Entscheidungsstichwort (Thema)
Keine mathematischen Formeln. Schwerbehinderteneigenschaft. Neufeststellung der MdE. Bemessung der Gesamt-MdE
Leitsatz (redaktionell)
Bei der Feststellung der durch mehrere Behinderungen bedingten MdE ist die in SchwbG § 3 Abs 3 vorgesehene Gesamtwürdigung ohne Zuhilfenahme mathematischer Formeln vorzunehmen.
Orientierungssatz
Neufeststellung der MdE bei Anpassung und Gewöhnung und Bemessung der Gesamt-MdE bei mehreren Behinderungen (vgl insbesondere Urteil des Senats vom 1979-03-15 9 RVs 6/77).
Normenkette
BVG § 62 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1966-12-28; SchwbG § 3 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1974-04-29, Abs. 3 S. 2 Fassung: 1974-04-29; BVG § 30 Abs. 1 Fassung: 1971-12-16
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 18. Juli 1978 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der Kläger begehrt die weitere Anerkennung als Schwerbehinderter. Als Schwerbeschädigten iS des § 1 iVm § 43 Abs 1a Buchst b Schwerbeschädigtengesetz anerkannte ihn das Bezirksamt Charlottenburg von Berlin mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 vom Hundert (vH) und der Feststellung der Behinderungen: Zustand nach Bruch im Bereich des linken Sprunggelenks, Versteifung, Schwellungsneigung des Beines (Bescheid vom 20. April 1971)- Die Anerkennung wurde nach erneuter Begutachtung mit einer neuen Leidensbezeichnung bestätigt (Bescheid vom 29. August 1973). Wegen einer Besserung stellte das Versorgungsamt Berlin nach § 3 Schwerbehindertengesetz (SchwbG) in Verbindung mit § 62 Bundesversorgungsgesetz (BVG) die Behinderung "Folgen nach Luxationsfraktur am linken Unterschenkel" mit einer MdE von 30 vH fest und lehnte die Ausstellung einer Schwerbehindertenbescheinigung ab (Bescheid vom 9. Februar 1976). Auf den Widerspruch des Klägers faßte das Versorgungsamt nach weiterer Begutachtung die Leidensbezeichnung neu, anerkannte zusätzlich als Behinderung "mäßige Fehlstatik der Wirbelsäule mit beginnenden Verschleißschäden bei gleichzeitigem Übergewicht", beließ es aber bei der festgelegten MdE (Teilabhilfebescheid vom 16. Dezember 1976). Der Widerspruch blieb im übrigen erfolglos (Bescheid vom 17. Februar 1977). Entsprechend einem vom Sozialgericht (SG) eingeholten Gutachten anerkannte der Beklagte durch angenommenes "Teilanerkenntnis", daß die im Abhilfebescheid bezeichneten Behinderungen eine Gesamtminderung der Erwerbsfähigkeit von 40 vH bedingen. Das SG verurteilte den Beklagten, dem Kläger weiterhin eine Gesamt-MdE von 50 vH zuzuerkennen (Urteil vom 7. März 1978). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 18. Juli 1978): Gegenüber den Verhältnissen, die beim Erlaß des Bescheides vom 29. August 1973 nach dem chirurgisch-orthopädischen Gutachten vom 4. April 1973 bestanden, sei eine wesentliche Änderung eingetreten, die die vorgenommene Neufeststellung rechtfertige; inzwischen hätten sich zwar die Befunde nicht gebessert, wohl sei aber eine entsprechende Anpassung und Gewöhnung an die Folgen der Fußverletzung festzustellen; die Gehbehinderung sei nicht mehr so stark wie 1973. Die Fußverletzungsfolgen seien deshalb bloß noch mit 40 vH zu bewerten. Die hinzugetretene Fehlstatik der Wirbelsäule mit Verschleißschäden bedinge nach übereinstimmender ärztlicher Beurteilung eine MdE von 10 vH, ändere aber nichts an der Gesamt-MdE von 40 vH, wenn der Gesamtzustand gewürdigt werde (§ 3 Abs 3 SchwbG). Daran würde sich auch nichts durch eine Anwendung der Subtraktionsmethode ändern, wie sie das SG vorgenommen habe; denn das Rechenergebnis von 46 vH dürfe im Schwerbehindertenrecht nicht auf 50 vH aufgerundet werden. Die Vorschrift des § 31 Abs 2 BVG, die dies für das Recht der Kriegsopferversorgung vorsehe, sei nach § 3 Abs 1 Satz 2 SchwbG nicht entsprechend anzuwenden.
