daß zB der Boden beim Auffallen des Versicherten gegen seinen Körper stößt. Auch dadurch wirkt ein Teil der Außenwelt auf den Körper des Versicherten ein.

2. Für die Annahme eines Arbeitsunfalls ist die Mitwirkung auf der Zurücklegung des Weges beruhender besonderer Gefahren am Zustandekommen des Unfalls, wie etwa Unebenheiten des Gehweges, Höhenunterschied zwischen Gehweg und Straße, Glättebildung usw, nicht erforderlich. Andererseits kann nicht dahingestellt bleiben, ob dem persönlichen Lebensbereich der Klägerin zuzurechnende und deshalb unfallversicherungsrechtlich nicht erhebliche Umstände für den Unfall ursächlich gewesen sind. Zu diesen Umständen würde ein den Sturz bewirkendes Unwohlsein gehören.

 

Normenkette

RVO § 548 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1963-04-30, § 550 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1974-04-01

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 22.02.1978; Aktenzeichen L 2 Ua 170/77)

SG Ulm (Entscheidung vom 26.11.1976; Aktenzeichen S 7 U 1164/75)

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 22. Februar 1978 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Die Klägerin stürzte am 18. Mai 1974 auf dem Weg zur Arbeit zu Boden und brach sich den rechten Oberarm. Sie wurde deswegen bis zum 31. Mai 1974 stationär behandelt und war bis zum 18. Januar 1975 arbeitsunfähig. Durch Bescheid vom 6. August 1975 lehnte die Beklagte einen Anspruch auf Entschädigung ab, weil ein Arbeitsunfall nicht vorliege. Die Klägerin habe bei der ortspolizeilichen Unfalluntersuchung angegeben, auf ebener Stelle aus ihr unerklärlichen Gründen gefallen zu sein. Aus dem Aufnahmebericht des Krankenhauses, in das die Klägerin unmittelbar nach dem Unfall eingewiesen worden sei, gehe hervor, daß es der Klägerin auf dem Weg zur Arbeit schlecht geworden sei; sie habe in der letzten Zeit vermehrt über Kopfschmerzen mit Übelkeit und Schwindel zu klagen gehabt und sei deshalb mit dem Medikament C. behandelt worden. Diese Angaben, die nur von der Klägerin selbst stammen könnten, ließen den Schluß zu, daß mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein kreislaufbedingter Schwäche- oder Schwindelanfall zu dem Sturz geführt habe, zumal auch in der Unfallanzeige des Arbeitgebers von einem Unwohlsein die Rede sei. Damit handele es sich um einen Sturz aus innerer Ursache. Derartige Unfälle seien jedoch in der Regel keine Arbeitsunfälle, weil es an dem notwendigen ursächlichen Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Körperschaden fehle.

Klage und Berufung sind ohne Erfolg geblieben (Urteile des Sozialgerichts - SG - Ulm vom 26. November 1976 und des Landessozialgerichts - LSG - Baden-Württemberg vom 22. Februar 1978). Zur Begründung hat das LSG im wesentlichen ausgeführt: Ein Unfall sei ein von außen einwirkendes, zeitlich begrenztes (plötzliches) schädigendes Ereignis. Bei einem Arbeitsunfall auf dem Weg von oder nach dem Ort der Tätigkeit müsse ein rechtlich wesentlicher ursächlicher Zusammenhang zwischen der Zurücklegung des gemäß § 550 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) versicherten Weges und dem Unfall bestehen. Seien ein krankhafter Zustand des Versicherten und Gefahren des zurückgelegten Weges zwar in naturwissenschaftlichem Sinne Ursachen eines Unfalls, so seien die letztgenannten Gefahren nur dann eine rechtlich wesentliche Mitursache, wenn sie bei der Gesamtabwägung aller Umstände neben dem Gesundheitszustand des Versicherten eine zumindest annähernd gleichwertige Mitbedingung für das Zustandekommen des Unfalls dargestellt hätten. Im vorliegenden Fall sei nicht feststellbar, daß die Zurücklegung des Weges eine zumindest annähernd gleichwertige Ursache für den Sturz der Klägerin und den Oberarmbruch gewesen sei. Gehweg und Bordstein hätten an der Unfallstelle keine Unebenheiten aufgewiesen. Daß der Sturz darauf zurückzuführen sei, daß die Klägerin den Höhenunterschied zwischen Bordstein und Straße falsch berechnet habe oder daß sie auf die Bahnhofsuhr gesehen habe oder infolge eines Fehltritts am Bordsein gestolpert sei, sei nicht erwiesen. Es seien auch keine sonstigen auf der Zurücklegung des Weges beruhende Gefahren ersichtlich oder nachgewiesen, die den Sturz der Klägerin erklärlich machen könnten. Ob die Klägerin infolge eines Unwohlseins gestürzt sei, könne dahingestellt bleiben, weil eine solche Ursache in keinem Zusammenhang mit der Zurücklegung des Weges stehen würde und auch keinesfalls wahrscheinlich sei, daß sich der Sturz wegen der Beschaffenheit des Weges stärker ausgewirkt habe, als wenn die Klägerin bei einer privaten Besorgung wegen eines Unwohlseins zu Fall gekommen wäre. Daß die Klägerin auf dem asphaltierten Gehweg gefallen sei, stelle daher nur eine rechtlich unbeachtliche Gelegenheitsursache dafür dar, daß es bei dem Sturz zu einem Bruch des rechten Oberarmes gekommen sei.

Durch Beschluß vom 31. Oktober 1978 (2 BU 69/78) hat das Bundessozialgericht (BSG) die Revision zugelassen.

Die Klägerin hat dieses Rechtsmittel eingelegt und im wesentlichen wie folgt begründet: Es habe vom LSG nicht festgestellt werden können, daß sie infolge nicht betriebsbedingter krankhafter Erscheinungen verunglückt sei. Das gehe zu Lasten der Beklagten. Dagegen sei unbestritten, daß sie auf dem Weg zur Arbeit hingefallen sei und sich den rechten Oberarm gebrochen habe. Bei dem Hinfallen habe es sich um einen Arbeitsunfall gehandelt, da ein Sturz aus innerer Ursache nicht festgestellt worden sei. Daß sie für das Hinfallen keine plausible Erklärung abzugeben vermochte und das LSG den Grund für das Hinfallen nicht habe feststellen können, sei für die Entschädigungspflicht unbeachtlich. Die Tatsache, daß sie hingefallen sei und sich dabei den Oberarm gebrochen habe, reiche zur Annahme eines Arbeitsunfalls aus.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 22. Februar 1978, das Urteil des SG Ulm vom 26. November 1976 sowie den Bescheid vom 6. August 1975 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr wegen des Wegeunfalls vom 18. Mai 1974 die gesetzlichen Leistungen, insbesondere Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 20 vH zu erbringen,

hilfsweise,

den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie trägt vor, beim Sturz einer Versicherten auf dem Weg zur Arbeitsstätte hänge der Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung nicht von dem Nachweis ab, daß betriebsbedingte oder zumindest nicht eigenwirtschaftliche Unfallmitursachen vorlägen. Anscheinend habe jedoch das LSG vermutet, die Klägerin sei aus innerer Ursache zu Fall gekommen. Obwohl das LSG hierzu keine eindeutigen Feststellungen getroffen habe, ändere das nichts daran, daß bei dem Unfall der Klägerin ein plötzlich aufgetretenes Unwohlsein im Vordergrund gestanden habe.

 

Entscheidungsgründe

Der Senat konnte im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

Die Revision der Klägerin ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist (§ 170 Abs 2 SGG).

Nach § 550 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) gilt als Arbeitsunfall ein Unfall auf einem mit einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO bezeichneten Tätigkeiten zusammenhängenden Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit.

Der Begriff des Unfalls ist in der RVO nicht bestimmt. Nach der in Rechtsprechung und Schrifttum seit langem und im wesentlichen einhellig vertretenen Auffassung ist Unfall ein körperlich schädigendes zeitlich begrenztes Ereignis (vgl Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 9. Aufl, S 479 mit Nachweisen). Soweit daneben zum Teil auch gefordert wird, das Ereignis müsse "von außen" auf den Menschen einwirken, soll damit lediglich ausgedrückt werden, daß ein aus innerer Ursache, aus dem Menschen selbst kommendes Ereignis, nicht als Unfall anzusehen ist (Brackmann, aaO, S 480 mit Nachweisen; Schönberger, Der Arbeitsunfall im Blickfeld spezieller Tatbestände, Teil 2 S 70). Für eine Einwirkung von außen genügt es zudem, daß zB der Boden beim Auffallen des Versicherten gegen seinen Körper stößt. Auch dadurch wirkt ein Teil der Außenwelt auf den Körper des Versicherten ein (vgl OLG Hamm, VersR 1976, 336; Gitter, Schadensausgleich im Arbeitsunfallrecht, S 90; von Heinz, Entsprechungen und Abwandlungen des privaten Unfall- und Haftpflichtversicherungsrechts in der gesetzlichen Unfallversicherung nach der RVO, S 190, 192). Ausgehend von dieser Begriffsbestimmung unterliegt es keinem Zweifel, daß die Klägerin am 18. Mai 1974 einen Unfall erlitten hat, als sie während des Gehens zu Boden stürzte und sich den rechten Oberarm brach.

Ob es sich dabei um einen Arbeitsunfall gehandelt hat, kann jedoch aufgrund des vom LSG nicht vollständig aufgeklärten Sachverhaltes nicht entschieden werden. Das LSG ist davon ausgegangen, daß sich die Klägerin im Zeitpunkt des Unfalls auf dem Weg von zu Hause nach dem Ort ihrer versicherten Tätigkeit befunden hat. Für die Annahme eines Arbeitsunfalls genügt es jedoch nicht, daß der Versicherte auf diesem Weg einen Unfall erleidet (vgl SozR 2200 § 550 Nr 37), sondern erforderlich ist, daß der Unfall mit der versicherten Tätigkeit in einem inneren ursächlichen Zusammenhang steht. Ein solcher Zusammenhang wäre zu verneinen, wenn der Unfall infolge nicht betriebsbedingter krankhafter Erscheinungen der Klägerin eingetreten wäre und zu der Verletzung oder ihrer Schwere nicht die Beschaffenheit der Unfallstelle wesentlich mitgewirkt hätte (vgl SozR Nr 18 zu § 543 RVO aF; Brackmann aaO S 480 r).

Der Unfall der Klägerin hat sich im ursächlichen Zusammenhang mit dem Sichfortbewegen von der Wohnung nach dem Ort der versicherten Tätigkeit ereignet. Die Mitwirkung auf der Zurücklegung des Weges beruhender besonderer Gefahren am Zustandekommen des Unfalls, wie etwa Unebenheiten des Gehweges, Höhenunterschied zwischen Gehweg und Straße, Glättebildung usw, ist nicht erforderlich (vgl SozR 2200 § 550 Nr 35). Andererseits kann nicht dahingestellt bleiben, ob dem persönlichen Lebensbereich der Klägerin zuzurechnende und deshalb unfallversicherungsrechtlich nicht erhebliche Umstände für den Unfall ursächlich gewesen sind. Zu diesen Umständen würde ein den Sturz bewirkendes Unwohlsein gehören. Das LSG durfte daher nicht dahingestellt lassen, ob die Klägerin infolge eines Unwohlseins gestürzt ist (Schönberger, aaO).

Da das Revisionsgericht die insoweit erforderliche Sachaufklärung nicht selbst vornehmen kann, mußte das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache an das LSG - auch zur Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens - zurückverwiesen werden.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1657198

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