Der Kläger hat die - vom Bundessozialgericht zugelassene - Revision eingelegt. Er rügt eine Verletzung des § 3 Abs 1 SchwbG, des § 30 Abs 1 und des § 31 Abs 2 BVG sowie des § 33b Einkommensteuergesetz (EStG). Gegen die Ablehnung der reinen Additionsmethode sei nichts einzuwenden. Die Bemessung der MdE sei aber bloß eine Schätzung und abstrakte Setzung, die nicht auf einer realen Analyse der individuellen Erwerbseinbuße beruhe und im Schwerbehindertenrecht nicht den wirklichen gesundheitlichen Funktionsausfall beschreibe. Dann müßten auch bei der Festsetzung der Gesamt-MdE solche Wertungsschemata als Objektivierungsmittel angewendet werden, die für die Einzelfälle einen gerechten Mittelwert ergäben und dem Grundsatz einer gleichmäßigen Behandlung der Betroffenen genügten. Dies geschehe in der Praxis schon weithin, wie hier das SG die Subtraktionsmethode zugrunde gelegt habe. Freilich müßte stets eine einzige mathematische Formel angewendet werden. Das Ergebnis einer solchen Berechnungsmethode könnte durch Zu- und Abschläge berichtigt werden, die Besonderheiten des Einzelfalles gerecht würden. Entgegen der Ansicht des LSG sei doch § 31 Abs 2 BVG im Wege der richterlichen Lückenfüllung bei der Festsetzung der Gesamt-MdE zu beachten; denn nach § 33b EStG seien den Körperbehinderten steuerliche Pauschbeträge zuzubilligen, die sich nicht nach den vollen Zehner-Werten der MdE, sondern nach jeweils um 5 vH abweichenden Vomhundert-Zahlen, mithin Zwischenwerten, richteten.
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung des Urteils des LSG die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Der Beklagten beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er tritt der Begründung des LSG-Urteils vollauf bei.
II.
Die Revision des Klägers ist unbegründet. Das LSG hat mit Recht die angefochtenen Entscheidungen des Beklagten bestätigt.
Der Kläger kann nicht mehr als Schwerbehinderter nach § 1 iVm § 3 Abs 1 SchwbG (in der Fassung des 8. Anpassungsgesetzes - KOV vom 14. Juni 1976 - BGBl I 1481 -; für die Zeit vor dem 20. Juni 1976: §§ 1 und 2a Abs 2 SchwbG in der Fassung des Gesetzes zur Weiterentwicklung des Schwerbeschädigtenrechts vom 24. April 1974 - BGBl I 981 -, Berlin-Klausel im Art III § 10) iVm § 30 Abs 1 BVG anerkannt werden und einen Ausweis über diese Eigenschaft nach § 3 Abs 5 SchwbG beanspruchen; denn seine Erwerbsfähigkeit wird durch die verbindlich festgestellten Behinderungen nicht weiterhin um wenigstens 50 vH gemindert. Der Grad der MdE war nach der Vorschrift des § 62 Abs 1 BVG, die gem § 3 Abs 1 Satz 2 und Abs 3 Satz 2 SchwbG analog anzuwenden ist, wegen einer entsprechenden Besserung der Verhältnisse neu festzusetzen (Weber, KOV = Mitteilungen Berlin 1976, 3). Dabei war zum Vergleich von den gesundheitlichen Verhältnissen auszugehen, die der vorausgegangenen, nach § 1 Abs 3 und § 43 Abs 1 Buchstabe a Schwerbeschädigtengesetz (in der Fassung vom 14. August 1961 - BGBl I 1233 -) im Bereich des Schwerbeschädigten - und jetzt des Schwerbehindertenrechts wirksamen Anerkennung durch das Bezirksamt zugrunde lagen. Die tatsächlichen Feststellungen des LSG über die eingetretene Besserung, die auch in einer Anpassung und Gewöhnung bestehen kann, falls die Gehfähigkeit nicht mehr so stark beeinträchtigt ist wie zuvor (zur Gewöhnungsrente: RVGE 6, 41; für die Unfallversicherung: Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Band III, Seite 724 k/ 724 l; Lauterbach, Unfallversicherung, § 531 RVO, Anm 8, d; § 622, Anm 2, c ff) und die Feststellungen über den neuen Grad der MdE greift die Revision nicht an (§ 163 Sozialgerichtsgesetz -SGG-). Der Kläger beanstandet im Ergebnis auch nicht in tatsächlicher Hinsicht die vom Berufungsgericht gem § 3 Abs 3 SchwbG und § 30 Abs 1 BVG getroffene, die Verwaltungsentscheidungen bestätigende Feststellung über das Zusammenwirken der verschiedenen Behinderungen auf die Erwerbsfähigkeit, die nach medizinischen Erkenntnissen die MdE mit insgesamt 40 vH bewerten lassen. Die nachvollziehbare Bemessung der Gesamt-MdE bietet keinen Anlaß zu rechtlichen Bedenken. Die Beurteilung ist auch gerade noch ausreichend begründet.
Das Berufungsurteil und die zugrunde liegenden ärztlichen Beurteilungen lassen insbesondere nicht erkennen, daß bei dieser Einschätzung die Rechtsgrundsätze über die Feststellung einer Gesamt-MdE außer acht gelassen worden wären, die der erkennende Senat in dem zur Veröffentlichung vorgesehenen Urteil vom selben Tag in der Sache 9 RVs 6/77 für maßgeblich erklärt hat. Auf diese Entscheidungsgründe wird verwiesen.
Aus den in diesem Urteil dargelegten Rechtsgründen kann beim Kläger kein MdE-Grad von mehr als 40 vH nach der Subtraktionsmethode oder irgendeiner anderen mathematischen Formel errechnet und entsprechend § 31 Abs 2 BVG auf 50 vH aufgerundet werden.
Allein aus diesen Gründen muß die Revision zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen